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MARVEL-BROKER/017: Wolverine · Spiderman - Powerless Part 1


Matt Cherniss, Peter Johnson, Michael Gaydos


Collection 100% Marvel

Powerless Part 1: Wolverine/Spiderman



Wann ist ein Held ein Held?

In dem vorliegenden Band aus der Collection 100% Marvel ist die vollständige sechsteilige Maxiserie Powerless enthalten, mit den Charakteren Wolverine, Spider-Man, Daredevil und vielen anderen mehr, die diese altbekannten Recken von einer vollkommen neuen, einer verletzlichen Seite zeigt: Die Menschen hinter den Heldenmasken, wie Logan, Peter Parker oder Matt Murdock, aber auch die Schurken, wie Norman Osborn oder Wilson Fisk, müssen ihr Leben gänzlich ohne Superkräfte meistern. Die Serie stammt aus der Feder der beiden talentierten Autorenneulinge Matt Cherniss und Peter Johnson und wird illustriert von Michael Gaydos, dem Zeichner der Agentin Alias, deren TV-Serie hierzulande eine eigenständige Fangemeinde geschaffen hat. Zusätzlich enthalten sind die Originalcover und Biographien der Künstler.

Die Freunde des Heldencomics haben bekanntlich alle ihre Vorlieben, die ihr Herz entweder fürs Marvel- oder DC-Universum oder gar für beide hochschlagen läßt. Der eingefleischte Fan entwickelt eine innige Verbindung zu seinen Lieblingshelden, die sich durch bestimmte Wesensmerkmale, Charakterzüge und Eigenarten in der Gesamtpersönlichkeit von anderen Helden unterscheiden. Jeder Träumer solcher Heldengeschichten hat seine ureigensten Maßstäbe, die ihn für eine bestimmte Figur erwärmen lassen und die die Grundlage bilden, was er unter einem Helden versteht.

Auch dem Autor Matt Cherniss spukte schon lange die Frage im Kopf herum, "was eigentlich einen Helden ausmacht. Sind es seine Kräfte? Oder doch seine Persönlichkeit?" (S. 144). Diese ursprünglichen Fragen reiften zu einer ersten Idee, die er seinem Freund Peter Johnson erzählte - beide arbeiten seit vielen Jahren als Autoren für den TV-Sender Fox zusammen -, und sie überlegten hin und wieder her, und da sie schon seit ihrer Kindheit begeisterte Anhänger des Comics sind, entstand dabei ein erster Entwurf zu Powerless. "Als wir die Idee zu Powerless hatten, war uns eigentlich sofort klar, daß die Geschichte am besten ins Marvel Universum paßt, weil die Helden dort auch Fehler haben. Und diese Fehler machen sie sehr menschlich. Das war zentral für unsere Idee (...) Wir wollten die Marvel Charaktere einfach in unsere Welt übersiedeln und zusehen, wie sich ihre Geschichte ohne ihre Superkräfte entwickelt." (S. 144)

Als nächstes wollten sie ihr "Baby" bei Marvel vorschlagen und so setzten sie bei ihrem Besuch der San Diego Comic-Con Himmel und Hölle in Bewegung, um irgendwie an Joe Quesada aus der amerikanischen Marvel Redaktion ranzukommen und ihm von ihrer Idee zu berichten. Bingo - sie schafften es, doch weil Joe für sie quasi wie ein Gott war, kamen sie sich wie komplette Vollidioten vor. Doch Joe war begeistert und gab grünes Licht. Beide Newcomer, Matt und Peter, arbeiteten seitdem wie besessen an ihrem Projekt und feierten mit Powerless ihren ersten Auftritt als Comicautoren.

Wieder einmal bewies Joe Quesada seinen guten Riecher fürs Außergewöhnliche, denn Powerless, diese im Genre des Superheldencomics einzigartige Geschichte, zeigt dem Leser die von allen beliebten Charaktere aus dem Marvel Universum von einer komplett neuen, einer schwachen Seite. Wir erleben sie - sowohl hinter den Helden- als auch den Schurkenmasken - zum allerersten Mal als gewöhnliche Menschen, ganz ohne Superkräfte, die sie bislang in den Augen der Fans so unvergleichlich machten.

Man stelle sich vor, der Biß der radioaktiv verseuchten Spinne hätte Peter Parker keine Superkräfte verliehen, sondern negative Folgen gehabt. Oder Logan wäre kein Mutant. Definieren sich die Protagonisten des Marvel Universums nur über ihre Superkräfte als Helden bzw. sind es nur die Superkräfte, die sie zu dem machen, wer sie sind? Und stellt sich auch die gleiche Frage im DC Universum? Der neue Starautor bei Marvel, Brian M. Brendis, verneint dies kategorisch, liegt doch beim Konkurrenten DC Comics die Betonung für ihn ganz ohne Zweifel auf den Superkräften. Kürzlich formulierte er es so:

Die Helden aus den DC Comics sind Ikonen. Der Held ist wichtiger als der Mann hinter der Maske. Im Marvel Universum hingegen, ist es gerade der Mann hinter der Maske, der den Helden ausmacht. Bei DC ist Superman wichtiger als Clark Kent, der ohnehin nur eine leere, erfundene Hülle ist, während die Betonung bei Spider-Man eindeutig auf Peter Parker liegt. (S. 2)

Doch was will Brian M. Brendis dem geneigten Leser eigentlich sagen, wenn er bei Clark Kent von einer leeren erfundenen Hülle spricht? Ist für ihn die Figur Superman Realität? Das wäre für einen Comicautor nur konsequent logisch und grundsympathisch, wenn er so tief in die Welt des Comics abtaucht. Aber Spaß beiseite. Vielleicht meint Brian, daß die Figuren bei DC Comics wie erfunden wirken, weil sie nur Namen und Titel sind, zusammengesetzt aus Klischees und Platitüden, während die beliebten Charaktere des Marvel Universum gefüllt sind mit alldem, was das Leben so lebens- und liebenswert macht, den schönen wie den häßlichen Dingen unserer Existenz, wo die Menschen und die Helden voller Widersprüchlichkeit sind und auch sein dürfen. Natürlich sind auch zeitweise bei Marvel die Menschen hinter den Helden ausgetauscht worden - siehe z.B. Iron Man, Ant-Man, Giant-Man -, doch führten die ursprünglichen Menschen ihr Leben im Marvel Universum weiter und blieben den Fans erhalten. Bei DC blieb aber nur der Held bestehen, der Mensch dahinter spielte eine untergeordnete Rolle und verschwand in der Versenkung.

Da bricht Marvel durchaus eine Lanze für den Menschen hinter dem Helden, der noch nicht vollständig von der Maske assimiliert wurde, hinter der er sich dann ohne eigenes Gesicht vor den anderen verstecken kann, anomym und distanziert, bar jeder Menschlichkeit, als funktionierendes Rädchen einer gut geölten Maschinerie, einer fiktiven Comic-Welt, die doch vieles mit der hiesigen Metropolengesellschaft zu tun hat. Doch weiß der Leser noch nicht, wohin bei Marvel die Reise geht, scheinen doch in der Serie "Heldenfall" die Weichen in eine andere Richtung gestellt zu werden, die den Zeitgeist und die Veränderungen in der kälter werdenden amerikanischen Gesellschaft entsprechend widerspiegeln (siehe MARVEL-BROKER/015).

Der Leser erlebt Powerless aus der Perspektive des Psychiaters William Watts - dem Alter Ego der beiden Autoren Matt Cherniss und Peter Johnson -, der in einem Krankenhaus aus einem dreitägigen Koma erwacht, nachdem man ihn bewußtlos auf dem Gehweg direkt vor seinem Haus gefunden hatte. Seltsamerweise gibt es aber keine Hinweise, warum er ins Koma gefallen war, denn die Ärzte konnten nicht das geringste feststellen. Während des Komas war William in einer anderen Welt, der Leser wird sie sofort als die Welt des Marvel Universums identifizieren, die ihm so real vorkam und in der er seiner Meinung nach eine Ewigkeit verbracht hatte. Seine behandelnde Ärztin Dr. Sue Richards (die Unsichtbare von den Fantastischen Vier) - auch Reed Richards (Mr. Fantastic) arbeitet im selben Krankenhaus - teilt ihm mit, daß er sich noch einige Tage etwas verwirrt und orientierungslos fühlen werde. Wieder zuhause nimmt er langsam seine alte Tätigkeit als freischaffender Psychiater auf, und sein Terminkalender zeigt dem Leser einige bekannte Personen aus dem Marvel Universum - Peter Parker (Spider-Man), L. Cage (Powerman), Charles X (Professor Xavier von den X-Men), Bruce Banner (Hulk) - die in der vorliegenden Geschichte irgendwie miteinander verbunden werden und im Laufe der Serie ihren Part einnehmen.

Hier tauchen viele bekannte Gesichter auf, wie z. B. Dr. Strange, der als Hellseher eine kleine Nebenrolle spielt. Und es ist für die Marvel Freunde sicherlich eine große Freude, alle Helden, Schurken und Normalsterbliche - Frank Castle (der Bestrafer), Wilson Fisk (der Kingpin), Norman Osborn (der Grüne Kobold), Gwen Stacy (Peter Parkers erste Freundin), Tony Stark (Iron Man), Dr. Connors (die Echse), Mystique, Dr. Pym (Yellowjacket), um nur einige zu nennen - als gewöhnliche Menschen in dieser Story begrüßen zu dürfen. Natürlich lebt die Serie Powerless zum großen Teil auch davon, daß sich der Erzählbogen aus den verschiedensten früheren Geschichten speist, ein wenig modifiziert und gekonnt zusammengeschnitten, dem regelmäßigen Leser aber durchaus bekannt und vertraut. Dennoch macht Powerless sehr viel Spaß, und auch die Spannung kommt nicht zu kurz, wenn man dem Psychiater Dr. William Watts folgt, wie er versucht, nicht nur wieder Klarheit in sein Leben zu bekommen, sondern darüber hinaus die Chance eines Neuanfangs nutzt, sein Leben zu verändern und ihm einen Sinn zu geben.

Euer Marvel-Broker


Powerless Part 1: Wolverine/Spiderman
Autoren: Matt Cherniss, Peter Johnson; Zeichner: Michael Gaydos
Panini, Stuttgart 2005
144 Seiten, farbig, Heftformat, Preis: 15,50 Euro