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MEDIEN/163: Religiöse Identitätssuche im zeitgenössischen Spielfilm (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 8/2011

Bedrückende Fremdheit?
Religiöse Identitätssuche im zeitgenössischen Spielfilm

Von Stefan Orth


Das Medium Film regt mit seinen inszenierten Lebensgeschichten in besonderer Weise zur Reflexion auf die menschliche Identität an. Im zeitgenössischen Spielfilm spielt dabei das Thema Religion eine bedeutende Rolle, sowohl mit Blick auf die individuelle Suche nach Sinn als auch beim Aufeinanderprallen fremder Kulturen mit unterschiedlicher religiöser Prägung.


Hier und da werden in Klöstern und anderen kirchlichen Bildungshäusern Filmexerzitien angeboten: die Möglichkeit, anhand von Spielfilmen und den dort gezeigten dramatischen Zuspitzungen menschlicher Existenz auch über Fragen der eigenen Identität ins Nachsinnen zu kommen. Was man schnell als methodisches Zugeständnis geistlicher Begleitung in der Unterhaltungsgesellschaft abtun könnte, kommt nicht von ungefähr. Der Film ist das Medium par excellence, das mit seinen inszenierten Lebensgeschichten entsprechend zur Reflexion anregt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass im Film selbst - vor allem, aber nicht nur im so genannten Autorenkino - die Identitätssuche eine bedeutende Rolle spielt, gerade angesichts vielfältiger Erfahrungen von Fremdheit, Brüchen und anderer Infragestellungen der jeweils in bewegte Bilder gebrachten Biographien.


Die in der Postmoderne betriebene Fundamentalkritik am Subjekt mag überwunden sein: Die Herausforderung, sich mit der Fragilität von Lebenskonzepten auseinanderzusetzen, ist nicht geringer geworden. Was ist Zufall, was ist Fügung? Inwiefern können gerade Zufälle Fügung und damit theologisch relevant sein? Dies gilt sowohl mit Blick auf die individuelle Sinnsuche, der spirituellen Bewältigung des eigenen Schicksals, aber auch wegen des Aufeinanderprallens fremder Kulturen unterschiedlicher religiöser Prägungen in einer globalisierten Welt, ist doch der Faktor Religion aufgrund von Migration und weltumspannender Kommunikation in Echtzeit noch virulenter geworden.


Neujustierung des Lebensweges durch Krisen

Gerade diese Erfahrungen spiegeln sich auch im zeitgenössischen Spielfilm, wie auf dem diesjährigen Symposium der "Internationalen Forschungsgruppe Film und Theologie" Ende Juni in der Katholischen Akademie in Schwerte zu sehen war (vgl. auch die Schriftenreihe, die im Verlag Schüren, Marburg, erscheint). Zwei Filme haben auf der Tagung mit dem Titel "Lost in Transition. Wege der kulturellen und religiösen Identitätssuche im globalisierten Kontext" dabei Extrempole markiert und standen deshalb im Mittelpunkt der Diskussionen: Sofia Coppolas "Lost in Translation" und Fatih Akins "Auf der anderen Seite".

"Lost in Translation" (USA und Japan 2003), eine sehr ernste, teilweise auch traurige Komödie handelt von zwei Amerikanern, die aus ihrem "Park Hyatt" zwar die pulsierende, bunte Kulisse Tokios einschließlich aller Möglichkeiten der Unterhaltungsindustrie zum Zeitvertreib vor Augen haben, angesichts der kontinuierlichen Fremdheitserfahrungen im Fernen Osten aber auf ihre eigene, innere Ziellosigkeit gestoßen werden.

Da ist zum einen die junge Philosophieabsolventin Charlotte (Scarlett Johannsen), die mit ihrem Ehemann nach Japan gereist ist, um dort ihre "Anfang-Zwanzig-'Was fange ich mit meinem Leben an'-Krise" zu durchleiden, wie der Bibelwissenschaftler und Filmexperte Reinhold Zwick, Professor an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Münster, in seiner Interpretation des Films bemerkte. Auf der anderen Seite zeigt der Schauspieler Bob (Bill Murray) die typischen Symptome einer Midlife-Crisis. Er ist zu Dreharbeiten für Whiskey-Werbung nach Japan gekommen, bei denen er allerdings die umfangreichen, offenkundig nuancierten Regieanweisungen - wie auch der Zuschauer mangels Untertitelung - nicht versteht und diese nur mit Kurzbefehlen einer Übersetzerin zusammengefasst bekommt. Selten wurde die Verlorenheit angesichts einer fremden Sprache so komisch zum Ausdruck gebracht.

Trotz Ikebana-Kurs und einer CD mit Seelenmassage ("A Soul's Search") und erst recht angesichts vulgäresoterischer Floskeln einer Bekannten: Die Erosion von Sinn und Orientierung ist bei Charlotte so stark, dass ihr nach einem Besuch in einem Tempel die Tränen kommen - gerade weil sie dort nichts zu empfinden vermag. Bob leidet unter der Gleichgültigkeit gegenüber seiner Frau und auch der Tatsache, dass seine Karriere ihren Zenit überschritten hat. Wie auch in Sofia Coppolas jüngstem Film "Somewhere" (USA 2010), in dem ebenfalls ein vom Leben im Hotel gelangweilter Schauspieler im Mittelpunkt steht, ist den beiden die Kompassnadel ihres Lebens abhanden gekommen.

Zwick machte allerdings gerade jene Lesart von "Lost in Translation" stark, die in der Krise auch die Chance sieht. Neben den großen semantischen Verlusten beim Übersetzen zwischen den Kulturen gehe es in dem Film um die Frage nach Übergängen, die zwar zuerst Orientierungsschwierigkeiten angesichts der Auflösung vertrauter Ordnungen bedeuten, dann aber auch neue Möglichkeiten eröffnen.

Mit Bezug auf den Ethnologen Victor Turner, dessen Passagen-Theorie unzulässigerweise nur auf die zentralen Einschnitte im Lebenszyklus (etwa Geburt, Hochzeit, Tod) bezogen werde, sieht Zwick gerade in den vom Plot her zwangsläufigen Begegnungen zwischen den beiden Protagonisten jene Kräfte am Werk, die ihnen - zwischen "spiritueller Verbundenheit und erotischer Anziehung oszillierend" - dann doch auch jeweils einen Weg zu weisen scheinen. Zu den eindringlichsten Stellen des Films gehört dabei, wie Bob die erschöpfte Charlotte nach einem gemeinsamen Ausbruch aus dem selbst gewählten Gefängnis zurück ins Hotel trägt.

Auf diese Weise sei der Film von Coppola "ein Paradigma für die narrative Bearbeitung jener Phasen und Schwellenzustände, in denen in einer Lebenskrise, in einer Zeit der Lebenswende (...) durch diese Krise erst die Energien zur Orientierungssuche und Neubestimmung der eigenen Identität und zur Neujustierung des Lebenswegs freigesetzt werden". Der Zustand des "Ennui", jener "tiefen, melancholischen Langeweile, die aus dem Fehlen eines tragenden Sinngrunds und tragender Sinnperspektiven für das Leben erwächst", erweise sich lediglich als Zwischenzustand.


Religiöse Semantik als Schüssel zur Filminterpretation

Stärker an der Identitätssuche angesichts der Vorgaben kollektiver Selbstbilder interessiert ist der Film "Auf der anderen Seite" (Deutschland und Türkei 2007), bei dem Fakin sich vom Drehbuchautor von Alejandro González Iñárritu (21 Gramm, USA 2003; Babel, Frankreich, USA und Mexiko 2004) hat beraten lassen. Im Grunde erzählt der Film mindestens zwei Geschichten: die der kurdischen Aktivistin Ayten auf der Suche nach ihrer Mutter Yeter im fremden Deutschland, und die des Hamburger Germanistikprofessors Nejat auf der Suche nach Ayten in Istanbul, nachdem sein Vater Yeter im Alkoholrausch erschlagen hat - ohne dass sich die Figuren der beiden Geschichten bei ihren zufälligen Begegnungen erkennen. Zentral sind jeweils die Themen Schuld und Reue, Sühne und Vergebung. Nejats Beziehung zu seinem Vater ist dabei genauso von besonderer Bedeutung wie die von Susanne (Hanna Schygulla) zu ihrer Tochter Lotte, die Ayten bei ihrem Aufenthalt in Deutschland nicht nur spontan geholfen hat, sondern ihr auch nach ihrer Abschiebung in die Türkei gefolgt ist.

Eine markante Rolle spielt in dem Film, dessen englischer Titel bezeichnenderweise "Edge of Heaven" heißt, das muslimische Opferfest, wie die Zürcher Religions- und Medienwissenschaftlerin Marie-Therese Mäder, ausgehend von der Analyse der innerfilmischen Verdoppelungen, Analogien und Überschneidungen in Schwerte gezeigt hat. "Frohes Bayram" wünscht Nejat in der Eingangssequenz, auf deren Zeitebene der Film mit ihrer exakten Wiederholung erst gegen Ende wiederkommt.

Kurz zuvor die Schlüsselstelle des Films, bei der Susanne nach Lottes - eher zufälligem - Tod in Istanbul Nejat trifft und beide Erzählstränge aufeinandertreffen. Grundsätzlich tun sich im letzten Drittel neue Perspektiven auf: Ayten wird durch den Tod von Lotte faktisch eine neue Lebensperspektive eröffnet, Susanne versöhnt sich mit ihrer verstorbenen Tochter, nachdem diese ihr als weißer Engel im Traum erschienen ist, und auch Nejat revidiert die Ablehnung seines Vaters. Während Männer durch die Gassen in die Moschee strömen, erläutert er die muslimische Auslegung des Opfers Abrahams. Auf Rückfragen von Susanne ("Bei uns gibt es diese Geschichte auch"), erkennt Nejat, dass er die Liebe seines Vaters bisher unterschätzt hat, und bricht auf, ihn zu suchen. Der Vater hatte ihm als Kind gegenüber gelobt, anders als Abraham sich eher Gott zum Feind zu machen und seinen Sohn zu beschützen als ihn zu opfern. In den Raum gestellt wird damit auch die Frage, ob eine solche Auflehnung ihm gegenüber letztlich nicht ganz in seinem Sinne sein müsste.


Schon im Eröffnungsvortrag zur Grundlegung des Themas hatte der Theologe Joachim Valentin, Direktor des "Haus am Dom" in Frankfurt, die religiösen Vorgaben für die Bildung von Identität stark gemacht. Auch wenn kein Mensch nur Monade sei, sondern sich Anderen verdanke, habe sich der Prozess der Subjektwerdung durch den massiven Grad der Individualisierung und der daraus resultierenden Pluralität von Identitäten heute allerdings verschärft. Das gelte gerade im Kontext religiöser Identität, die nicht statisch, sondern höchst störanfällig und dauernd auf stützende Maßnahmen angewiesen sei. Wer etwa in die Diaspora gerate, müsse, um nicht schon innerhalb kurzer Zeit seiner Religiosität verlustig zu gehen, sich gezielt um deren Stärkung bemühen. Dies sei unter anderem der Nährboden für die Ethnisierung des Religiösen wie auch die vielfältigen religiösen Neofundamentalismen in allen Weltreligionen, die ebenfalls in einer Reihe von aktuellen Spielfilmen reflektiert werden.


Nur gestreift hat man in Schwerte jene gar nicht einmal so seltenen Filme, die die Grenzen zur Psychopathologie ab- oder sogar überschreiten, etwa die ästhetisch konsequent umgesetzte Behandlung des Themas Schizophrenie durch das Erzählen im Fragment und dem Spiel mit jenem, was nicht gezeigt wird in "Clean, Shaven" von Lodge Kerrigan (USA 1994). Die provozierende Widersprüchlichkeit von Diskontinuitäten in der normalerweise auch bei Kinofilmen unterstellten Zeit-Raum-Einheitlichkeit wird hier freilich nur auf die Spitze getrieben. Ein religiös aufgeladenes Beispiel der Auseinandersetzung mit fremden Mächten im eigenen Inneren aus jüngerer Zeit wäre die Verfilmung des Exorzismus der Anneliese Michel in den siebziger Jahren in "Requiem" (Deutschland 2006) von Hans-Christian Schmid (vgl. ferner auch: Stephan Zöller, Das Thema "Selbstentfremdung" im Spielfilm, in: Thomas Bohrmann, Werner Veith und Zöller [Hg.]: Handbuch Theologie und populärer Film, Band 1, Paderborn 2007, 313-326).


Als gleichermaßen ästhetisch betörend wie in der Sache verstörend wurde hingegen der Film "Stellet Licht" (Großbritannien, Frankreich und Niederlande 2007) des mexikanischen Regisseurs Carlos Reygadas gewertet. Er handelt von einer mennonitischen Gemeinschaft in der mexikanischen Provinz Chihuahua, gedreht in ihrem "plautdietschen" Dialekt, und wird dominiert vom inneren Konflikt der Hauptfigur. Johan ist zwischen seiner Ehefrau Esther samt ihren sechs gemeinsamen Kindern und seiner Geliebten Marianne hin- und hergerissen. Der Film mit prächtigen Landschaftsbildern und einer überwältigenden Lichtdramaturgie, so der Leiter des Katholischen Mediendienstes der Schweiz in Zürich, Charles Martig, zeige mit großer Eindringlichkeit die innerpsychischen Auseinandersetzungen in einer Art Tagtraum, wie die vielfach subjektivierte Erzählweise belegt.

"Nimm Dir einen Moment Zeit", sagt Esther zu dem verzweifelten Johan. Nachdem das Pendel der Uhr angehalten wurde und das Ticken auf der im gesamten Film dominanten Tonspur verstummt, können die Handlungsmöglichkeiten durchgespielt werden. Es komme auf diese Weise zu einer völlig eigenen Zeitkomposition, die zu einem religiösen Ereignis werde und sowohl an die Filme von Andrej Tarkowskij, aber auch den "sakralen Stil" im Sinne von Henri Agel und Amédée Ayfre erinnere (Le cinéma et le sacré, Paris 1961).

Ansonsten wäre wohl auch kaum zu verstehen, wie locker die Protagonisten angesichts der strikten Moralvorstellungen jener christlichen Splittergruppe über ihre Beziehungsprobleme reden. Vor allem aber wird es einfacher, die Bilder im Stil des magischen Realismus gegen Ende des Films zu interpretieren: Esther bricht die Untreue Johans im wahrsten Sinne des Wortes das Herz, sie wird in einem vom gleißenden Weiß durchfluteten Raum aufgebahrt und alle aus der dörflichen Gemeinschaft kommen, um sich von ihr zu verabschieden. Als Johan Marianne zum geöffneten Sarg führt, küsst sie die Tote - und diese erwacht in einer abermals ungewöhnlich langen Einstellung zum Leben.


Die bedrängenden Themen Leid, Krankheit und Tod

Dass die Suche nach der Kohärenz der eigenen Lebensgeschichte immer auch vermittelt über bereits vorliegende Narrationen geschieht, konnte Martig indirekt zeigen: Schon in Carl Theodor Dreyers Film "Ordet (Das Wort)" (Dänemark 1954) gibt es eine ganz ähnlich gestaltete Totenerweckung, wobei der Geheimnischarakter der Wiederbelebung bei Reygadas, der sich auch in anderen Filmen mit dezidiert religiöser Thematik befasst hat, deutlich besser gewahrt bleibe. Grundsätzlich spiele der Regisseur mit christlichen Bilderwelten und übernehme die religiösen Bezüge als stilistische Elemente in die Bildsprache und Klangwelt seiner Filme, worauf die Geheimnisse und Unergründlichkeiten der menschlichen Existenz selbst zum Thema werden. Gerade mit Blick auf "Stellet Licht" lobte der Filmkritiker Bert Rebhandl seinerzeit das "Vermögen der Bilder, eine unsichtbare Wahrheit zum Ausdruck zu bringen" und die Glaubensproblematik im Kino "auf die Ebene medialer Sichtbarkeit" zu verschieben.


Wie hier gab es zuletzt auch bei vielen anderen Drehbuchschreibern, Regisseuren und Producern ein bemerkenswertes Interesse an der unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben. Insgesamt habe sich das Interesse am Thema Religion im zeitgenössischen Spielfilm verstärkt, betonte Daria Pezzoli-Olgiati, Leiterin des Zentrums für Religion, Wirtschaft und Politik der Universität Zürich.

Sie stellte neben "Lourdes" von Jessica Hausner (Deutschland und Österreich 2009) den Film "La Neuvaine" (Kanada 2005) vor, den ersten Teil einer Trilogie des kanadischen Regisseurs und Drehbuchautors Bernard Émond zum paulinischen Dreiklang Glaube, Liebe, Hoffnung (2007 erschien: "Contre toute espérance"; 2009: "La Donation"). Beides sind Filme, in denen die für jedes Identitätskonzept erst einmal sperrigen Themen Leid, Krankheit und Tod bedrängend werden und die Antwortversuche auf der Grundlage katholischer Glaubensüberzeugungen geradezu provozieren - allerdings nicht ohne zuvor die Theodizeefrage verschärft zu haben.

In "La Neuvaine" wird das Engagement einer agnostischen Ärztin, die sich mit dem Gleichmut eines Albert Camus gegen Sinnlosigkeit und Gewalt in der Welt zu stemmen versucht, daran aber zu scheitern droht, durch das katholische Weltbild eines Heranwachsenden kontrastiert. Er begleitet das Sterben seiner Großmutter mit einer Gebets-Novene. Während viele religiöse Filme an ihren Bekehrungsbemühungen oder an einer befremdlichen Frömmigkeit scheitern, gelinge es "La Neuvaine", "Glaubensgewissheit zu respektieren und gleichzeitig die Schwierigkeiten anzuerkennen, in einer säkularen Welt und im Schatten gewaltsamer Tragödien an Gott zu glauben", hieß es damals in der Begründung der Ökumenischen Jury, die den Film 2005 in Locarno ausgezeichnet hat.


Während in "La Neuvaine" Glauben und skeptischer Zweifel auf zwei Protagonisten verteilt werden, geht es in "Lourdes" um die widerstreitenden Deutungen der mutmaßlichen Heilung einer MS-Kranken in jenem südfranzösischen Wallfahrtsort - und das, obwohl diese Pilgerin sich ursprünglich nur aus einem rein touristischen Interesse der Gruppe angeschlossen hatte (vgl. HK, Mai 2010, 253). War es ein göttliches Wunder oder nur eine medizinisch kategorisierbare Spontanheilung, weil erwiesenermaßen kein Glaube im Spiel war?

Die vielfältigen Konflikte der Interpretationen wurden jedenfalls so erfolgreich in Szene gesetzt, dass der Film nicht nur von denen mit Preisen ausgezeichnet wurde, die ihn als herbe Kritik an christlichem Wunderglauben verstanden haben, sondern auch von kirchlichen Stellen verstärkt beworben wurde. Man kann dies nur als Beweis für seine Stärke ansehen. Ein Film, der Atheisten und Gläubigen gleichermaßen gefällt, kommentierte die italienische Presse.


Filme wie diese versuchen, auf der Suche nach Identität die divergierenden Sinnfragmente menschlichen Lebens, aber auch die Fremdkörper auf diesem Weg zu integrieren. Zwick hatte in seinem Vortrag darauf aufmerksam gemacht, dass diese Problematik hybrider Identitäten keinesfalls ein Phänomen der Moderne sei, sondern schon seit der Antike verhandelt werde. Ein herausragendes Beispiel neben der Exoduserzählung sei für das jüdische Volk das Exil als Paradebeispiel für den Zusammenhang von Orientierungsverlust und Identitätsfindung gewesen.

"Lost in Translation" zeige etwa ein Tokio, das an jenes in "Babel" von Iñárritu erinnere: "In seiner lichterstrotzenden Pracht, in seinen orgiastisch-exzessiven Freizeitvergnügen und Überdrehtheiten hat Coppolas Tokio tatsächlich etwas von dem, wofür im Alten Testament Städte wie Babel oder Ninive als Chiffre stehen, (...) kurz für all das, was Israel von seinem Innersten her fremd ist (oder fremd sein sollte)." In der Fremde, ausgerechnet im Exil hätte aber das von sich selbst entfremdete Israel zu sich zurückgefunden und seine religiöse Identität von Grund auf erneuert.

Von Spielfilmen in die Fremde geführt zu werden, könnte in diesem Sinne auch für eine gläubige Existenz relevanter sein, als dies auf den ersten Blick scheint.


Stefan Orth, Dr. theol., geboren 1968 in Duisburg. Studium der Katholischen Theologie in Freiburg, Paris und Münster. 1998 Promotion. Seit 1998 Redakteur der Herder Korrespondenz.
orth@herder.de


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
65. Jahrgang, Heft 8, August 2011, S. 417-421
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. September 2011