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MEDIEN/164: Wie die Digitalisierung unser Denken und Handeln verändert (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2011

Der empfindsame Finger
Wie die Digitalisierung unser Denken und Handeln verändert

Von Lothar Müller


Offiziell stand die Bezeichnung IFA in Berlin noch immer für "Internationale Funkausstellung", aber aus dem Schatten des Funkturms ist diese Messe längst hinausgerückt. Immer weiter hat sich der Parcours der Unterhaltungselektronik über Radio und Fernsehen hinaus ausgedehnt. Viele ausgestellte Produkte ließen sich nicht nur untereinander vernetzen, sie stellten auch selbst die Verbindung zum Netz her. Augen und Ohren bekamen viel zu sehen und zu hören, und manche Kommentatoren warnten schon wieder vor der Gefahr der Reizüberflutung.


Wenn wir an die Datenströme und Bilderfluten denken, die durch eine Vielzahl von Geräten und uns selbst hindurch zirkulieren, dann machen wir uns gelegentlich Sorgen, ob unser Zentralorgan, das Gehirn, mit seinen Kapazitäten der Datenverarbeitung den Geräten überhaupt noch gewachsen ist. Und wenn wir von Digitalisierung sprechen, meinen wir meist die Bits und Bytes der binären Codes und denken an die Rechengeschwindigkeit. Die Digitalisierung, so haben wir gelernt, heißt so, weil Digitus, der lateinische Finger, das älteste Recheninstrument der Welt ist.

Man muss aber nur einmal ein iPhone oder ein iPad in der Hand gehabt haben, um zu ahnen, dass diese Lesart der Digitalisierung wohl nur die halbe Wahrheit enthält. Denn die Fingerfertigkeit, die uns diese Geräte abverlangen, ist von ganz anderer Art als das Hochschnellen oder Zusammenklappen der Finger, die das Addieren oder Subtrahieren veranschaulichend unterstützen. Es ist eine Fingerfertigkeit der Minimalberührung, eine eigentümliche Wischbewegung des Zeigefingers oder ein seltsames Auseinanderschieben der Zeichen auf dem Display mit Zeigefinger und Daumen. Der Begründer der Firma Finger Works, die im Jahre 2005 samt ihren Patenten von Apple aufgekauft wurde, hatte eine Dissertation über das älteste Kommunikationsmedium der Welt geschrieben, über die Geste, und er hatte durch das Studium der Hand und ihrer Physiologie erforscht, wie sich dieses uralte vortechnische Medium für die Kommunikation zwischen den modernen Menschen und ihren allerneuesten Geräten nutzen ließe.

Die Finger Works-Technologie ging in die Touchscreens ein und irgendwann gab es die triumphale Apple-Werbeanzeige, in der Michelangelos Beinahe-Berührung der Zeigefinger Gottes und Adams sich über die iPhone-Welt spannte. Die Botschaft hieß: Jeder User ist ein Souverän, dessen Fingerkuppe auf dem Display ganze Welten erschafft. Die berührungsempfindliche Oberfläche, über die wir mit dem Finger gleiten, wischen oder uns voranschieben, ist mittlerweile allgegenwärtig. Wenn wir beispielsweise in Museen vor einer digitalisierten Handschrift aus dem Mittelalter stehen, blättern wir sie mit einer Wischbewegung um. Und wenn wir auf dem Bahnhof am Automaten eine Fahrkarte erwerben, tippen wir das Fahrtziel über eine Tastatur ein, die ihre mechanische Vorgeschichte weit hinter sich gelassen hat und in die zweidimensionale Fläche zurückgetreten ist.


Greifhand und Handgriff

Nein, die Digitalisierung ist nicht nur eine große Schule der Datenverarbeitung, sie ist auch eine Schule der Finger. Die Bilder und Töne, die sie in unbegrenzter Fülle zugänglich macht, sind an die Distanzsinnesorgane Auge und Ohr adressiert. Aber an den Schnittstellen, die den Zugang zu dieser Fülle eröffnen, rückt zunehmend der klassische Nahsinn in eine Schlüsselposition: der Tastsinn. Und wie bei der Alphabetisierung die Schrift nicht nur eine intellektuelle Herausforderung darstellt, sondern auch eine feinmotorische Herausforderung für die Schreibhand, so sieht man in letzter Zeit nicht selten Novizen, die soeben ein Smartphone erworben haben, versonnen-konzentriert wie ABC-Schützen, manchmal unwillig den Kopf schüttelnd, kleine, noch unsichere Wischbewegungen ausführen, aus denen anfangs mancherlei Unvorhergesehenes hervorgeht.

Als Sigfried Giedion 1948 sein Buch Die Herrschaft der Mechanisierung veröffentlichte, gab er ihm den Untertitel "Ein Beitrag zur anonymen Geschichte". Das war programmatisch gemeint: Hier wurden die Revolutionen in der Welt der Gerätschaften, Werkzeuge und einfachen Dinge des Alltags so ernst genommen wie anderswo die Haupt- und Staatsaktionen und die politischen Revolutionen. Giedion beschrieb die Mechanisierung des komplizierten Handwerks der Schlosserei und das automatische Fließband, vor allem löste er den Anspruch seines Untertitels ein, indem er mit nicht geringerer Gründlichkeit und Genauigkeit auch die Mechanisierung, Elektrifizierung und Rationalisierung der Privathaushalte vor Augen stellte. Die heimliche Hauptfigur aber, die durch alle Kapitel hindurchging, war die menschliche Hand als Verbindungsglied zwischen Mensch und Schlüssel, Mensch und Fließband, Mensch und Gerät. "Die menschliche Hand", schrieb Giedion, "ist ein Greifwerkzeug. Sie kann rasch zupacken, festhalten und drücken, ziehen, schieben und formen, sie kann suchen und fühlen." Der Autor des großartigen Buches erzählte uns Geschichte im Zeitalter der Mechanisierung wie einen dramatischen Roman, in dem sich die Hand mal fest um einen Griff legt, mal nur widerstrebend sich dem Gleichmaß einer maschinellen Bewegung anpasst.

Wenn wir heute dieser Geschichte von Greifhand und Handgriff zuhören, dann wird uns im Blick auf unsere Touchscreens bewusst, dass wir uns mitten in einem noch nicht abgeschlossenen Umschulungskursus von den Geräten des mechanischen auf die des elektronischen Zeitalters befinden. An vielen Arbeitsplätzen gibt es noch die Greifhand des mechanischen Zeitalters, aber im Büro wie im Haushalt beginnen die Finger aus der Hand gewissermaßen herauszuwachsen, sie haben sich zu autonomen Schnittstellen zwischen uns und unseren Geräten entwickelt. Mit immer geringfügigeren Bewegungen und immer schwächerer Druckausübung erzielen sie immer weiter reichende Effekte, und unsere Fingerkuppen beginnen mit den berührungsempfindlichen Oberflächen eine ähnliche Einheit zu bilden wie früher die Greifhand mit dem Griff.

Noch immer sind die Finger zu starker Kraftausübung fähig - und die Wettkämpfe im Fingerhakeln sterben sowieso nicht aus. Aber überall dort, wo die Digitalisierung in die Geräte eingezogen ist, weicht das Prinzip von Druck und Stoß dem Repertoire der leichten Berührungen. Vielleicht ist in mancher älteren Hand, die sich schwertut mit dem leichten Wischen und Hin- und Herziehen auf der kleinen Smartphone-Oberfläche, noch die Erinnerung an den Druck lebendig, den sie einmal auf die Tasten eines schweren Tonbandgerätes oder die Typenhebel eines ererbten Schreibmaschinenungetüms ausüben musste.


Der Finger als Cursor

Es ist noch nicht lange her, da war die Fernbedienung das Nonplusultra der Modernität im Alltag, der Zauberstab, der aus der Distanz die Garagentür öffnet, das Automobil ent- oder verriegelt, in wenigen Sekunden eine Vielzahl von Fernsehprogrammen aufruft, ohne dass man die Wohnzimmercouch verlassen muss. Die Fernbedienung hat den Knopfdruck, der schon die Haushaltsgeräte und Maschinen der mechanischen Welt in Bewegung setzte, aus dieser Herkunftswelt entführt.

In der Welt der Digitalisierung verschränkt sich nun auf eigentümliche Weise das Zauberstab-Prinzip der Fernbedienung mit dem nicht weniger an alte magische Praktiken erinnernden Prinzip der Berührung und Handauflegung. Wenn wir über die Touchscreens wischen, werden unsere Fingerkuppen zur Schnittstelle zwischen uns und den Datenströmen in Schrift und Bild. Sie nehmen beide Bewegungen in sich auf, die wir vor dem Monitor des Computers mit der Maus auszuführen gelernt haben. Die Maus bewegte, wenn sie, von der Greifhand geführt, über ihre glatte Fläche glitt, den Cursor auf dem Monitor, bis er die anvisierte Stelle erreicht hatte und der Finger die linke oder die rechte Maustaste drückte. All das kann die Maus immer noch, aber wer einen Laptop in Betrieb nimmt, braucht sie nicht mehr unbedingt. Es sei denn, er hat sich so an sie gewöhnt, dass er sich mit dem Touchpad nicht begnügen mag, auf dem die Fingerkuppen den Cursor durch Gleitbewegungen dirigieren, bis sie an vordefinierter Stelle eine Druckbewegung ausführen. Wenn aber die Finger auf dem Touchpad genug geübt haben, dann können sie sozusagen aus ihrem Laufställchen heraustreten und auf dem Touchscreen selber zum Cursor werden. Sie dürfen es nicht nur, sie sollen es sogar. Denn nur in ihren Innenwelten sind unsere superintelligenten Smartphones kleine Nerds, die andauernd herumrechnen und ständig nach Netzanschluss suchen. Auf ihrer Oberfläche sind sie überaus anschmiegsame Wesen, die dauernd gestreichelt werden wollen. Oder mit einem kleinen spitzen Stabe ein ganz klein wenig gepiekt. Sie brauchen das, damit sie so mobil sein können, wie sie es sind. Eine Maus wäre für sie ein überaus lästiges Anhängsel.

Ehe unser Gehirn die Datenströme aus den Geräten in sich aufnehmen oder mit ihnen Datenströme aussenden kann, muss es daher die neueste Metamorphose der alten Auge-Hand-Verbindung koordinieren: das Gleiten und leichte Antippen der Finger über Tasten eines Smartphones, das Wischen, Streichen, Ziehen und Auseinanderschieben auf der glatten, berührungsempfindlichen Oberfläche. So löst die Digitalisierung wundersamerweise ein, was ihr Begriff verspricht: Je weiter sie voranschreitet, desto wichtiger werden die Finger.


Lothar Müller (*1954) ist Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung mit Sitz in Berlin und Honorarprofessor an der Humboldt Universität zu Berlin. Zuletzt erschien von ihm: Die zweite Stimme.
lothar.mueller@sueddeutsche.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2011, S. 60-62
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Dezember 2011