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MEDIEN/165: Zurück in die Zukunft - Vom Siegeszug der Nerds (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2011

Zurück in die Zukunft
Vom Siegeszug der Nerds

Von Nina Scholz


Wer in den letzten Jahren einen Club irgendwo in der Republik besucht hat, konnte leicht das Gefühl bekommen, er oder sie sei auf einer amerikanischen Comic-Messe der 80er Jahren gelandet. Überall standen Jungs in schmalen, ein wenig zu kurzen Hosen herum. Sie trugen T-Shirts, die Bands, Filme und Superhelden aus jener Zeit zierten und auf den Nasen dicke Brillengläser. Die hippen jungen Männer von heute sehen aus wie Nerds, die Loser von einst. Eine skurrile Erfolgsgeschichte.


Mode entsteht nicht im luftleeren Raum. Keine zweite popkulturelle Figur hat einen solchen Siegeszug gefeiert wie der Nerd, der zwar so alt wie die amerikanische Popkultur selbst ist, bisher allerdings eher als Randfigur in Erscheinung getreten ist. Aktuell scheint kaum ein Film oder eine Serie aus den USA ohne ihn auszukommen, während gleichzeitig die halbe Welt um einen realen Nerd, Steve Jobs, den kürzlich verstorbenen Apple-Konzern-Chef trauert, wie es früher nur beim Tod von Rock-Stars oder beliebten Staatschefs üblich gewesen ist.

Selbst in Teenie-Shows wie der Neuauflage von Beverly Hills 90210 datet die zickige, reiche Millionenerbin Naomi Clark (AnnaLynne McCord) aktuell den blassen, schmalen Nerd Max Miller (Josh Zuckerman) und nicht einen James Dean- oder Football-Spieler-Typen. Die Beziehung der beiden wurde in einer Facebook-Umfrage sogar zur beliebtesten der Serie gewählt. The Big Bang Theory, jene Comedy-Show, die von den beiden Nerds Leonard Hofstadter (Johnny Galecki) und Sheldon Cooper (Jim Parsons) handelt, erreicht weltweit ein Millionenpublikum. Und Nerds sind heute selbst aus dem Action-Genre nicht mehr wegzudenken. An der Die Hard-Reihe, die mit Bruce Willis als John McClane für Testosteron-Männlichkeit und den Unterhemd-Helden schlechthin steht, kann man diese Entwicklung am besten beobachten: Im ersten Film (1988) hilft der Hacker Theo (Clarence Gilyard Jr.) den Terroristen, das Hochhaus, in dem McClane sich befindet, einzunehmen. Er ist ein Abziehbild des blassen Geeks, er ist dünn, leicht überheblich, sozial inkompatibel und trotz aller Relevanz für den Plot nicht mehr als eine Figur am Rande des Geschehens. Ganz im Gegensatz zu Matt (Justin Long) aus Live Free or Die Hard (2007), dem vierten und bisher letzten Film der Reihe. Matt ist der erste gleichwertige Partner, den McClane jemals an seiner Seite hatte. Der klassische Actionheld ist im Jahr 2007 ohne den Hacker aufgeschmissen, wobei Justin Long auch äußerlich die Entwicklung der Figur bestens verdeutlicht. Im Gegensatz zu Clarence Gilyard Jr.s Theo verleiht er seiner Figur eine Sexyness, die für den Erfolg in Hollywood nicht unerheblich ist.

Wie ist diese Entwicklung zu erklären? Die Bezeichnung Nerd tauchte in den 50er Jahren das erste Mal auf. In dem Kinderbuch If I Ran the Zoo von Dr. Seuss erklärt die Hauptfigur Gerald McGrew welche Tiere er gerne sammeln würde: "And then, just to show them, I'll sail to Ka-Troo/ And Bring Back an It-Kutch a Preep and a Proo/A Nerkle a Nerd and a Seersucker, too!" heißt es dort. Hier wird zum ersten Mal eine Verbindung vom Sammler zum Nerd gezogen. Im Laufe der Jahre hat sich daraus das Bild des blassen Nerds, wie wir ihn heute kennen, entwickelt. Der Begriff wird heute oft synonym mit dem Geek verwendet und im Deutschen auch manchmal mit Streber übersetzt. Ganz richtig ist das nicht, auch wenn die Grenzen fließend sein mögen. Im Gegensatz zum Freak, also dem sozial nicht besonders angesehenen, vielleicht auch langhaarigen Außenseiter, und dem Geek, der sich vor allem gut mit Technik auskennt, ist der Nerd der Popkulturenthusiast, der Fanboy, der pedantische Sammler von Devotionalien. Dabei sind es vor allem Comics, Science Fiction und andere bisher eher am Rande der Mainstream-Unterhaltung stattfindende Kulturprodukte, die den Nerd begeistern. Der amerikanische Nerd ist auch nicht zwangsläufig mit dem deutschen Streber zu vergleichen, denn wahrscheinlich ist es ihm wichtiger klingonisch zu lernen als seine Französisch-Hausaufgaben zu erledigen. Der Nerd ist von jeher ein Außenseiter im sozialen Gefüge. Er ist anders als die anderen Kids, er ist nicht populär, er findet sich schlecht in sozialen Situationen zurecht, er ist schüchtern, vor allem in Bezug auf Mädchen, unsportlich und nach gängigen Maßstäben unattraktiv. Er ist entweder jung und im Schulalter, oder verweigert sich, wenn er älter ist, dem Erwachsenwerden.

Solch eine Figur ist auch Joe Lamb (Joel Courtney), der Protagonist in Super 8 (2011) von Regisseur und Produzent J.J. Abrams, der mit diesem Film seine eigene Jugend noch einmal aufleben lässt. Joe dreht, genau wie J.J. in dessen Alter, am liebsten gruselige Super 8-Filme mit seinen gleichaltrigen Freunden. Als Joe jedoch zufällig einen übersinnlichen Unfall mit der Kamera einfängt, beginnt nicht nur in der Filmhandlung die fantastische Erzählung mit den tatsächlichen Erinnerungen zu verschwimmen: J.J. Abrams, der so unterschiedliche Publikumslieblinge wie die Serien Lost und Fringe oder die letzte Star Trek-Franchise-Verfilmung gedreht hat, verwirklicht mit dem nostalgischen Science Fiction-Film Super 8 gleich mehrere seiner Jugendträume. Das Drehbuch hat er gemeinsam mit Steven Spielberg, der den Film mit produziert hat, verfasst, der sich damit endgültig als geistiger Vater der Nerds etabliert. Spielberg ist als Regisseur von Filmen wie E. T. (1982) oder A. I (2001) maßgeblich verantwortlich für die Welt der Fanboys und hat als Chef seiner Produktionsfirma Dreamworks zu ihrer Entwicklung erheblich beigetragen. Gleichzeitig zeigt sich J.J. Abrams als mächtige und einflussreiche Figur im Hollywoodgefüge von heute. Die Nerds von einst sind also längst auch Regisseure und Produzenten von heute. Die Vermischung von Fantasie und Realität mit Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, während ein und dieselbe Figur den Ausführenden, den Filmhelden und sogar den Hauptabnehmer darstellt, ist kaum noch auflösbar.

Die Liste der retrofuturistischen Nerdfilme, die nach einer ähnlichen Formel wie Super 8 funktionieren und in denen die Nerds die Hauptrolle übernehmen, ist mittlerweile unüberschaubar lang. Sie erleben darin jene Abenteuer, die dereinst den "wahren Helden" überlassen waren, in einer Retrokulisse neu und treffen dort auf Außerirdische, glorifizierte Filmemacher oder Superhelden. Ein Ende dieser Filme ist aktuell nicht absehbar. Meist wechseln sich außerdem die Schauspieler Michael Gera, Seth Rogen und Jesse Eisenberg in den Haupt- und Nebenrollen ab.


Einst Nischenpublikum, heute Hauptzielgruppe

Am deutlichsten lässt sich die Veränderung des Nerds an der Rolle der San Diego Gomic Con, jener jährlich im Juli stattfindenden Konferenz für Rollenspiel-, Comic- und Science Fiction-Fans, ablesen. Früher eine Spartenveranstaltung, ist sie in den letzten Jahren zu einer der wichtigsten Messen der amerikanischen Unterhaltungsindustrie avanciert. Hier werden die neusten Blockbuster vorgestellt, Serienstars treten dort auf, um ihre TV-Shows vorzustellen und Regisseure präsentieren Schnipsel ihrer noch nicht fertig gestellten Arbeiten. Auf der "Comic Con" zeigt sich deutlich: Das Nischenpublikum von einst wurde zur von Hollywood anvisierten Zielgruppe und entscheidet über erfolgreiche Filmstarts mit.

Es gibt einige Gründe, die für diese Entwicklung sprechen: Nerds sind bereit, für Kulturprodukte mehr zu zahlen; neben dem Kinobesuch ist der Erwerb von Merchandise-Produkten für sie Ehrensache. Sie sind loyal, einerseits gegenüber bestimmten Figuren und Regisseuren, andererseits gegenüber Filmreihen. Und sie erledigen in Blogs, Foren und sozialen Netzwerken die Berichterstattung, also das Marketing, gleich mit. Das Internet hatte in dieser Hinsicht gleich eine doppelte Funktion: Hier konnten sie etliche Gleichgesinnte treffen, während sie gleichzeitig selbst immer mehr in den Mittelpunkt des Interesses gerutscht sind.


Der Nerd in uns allen

Auch in anderen Bereichen ist die Entwicklung des Internets und die stetig wachsende Wichtigkeit, die es in allen Lebensbereichen einnimmt, für eine gesteigerte Relevanz der Nerds und Geeks verantwortlich.

Letztlich sind heutzutage durch das Internet alle ein bisschen Nerd geworden. Soziale Funktionen und Interessen, wie das Archivieren und Sammeln von Kulturproduktion, ist heute kein Spezialinteresse mehr. Durch das Internet, durch Suchmaschinen, durch Videokanäle wie Youtube und die tatsächlich permanente Verfügbarkeit von Filmen, Musik und digitalen Büchern, wird einerseits der Nerd seines speziellen Status enthoben. Sein Wissen ist nicht mehr exklusiv. Genau wie der Nerd leben wir auf einmal alle ein Stück weit in der Vergangenheit, hangeln uns von Retro-Trend zu Retro-Trend, archivieren Platten und Filme von gestern, entdecken unsere und die Jugend von anderen immer und immer wieder neu.

Aber nicht nur das: Wir sind auch alle ein bisschen Geek geworden. Ein beachtlicher Teil auch der hiesigen Bevölkerung ist bestens über die neusten Technikgadgets informiert, die meisten Menschen nutzen alltäglich und völlig selbstverständlich modernste und interaktive Technologien wie es sie bis vor ein paar Jahren tatsächlich nur in Science Fiction-Filmen gab.

Heute gibt es eine Geek-Partei, Die Piraten, welche im Herbst 2011 bei den Berliner Wahlen zum ersten Mal in ein Landesparlament gewählt wurden und längst als die neuen Grünen gehandelt werden. Ein gehackter Staatstrojaner gehört genau wie die Wikileak-Hacks zu den meistbeachteten und debattierten Nachrichten, während in Hollywood ein Superhelden-Comic nach dem anderen verfilmt wird, die auch hierzulande Millionen in die Kinokassen spielen.

So sind der Nerd und seine Anverwandten sowohl in der Fantasie als auch in der ganz realen Wirklichkeit zu den paradigmatischsten Figuren des letzten Jahrzehnts geworden. Ein Ende seines Siegeszugs ist nicht absehbar und es bleibt spannend, wohin die Reise noch gehen wird.


Nina Scholz (* 1981) arbeitet als freiberufliche Kulturjournalistin für taz, Frankfurter Rundschau, Jungle World, fluter und andere. Hauptsächlich beschäftigt sie sich mit US-amerikanischer Gegenwartskultur und gibt darüber hinaus in Berlin das Hate Magazin heraus.
nina.scholz@hate-mag.com


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2011, S. 72-75
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Januar 2012