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STANDPUNKT/004: Bildungsverächter (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2009

Bildungsverächter

Von Michael Schornstheimer


Überall kann man hören und lesen, Bildung sei die Basis für persönliche Entfaltung, Wohlstand und sozialen Frieden; Bildung sei die Basis für Einkommen, Auskommen und Fortkommen. Gleich einem Mantra verkünden Politiker, Sozialwissenschaftler und Journalisten dieses Glaubensbekenntnis der selbsternannten Wissens- oder besser: Informationsgesellschaft. Aber trifft die Behauptung überhaupt zu?


Die Statistiken scheinen die These zunächst zu bestätigen. Die meisten Langzeitarbeitslosen und Hartz IV-Empfänger sind schlecht oder gar nicht ausgebildet. Manche von ihnen haben nie regelmäßig gearbeitet, andere sind nach langen Jahren verhältnismäßig konstanter Beschäftigung arbeitslos geworden und können ihre schmalen Einkünfte aus staatlichen Zuwendungen nur noch als sogenannte "Ein-Euro-Jobber" durch kleine, schlecht bezahlte Hilfsarbeiten aufbessern. Also Bildung! Bessere Ausbildung, mehr Weiterbildung!

Mag sein, dass diese Empfehlung für das untere Ende der Arbeitslosenskala stimmt. Aber wer beteuert, Bildung sei der Königsweg zu qualifizierter Arbeit, höherem Einkommen und mehr Lebensqualität, blendet aus, dass für weite Teile der Gesellschaft "Bildung" ein zutiefst diffuser und ambivalenter Begriff ist. Ist damit wirklich Allgemeinbildung gemeint? Ein grundlegendes Verständnis für Kunst, Literatur, Philosophie und Naturwissenschaften, das autonome Individuen und aufgeklärte Weltbürger hervorbringen würde, wie Wilhelm von Humboldt hoffte? Oder geht es nicht doch eher um vordergründige Teilqualifikationen und Fachkenntnisse, die auf einem hart umkämpften Arbeitsmarkt einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den Konkurrenten versprechen?

Die Ambivalenz kommt schon darin zum Ausdruck, dass viele den Begriff des Intellektuellen eher als Schimpfwort verwenden, mal sanft ironisch, mal mit krachender Verachtung. Das antiintellektuelle Ressentiment reicht bis in die sogenannten Bildungsschichten, man kann ihm bei Lehrern und Erziehern ebenso begegnen wie bei Ingenieuren, Rechtsanwälten und Ärzten. Schon ein Wohnzimmer, das statt mit Flachbildschirm, Dolby Surround und DVD-Abspielgeräten mit Büchern vollgestellt ist, genügt zuweilen, um dieses Ressentiment auszulösen. Belesenheit provoziert bis in die vielbeschworene "Mitte der Gesellschaft" nicht selten sarkastische Abwehrreaktionen oder übertriebene Gesten der Bewunderung, selbstverständlich scheint sie nicht.

Bildung, verstanden als Reflexions- und Urteilskompetenz, mit einer gewissen Distanz zu sich selbst und zu den faktischen Gegebenheiten, ist auch in der selbsternannten Bildungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts schlecht angesehen. Zur Bildung gehört, eigene Einstellungen und Überzeugungen zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren.


Bluff statt Wissen

Wie es um solche Kompetenzen bestellt ist, kommt nirgendwo deutlicher zum Ausdruck als in der bunten Medienwelt, die wie unter einem Vergrößerungsglas den Ist-Zustand der Gesellschaft nicht nur abbildet, sondern wie ein moderner Transmissionsriemen gleichzeitig mitgestaltet und prägt. In den von Auflagen- und Quotendruck getriebenen Medien kann es nicht simpel genug zugehen. Themen und Geschichten, die statt auf unterhaltsames Info-Fast-Food auf sachliche Information setzen oder das trockene Brot komplexer Zusammenhänge bieten, haben schlechte oder keine Chancen. Alles soll leicht verdaulich sein, angerichtet in appetitlichen Häppchen, selbstverständlich kurz. Für Hintergründe ist kein Platz, keine Zeit. Nur Fakten, Fakten, Fakten. Und selbst diese scheinen oft entbehrlich. Namen sind viel "spannender". So gibt es selbst in den öffentlich-rechtlichen Kulturradios immer häufiger "Berichte", in denen schnell Namen heruntergebetet werden, name dropping unter dem Titel Kultur aktuell. Ein solches Kulturverständnis scheut die sorgfältige Reflexion, das abwägende Urteil wie der Teufel das Weihwasser. Die Prominenz des Namens garantiert bereits die Bedeutung des Ereignisses oder "Events". Wenn Stars bzw. Celebrities, also Personen, die dafür bekannt sind, bekannt zu sein, auftreten, ist die mediale Verbreitung gesichert. Was zählt, ist der "Gesprächswert". In dieser Medienwelt ist Kritik nicht erwünscht. An ihre Stelle tritt Lobhudelei, Jubel, Bestätigung - "Affirmation", um es mit einem älteren Begriff zu sagen. Wo Kritik nicht vermeidbar ist, müssen Floskeln wie "...überzeugt nicht ganz" oder "lässt einige Fragen offen" aushelfen. Umfassende Begründungszusammenhänge? Fehlanzeige!

Das bloße Aufrufen von Namen, das Antippen von signalhaften Stichworten hat System. Es ersetzt den ausformulierten Gedanken und täuscht Bescheidwissen vor. Diese Art von Kommunikation gründet nicht auf Wissen, sondern auf Bluff. Es reicht das diffuse Gefühl, von einer Sache schon einmal gehört zu haben. Diese Haltung schätzt das Wissen gering, verachtet es geradezu, auch wenn auf der Fahne der Slogan von der Wissensgesellschaft prangt. Das rationale Argumentieren ist aus der Mode gekommen, nicht anders als das Gespräch, das in seiner journalistischen Form früher Interview genannt wurde. An seine Stelle ist das Statement getreten. Ein Statement soll kurz sein, in seiner gelungenen Variante ist es pointiert, in seiner missglückten Form bloß irgendein Satz, ein bisschen verheddert, nicht ganz vollständig, voller "äh" und "und so". Wer sich derart blamiert, ist unten durch, mag er auch über die besseren Argumente verfügen. Nur wer sich verkaufen kann, hat in der Welt des Small-Talk Erfolg. Die rhetorische Fähigkeit, aus dem Stegreif pointierte Ein-Satz-Aussagen formulieren zu können, entscheidet über die Beliebtheit von Kandidaten in Show-Business, Kultur und Politik. Nicht Sachverstand, sondern Schlagfertigkeit, unterstützt von gutem Aussehen, modischer Kleidung, unbefangenem Auftreten, verleiht Autorität. Unter solchen Voraussetzungen kann man kaum noch ein Universitätsstudium, eher den Besuch von Schauspielschulen empfehlen.


Unnütz gebildet

Trotz aller Fragwürdigkeit statistischer Erhebungen scheint festzustehen, dass die sogenannten Mittelschichten seit einigen Jahren "schrumpfen", nicht anders als die Städte in den Neuen Bundesländern, shrinking middle-class. Das Deutsche Institut für Wirtschaft (DIW) rechnet für den Zeitraum von sieben Jahren, zwischen 2000 und 2007, mit 7%, also ungefähr fünf Millionen Menschen, die aus den Mittelschichten "in die Randzonen der Gesellschaft abgewandert" sind, wie es in ignorantem Nachrichtendeutsch heißt. "Abgewandert"? An den Gesellschaftsrand, wo Manager noch fürs Scheitern mit Millionenabfindungen belohnt werden? Nein, dorthin aufgestiegen sind sie wohl kaum. Die "Wanderung" erfolgt in anderer Richtung, unfreiwillig, in die Milieus von Zeitarbeitern, Aushilfsjobbern und anderen prekär Beschäftigten, die nach erneuter Kündigung im Hartz IV-Abseits landen. Statt "abgewandert" eher "aussortiert", "deklassiert", "verbannt". Fünf Millionen Schicksale. Singles, alleinerziehende Frauen und Männer, Kinder und Jugendliche. Nicht selten ganze Familien, darunter viele Menschen mit solider Ausbildung, die zuvor jahrelang in respektablen Berufen mehr oder weniger auskömmlich verdient haben: Handwerker, IT-Fachleute, Techniker, Sozialarbeiter, Pädagogen, Personalberater, Journalisten, Drehbuchautoren, Musiker, Schauspieler.

Sind sie an unzureichender Ausbildung gescheitert? An mangelndem Willen zu Fort- und Weiterbildung? Nur in Einzelfällen. Die breite Mehrheit scheitert an veränderten Rahmenbedingungen: Rationalisierungen, Sparmaßnahmen und die viel beschworenen Synergieeffekte haben sie "überflüssig" werden lassen. Jene Reformen, von denen es stets hieß, dass unser Land zu wenig davon hätte oder sich zu spät und zu schwerfällig darauf eingelassen habe. Steuerzahlende Leistungsträger, die eines Tages erfahren mussten, dass ihre Leistungen nicht mehr gebraucht wurden. Das alte, traditionelle Versprechen galt plötzlich nicht mehr: das Versprechen, dass wenn eine Person die Leistungskriterien dieser Gesellschaft verinnerlichte und ihnen gemäß ihr Leben organisierte, dass dann auch ein entsprechendes Angebot seitens der Gesellschaft bereitstünde: Arbeit, Einkommen, Auskommen, Fortkommen.

Diese Aussortierten, von denen es laut DIW schon vor der gegenwärtigen Banken- und Wirtschaftskrise fünf Millionen gegeben hat, gelten als gesellschaftlich verzichtbar, nicht aufgrund mangelnder Qualifikationen, sondern umgekehrt, ihrer Erfahrungen wegen: weil sie älter und damit teurer sind als die Berufsanfänger aus der Generation Praktikum. Sie seien überqualifiziert, heißt es mit Blick auf ihren langen Lebenslauf schnell. Der ökonomischen Rationalität ist die Harmonie zwischen "Herz, Geist und Hand", wie ein altmodischer Bildungsbegriff einst definierte, verdächtig.

Während die Projektmanager aus den Werbeagenturen noch an Kampagnen tüfteln, wie aus "best agers" die letzten Konsumenten-Euros herauszukitzeln sind, lautet die wirkliche Nachricht, dass ein größer werdendes Segment dieser Altersgruppe in der Verbraucherrolle schlicht nicht mehr zur Verfügung steht. Volkswirtschaftlich ist das für beide Seiten ein schlechtes, weil gar kein Geschäft. Das müsste eigentlich sogar die kalten Effizienz-Strategen aus den Etagen von McKinsey bekümmern, denn hier werden Ressourcen ("Humankapital") ungenutzt vergeudet, deren Bildung einst teuer war. Freilich haben sie nur lächerliche Steuergelder gekostet, die in diesen Kreisen zwecks Unternehmenssanierung notfalls zwar angenommen werden, aber nur mit Verachtung. Mangelnde Wertschätzung, Verachtung, trifft auch die fünf Millionen Menschen, deren Erfahrungen und Fertigkeiten nicht mehr zählen. Die moderne Informationsgesellschaft glaubt, auf sie verzichten zu können. Genauso wie sie insgeheim Bildung verachtet.


Michael Schornstheimer (* 1956) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Journalistik I und freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist in Berlin.
mschornst@aol.com


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2009, S. 63-66
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Januar 2010