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SPRACHE/460: Betont anders (Portal Uni Potsdam)


Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung 1-3/2007

Betont anders
An welchen Merkmalen schon die ganz Kleinen ihre Muttersprache erkennen

Von Bettina Micka


Sprache ist für Neugeborene zunächst nur ein Klangteppich ohne Struktur und Bedeutung. Doch schon sehr bald sind sie in der Lage, ihre Muttersprache zu erkennen und von anderen Sprachen zu unterscheiden. Worauf diese Fähigkeit basiert, untersuchen Wissenschaftlerinnen am Institut für Linguistik in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt.


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Schwierige Probanden haben sich die Potsdamer Linguistinnen ausgesucht. Ihre Testpersonen sind erst wenige Monate alt. Aber nur mit ihrer Hilfe lässt sich die Frage klären, welche Mechanismen uns dabei helfen, unsere Muttersprache zu erlernen. "Entscheidende Schritte finden schon in den ersten Monaten nach der Geburt statt", weiß Prof. Dr. Barbara Höhle, Leiterin des Instituts für Linguistik. "Wir haben schon viel Erfahrung in der Forschung mit Kindern zwischen vier und 24 Monaten. Es ist sozusagen eine Potsdamer Spezialität."

In einem aktuellen Projekt geht es speziell um die Frage, wie Kinder Wörter ihrer Muttersprache zu erkennen lernen, obwohl Sprache aus einem Silbenstrom besteht. Das heißt, beim Sprechen reihen wir die Silben kontinuierlich aneinander, ohne dass Pausen den Anfang eines neuen Wortes signalisieren. Wie erkennen die Kleinen also, wo ein Wort anfängt und wo es endet und welche Silben somit zu einem Wort gehören?

Bereits im Alter von sechs Monaten hören Kinder lieber das typische Betonungsmuster ihrer Muttersprache gegenüber einem Betonungsmuster, das in ihrer Sprache gar nicht oder nur selten vorkommt. Bei neun Monate alten Kindern hat sich gezeigt, dass die Betonung beim Segmentieren von Wörtern eine entscheidende Rolle spielt. Demnach erkennen zum Beispiel Kinder, die Englisch oder Niederländisch lernen - Sprachen, in denen die meisten Wörter auf der ersten Silbe betont sind - die Worte ihrer Muttersprache an ihrem Betonungsmuster. Mit diesem Wissen können sie dann den Silbenstrom, den sie hören, in Wörter untergliedern.

Die Betonung auf der ersten Silbe ist auch für die deutsche Sprache typisch. Dies gilt bis auf wenige Ausnahmen wie beispielsweise "Kamel" oder "Tortur", die auf der zweiten Silbe betont werden. Dass auch deutsche Kinder an der Betonung ihre Muttersprache erkennen, konnten die Potsdamer Linguisten bereits nachweisen. Doch wie finden die Kinder die für ihre Sprache typische Betonung überhaupt heraus?

"Wahrscheinlich lernen sie dies durch Wörter, mit denen sie sehr häufig konfrontiert werden, insbesondere ihre Vornamen", erläutert Barbara Höhle. Deutsche Vornamen sind genau wie die übrigen deutschen Wörter meist auf der ersten Silbe betont. In Ausnahmefällen, wie etwa bei "Nicole", gibt es meist eine Koseform - hier "Niki", die wieder auf der ersten Silbe betont wird. Auch andere Wörter, mit denen Babys häufig konfrontiert werden, wie Mama oder Papa, sind auf der ersten Silbe betont.

"Uns interessiert nun, ob in Sprachen mit anderer Betonung diese ebenfalls als Kriterium herangezogen wird", sagt Projektmitarbeiterin Dr. Anja van Kampen. "Dafür eignet sich beispielsweise das Türkische. Hier liegt die Betonung eines Wortes auf der letzten Silbe." Deshalb vergleicht die Forscherin in ihren Tests deutsche Kinder mit türkischen Kindern, die in Deutschland aufwachsen. "Das Besondere bei den türkischstämmigen Kindern in Deutschland ist, dass sie nicht nur ihrer Muttersprache ausgesetzt sind, sondern auch der deutschen Sprache. Das kann natürlich Auswirkungen auf die Testergebnisse haben. Deshalb untersuchen wir zusätzlich Kinder, die in der Türkei aufwachsen", erläutert Anja van Kampen. Untersucht hat sie Kinder im Alter von sechs und neun Monaten. Um Kinder in der Türkei untersuchen zu können, haben die Potsdamer Forscherinnen Kontakt zur Universität Ankara aufgebaut.

Die Tests finden in reizarmer Umgebung statt. Das bedeutet, die Testkabine ist weitgehend leer, und es dringen keine Geräusche von außen herein. Die kleine Versuchsperson sitzt auf dem Schoß eines Elternteils in der Mitte des Raumes. Auf der rechten oder linken Seite der Kabine blinkt zunächst ein rotes Licht, um die Aufmerksamkeit des Kindes dorthin zu lenken. Dann spielt die Versuchsleiterin über Lautsprecher auf der Seite mit dem blinkenden Licht zweisilbige Wörter ein, die alle entweder auf der ersten oder auf der zweiten Silbe betont sind. Schauen die Kinder mehr als zwei Sekunden von der Geräuschquelle weg, spielt sie eine neue Wortfolge ein. Wie lange das Kind zu der Geräuschquelle schaut, wie spannend der sprachliche Stimulus also ist, wird während des Experiments gemessen. Zusätzlich filmt eine Kamera die Kinder bei dem Versuch, so dass Anja van Kampen später auch an Hand der Videoaufnahmen die Untersuchung auswerten kann.

Die vorläufigen Ergebnisse zeigen, dass deutsche Kinder länger in die Richtung schauen, aus der sie Wörter mit Betonung auf der ersten Silbe hören. Die Ergebnisse der Kinder in der Türkei stehen noch aus. Die in Deutschland geborenen türkischen Kinder interessieren sich jedoch für die auf der ersten Silbe und die auf der zweiten Silbe betonten Wörter gleichermaßen. Dies könnte das Resultat der deutschsprachigen Umgebung sein. "Möglich ist aber auch, dass die türkischen Kinder Wörter nicht oder zumindest nicht ausschließlich anhand der Betonung erkennen. Auch die so genannte Vokalharmonie, die für türkische Wörter charakteristisch ist, könnte eine Rolle dabei spielen", gibt Barbara Höhle zu bedenken. Vokalharmonie bedeutet, dass innerhalb eines Wortes nur Vokale vorkommen, die miteinander "harmonieren". So wären "i" und "ü" in einem Wort harmonisch, "a" und "ü" dagegen nicht. Im Deutschen gibt es diese Besonderheit nicht. In einem weiteren Experiment hat nun Anja van Kampen damit begonnen, die Rolle der Vokalharmonie für das Erkennen der Muttersprache zu untersuchen. Die ersten Ergebnisse deuten darauf hin, dass türkische Kinder tatsächlich vokalharmonische Wörter lieber hören, deutschen Kindern dieser Unterschied hingegen egal ist. Sollte auch die Vokalharmonie bei der Segmentierung von Wörtern eine Rolle spielen, könnte das folgendermaßen funktionieren: Hört das Kind eine Silbe, die nicht harmonisch zur vorangegangenen passt, ordnet es diese automatisch einem neuen Wort zu.

Vokalharmonie und Betonung könnten sich als wesentliche Kriterien zum Erkennen der Muttersprache herausstellen. Die ganze Wahrheit ist das aber sicher noch nicht. Die kleinen Probanden werden den Linguisten sicher noch weitere "Tricks" verraten können.


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Quelle:
Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung Nr. 1-3/2007, Seite 20-21
Herausgeber:
Referat für Presse-, Öffentlichkeits- und Kulturarbeit (PÖK)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. April 2007