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SPRACHE/479: Erwerb von Sprachkompetenz (Leibniz)


Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft 1/2007

SPRACHKOMPETENZ
Sprechen, Schreiben, Verstehen
Forschen im Kampf gegen Sprachlosigkeit und Sprachleisigkeit

Von Rosemarie Kappler


Sprachkompetenz bedeutet Zukunftskompetenz, denn eine gute Schulbildung ermöglicht bessere Chancen auf einen sicheren Arbeitsplatz und einen lebenswerten Platz in unserer Gesellschaft.


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Zwei von denen da hinten, eines mit diesen Dingens ... na, egal ... aus der Mitte, und dann bitte noch drei von denen hier vorne. Die Verkäuferin leistet keinerlei Widerstand, aber sie lächelt ganz merkwürdig; nicht mitfühlend ob meiner fehlenden Worte, eher überlegen. Das mag ich mir natürlich nicht bieten lassen und fordere deshalb: Packen Sie bitte jedes Brötchen einzeln ein. Wo kämen wir denn sonst hin, wenn Wissen immer und überall Macht bedeutet. Doch vor die Macht und vor das Wissen haben die Götter erst einmal den Schweiß und den Erwerb von Sprachkompetenz gesetzt.

Menschliches Miteinander und das Begreifen der Welt sind ohne Sprache nicht möglich. Wer sich sprachlich nicht auszudrücken vermag, wer seine Sprachfähigkeit nicht voll entwickelt hat - sei es aus biologischen oder sozialen Gründen - oder wer seine Sprachfähigkeit gänzlich verloren hat, der läuft Gefahr, aus Freundeskreis, gesellschaftlichem Umfeld oder dem Beruf ausgeschlossen zu werden. Letzteres gefährdet naturgemäß dann auch noch die Existenzbasis. Im Zeitalter der Kommunikation und der Informationsgesellschaften sprachlos oder sprachleise zu überleben, ist nahezu unmöglich oder nur mit ständiger Unterstützung und Beistand zu bewältigen. Dabei wird immer deutlicher, dass der bloße Spracherwerb und die Fähigkeit zur Artikulation alleine nicht ausreichen.

Sprachkompetenz ist weitergefasst und kann ganz grob in vier Dimensionen aufgeteilt werden. Da ist zunächst die sprachliche Kompetenz, die das Sprechen und Schreiben, den Wortschatz und die Grammatik, das Sprachverstehen, also das Erfassen von Bedeutungen der aufgenommenen Wörter und Sätze, aber auch das Produzieren von Sprache umfasst. Anzumerken ist, dass ein Mensch vier- bis fünfmal mehr Text versteht, als er selbst produzieren kann. Zur Sprachkompetenz gehört auch die Fähigkeit, Probleme bei der sprachlichen Verständigung und beim Erlernen von Sprache anzugehen und zu lösen. Ebenfalls zählen zur Sprachkompetenz Kenntnisse über Normen jenseits von grammatikalischen Regeln. Dazu gehören Fragen wie: Wie spricht man mit einem Vorgesetzten? - Wie und wann entschuldigt man sich? - Wie geht man mit verschiedenen Leuten in unterschiedlichen Situationen um? Und schließlich ist die sprachlogische Kompetenz eine der bedeutendsten Dimensionen der Sprachkompetenz. Dabei geht es unter anderem um die Fähigkeit, zusammenhängend und nachvollziehbar über komplexe Sachverhalte zu sprechen, anspruchsvolle Texte zu lesen und zu verstehen, Texte flüssig, logisch und verständlich zu schreiben und auch komplizierte Zusammenhänge zu begreifen. Die sprachlogische Kompetenz gilt unter den Sprachkompetenzdimensionen als Basiskompetenz. Schulischer Sprachgebrauch setzt eine ausgeprägte sprachlogische Kompetenz voraus. Sie umfasst auch - das wird aus der Beschreibung deutlich - die sogenannte Lesekompetenz.

Das "Program for International Student Assessment" (PISA) der OECD hat mit der Lesekompetenz einen Schlüsselbereich erfasst, weil nach wie vor der größte Teil des Wissens über Texte zugänglich ist, schriftliche ebenso wie mündliche. PISA misst die Kompetenz, aus Texten unterschiedlicher Art Informationen zu entnehmen, sie zu interpretieren und zu reflektieren. Zu erkennen, was in einem Text steckt und was der Autor will, ist eine Voraussetzung dafür, in allen anderen Bereichen von "Welt" Anschluss halten zu können. Geradezu überlebensnotwendig sind Lesekompetenz und die übergeordnete sprachlogische Kompetenz in einem Bildungssystem, das den Naturwissenschaften breiten Raum gibt. Dazu Prof. Manfred Prenzel, Direktor des Leibniz-Institutes für die Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN): "Naturwissenschaftliche Informationen sind zum großen Teil sprachlich gefasst, und die Vermittlung von Naturwissenschaften findet weitgehend über Sprache statt. Auch läuft die Kommunikation in einer Naturwissenschaft größtenteils über Sprache ab, und die Naturwissenschaften untereinander müssen über Sprache kommuniziert werden. Jeder, der sich mit Naturwissenschaften beschäftigt, muss sich also präzise und verständlich ausdrücken können."

Und um dies gleich global bewerkstelligen zu können, sollte er wenigstens Kompetenzen in einer zweiten Sprache erworben haben. An deutschen Schulen ist das naturgemäß Englisch. Unter Federführung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) wurden mit neu entwickelten Testverfahren die sprachlichen Leistungen von 11.000 Schülern der neunten Klassenstufe in den Fächern Deutsch und Englisch untersucht. Erfreuliches Resultat: Die im Rahmen der sogenannten DESI-Studie gemessene mündliche Sprechfähigkeit im Englischen kann unmittelbar auf den Europäischen Referenzrahmen und die Bildungsstandards bezogen werden. "Zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler in Deutschland erreichen am Ende des neunten Schuljahres das Niveau A2 des Europäischen Referenzrahmens, das die Kultusminister als Erwartungshorizont für den Hauptschulabschluss benannt haben. Sie können sich in einfachen Wendungen und Sätzen im Alltag verständlich machen", berichtet Prof. Eckhard Klieme, Direktor des DIPF. Auch beim Hörverstehen und im schriftlichen Sprachgebrauch erfüllen zwei Drittel der Schüler hinsichtlich der englischen Sprache die Erwartungen. Was die Sprachkompetenzen in Deutsch betrifft, empfiehlt DESI für Schüler mit Migrationshintergrund Maßnahmen zur Förderung des deutschen Wortschatzes, im Englischen hingegen - und das wurde erstmals wissenschaftlich herausgearbeitet - zeigen diese Schüler gute Leistungen, zum Teil sogar mit einem halben Jahr Vorsprung. Klieme: "Diese positiven Ressourcen von Familien, in denen nicht oder nicht nur deutsch gesprochen wird, sollten bei der Debatte über Migration und Bildung in Deutschland nicht vergessen werden."

Speziell mit der sprachlichen Integration von Aussiedlern und mit der Zweisprachigkeit in Aussiedlerfamilien und deren Auswirkungen auf den Spracherwerb der Kinder befasst sich das Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim, über dessen Forschungstätigkeit in dieser Ausgabe des Leibniz-Journals ausführlich im Rahmen des "Institutsporträts" berichtet wird. Deshalb nur soviel: Bei der Mehrheit von Spätaussiedlern aus den GUS-Staaten, die sich auf ihre deutsche Abstammung berufen, reichten die deutschen Sprachkenntnisse nicht aus, um die seit 1996 für die Antragsteller verpflichtenden Sprachtests zu bestehen. Häufig litt die Integration von Aussiedlern an den mangelhaften Deutschkenntnissen, und die Eingliederung in den Arbeitsmarkt wurde und wird erheblich erschwert. Sprachdefizite sind wesentliche Ursache für niedrige Einkommen und hohe Arbeitslosigkeit unter Aussiedlern und Ausländern. Dem versucht das im Jahr 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz entgegenzusteuern, das Integrationskurse und Besuche von Sprachkursen bereits vor der Einreise zur Pflicht macht. Aber, so Prof. Klaus F. Zimmermann, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin: "Der Erwerb von Sprachkenntnissen ist zwar elementar für die gesellschaftliche Eingliederung, genügt jedoch nicht alleine, um die ökonomische Integration von Zuwanderern nachhaltig zu verbessern. Dort, wo es an der adäquaten Ausbildung mangelt, helfen auch verbesserte Sprachkenntnisse nur bedingt weiter."

Wer seine Sprachkenntnisse verbessern will, der kann das in jedem Alter tun. Freiwilligkeit und Leistungsbereitschaft vorausgesetzt, bieten der Bereich der Erwachsenenbildung, das Internet und der Buchhandel genügend Material, um die persönliche Sprachkompetenz zu erhöhen und sich so selbst die Möglichkeit zur Teilnahme an einem immer beschleunigteren gesellschaftlichen Leben zu erhalten. So "einfach" wie zu Beginn des Lebens wird dieses Lernen allerdings nicht. Für den Spracherwerb ist zunächst die Imitation von Sprachlauten der Mutter entscheidend. Hierzu muss das Hörsystem jedoch die Stimme der Mutter von ständig auftretenden Hintergrundgeräuschen trennen. Ohne die Fähigkeit, dieses sogenannte Cocktail-Party-Problem zu lösen, kann der Spracherwerb gerade in der frühkindlichen Phase nur eingeschränkt erfolgen. In einer Reihe von Studien zum Cocktail-Party-Problem, die im Leibniz-Institut für Neurobiologie (IfN) in Magdeburg durchgeführt wurden, konnte u.a. gezeigt werden, dass insbesondere die linke Hirnhälfte eine besondere Rolle bei der Lösung (eines Teils) dieses Problems spielt. Beim späteren Sprachenlernen mittels Lesen muss das Gehirn aus einer über das Auge aufgenommenen Abfolge von Zeichen einen Sinn, eine Vorstellung, ein Konzept "herausrechnen". "Das ist keineswegs eine selbstverständliche Aufgabe", sagt Prof. Henning Scheich vom IfN und erklärt: "Die Systematik und die Variationen der Zeichenfolgen müssen in einer gewissen Geschwindigkeit hintereinander integriert und in etwas umgesetzt werden, das den Sprachkortex interessiert. " Bei alledem wird deutlich, dass Sprachkompetenz und ihre allseits geforderte Verbesserung ein hochkomplexes Geschehen ist, das nur durch Forschung verständlich wird. Die Einrichtungen der Leibniz-Gemeinschaft tragen mit ihrer Kompetenz zur Klärung wesentlich bei.


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Quelle:
Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft, Nr. 1/2007, Seite 6-7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2007