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SPRACHE/511: Frühkindliche Wortbedeutungsentwicklung (BI.research Uni Bielefeld)


BI.research 31.2007
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld

Der Anfang vom Wort
Die Facetten der frühen Entwicklung der Wortbedeutung

Von Katharina Rohlfing, technische Fakultät


Im internationalen Internetforum für Spracherwerbsforscher hat ein Student die Frage nach dem ersten Wort gestellt. Selten gab es so viele Antworten von Wissenschaftlern, die über ihre Beobachtungen an den eigenen Kindern berichten wollten... "I think our son's first 'real' word was 'hiya' - only said when clamping a phone (or phoneshaped object) to his ear" "my daughter's first word was "uh-oh" said as commentary on something about to fall off a table" "at six months, when she wanted to nurse (an activity to which we gave the silly label of "nurseynu-nu"), reached toward me and said, quite insistently, [nu/nu]". Sind die Kinder der Wissenschaftler wirklich so begabt, dass sie bereits mit sechs Monaten zu sprechen beginnen, oder liegt es vielleicht daran, dass die Eltern aus ihrem beruflichen Kontext beobachten und bereits früh merken, wenn sich etwas anbahnt? Ab wann darf man einen Laut als erstes Wort zählen? Wie bahnt sich die Fähigkeit zu sprechen an?

Auch ich gehöre zu den Wissenschaftlern, die gern von den eigenen Kindern erzählen und frage mich, ob, wenn meine Tochter angesichts eines Balls "Ba!" sagt, ich nun berichten darf, dass sie - weil sie ja in der Nähe der Schüco Arena wohnt - in ihrem Wortschatz die Fußballatmosphäre aufgreift. Denn nachdem sie ihre Sprachkompetenz angedeutet hatte, folgten Tage, in denen sie kein "Ba" auf Bälle anwandte. Selbst meine Versuche, ihr das Wort zu entlocken, scheiterten. Dann wieder kam die Benennung zurück, und meine Tochter konnte auf einen Ball zeigen, wenn sie gefragt wurde, einen Ball auf einem Bild benennen und mit dem Namen selbst andere ähnliche Spielzeuge wie zum Beispiel eine Murmel versehen. Das Lernen geschieht offensichtlich nicht wie Treppensteigen: Auch wenn es Anzeichen der nächsten Entwicklungsstufe gibt, heißt es noch nicht, dass die vorhergehende Stufe vergessen ist. So ähnlich wurde aber Piagets entwicklungspsychologisches Modell der kognitiven Stufen interpretiert. Demnach kann ein Kind erst am Ende seiner sensomotorischen Phase (etwa mit 18 Monaten) symbolisch handeln. Die Kognitionswissenschaftlerin Jean Mandler kritisierte 1998 daran, dass am Ende des langen Weges der Übergang zum symbolischen Denken einer kopernikanischen Revolution gleichen muss.


Kontextunabhängigkeit und Generalisierung

Ab wann wird ein Laut zum symbolischen Zeichen? Ein mögliches Kriterium ist die Kontextunabhängigkeit. Demnach ist ein Laut zum symbolischen Zeichen geworden, wenn er eine Bedeutung nicht nur in einer bestimmten Situation hat, sondern wenn die Bedeutung auch auf neue, unerwartete Situationen übertragen werden kann. Zum Beispiel beweist ein Kind die Fähigkeit, das Wort "unter" anzuwenden, nicht bereits dann, wenn es benennen kann, dass etwas unter den Frühstückstisch fällt, sondern sich vorm Regen unter dem Schirm schützt. Wie es zu solch einer Abstraktion kommt, kann nur vermutet werden. Sicherlich spielt die Fähigkeit zur Generalisierung eine wichtige Rolle: Kinder übertragen das, was sie in einer Situation gelernt haben auf andere, auf Grund bestimmter Merkmale ähnliche Situationen.

Die neue Anwendung kann wiederum die bereits vorhandene Bedeutung modifizieren. So kann ein sprachlicher Laut seine Bedeutung mit der Entwicklung verändern. Nehmen wir das Wort "Mama" bei meiner Tochter. Auf Abfrage, also wenn man sie in Gegenwart vieler Leute fragte, wo Mama wäre, zeigte sie auf mich. Kann man daraus schließen, dass sie das Wort bereits gelernt hat? Nicht, wenn man sich die andere Bedeutung anschaut, die das Wort zu dem Zeitpunkt für sie hatte. Sie selbst sagte "Mama", wenn sie Hilfe bei etwas brauchte ("Need assistance!"). Eine Antwort auf die Frage, wann ein Laut zum symbolischen Zeichen wird, muss also mit der Untersuchung der verschiedenen Situationen einhergehen. Eine Vorgehensweise, die typisch für die Bielefelder Linguistik ist.

Aus solchen Analysen kann man erkennen, wie tief gehend ein Wort verankert wurde. Kann ein Kind ein Wort in vielen unterschiedlichen Situationen verstehen und wendet es sogar korrekt an, heißt das noch nicht, dass die Bedeutungen, die es für bestimmte Wörter gebildet hat, den Bedeutungen der Erwachsenensprache entsprechen. Vielmehr werden sprachliche Zeichen lange durch andere Hinweise aus der Umwelt in einer gegebenen Situation unterstützt. So zeigten Studien von Eve V. Clark 1973, dass ein Kind die Instruktion "Stelle den Teller auf den Tisch" versteht, weil der Tisch eine horizontale Fläche hat, die das "Draufstellen" suggeriert. Genauso gut könnte man auch, nach Ergebnissen meiner eigenen Studie von 2001, "Stelle den Teller den Tisch" sagen, weil das räumliche Wort AUF eigentlich nur unterstützend wirkt. Will man testen, ob ein Kind ein bestimmtes Wort kontextunabhängig anwendet, muss man Situationen schaffen, in denen die Hinweise aus der Umwelt minimiert werden.


"Auf" oder "in"?

Zum Beispiel entwickelte ich die oben abgebildete Konstruktion, um die kontextunabhängige Anwendung des Wortes AUF zu testen. Die Vorteile dieser Konstruktion liegen auf der Hand: Die Kinder kennen die Objekte nicht, sie sehen keine horizontale Fläche, die ihnen "helfen" könnte, und sie können mit einem Handgriff die gewünschte Relation ausführen. Allerdings leidet bei solchen Aufgaben die alltägliche Relevanz der zu erwartenden Antworten. Zwar setzten erwachsene Probanden die Kugel auf die andere, aber nur, weil sie sich an der Gravitation orientieren. Denn rein geometrisch und für sich genommen hat eine Kugel eigentlich keine eindeutige Position, die richtig für eine AUF-Relation wäre. Unabhängig davon, worauf man ein anderes Objekt platziert, kann es als "AUF" bezeichnet werden. Es wird deutlich, dass Objekte zur Bedeutung eines Wortes beitragen können. Dieses ist auch für die Erwachsenensprache wahr. Nehmen wir wieder die räumlichen Relationen als Beispiel. In einer Studie präsentierten Michelle Feist und Dedre Gentner 1998 den erwachsenen Teilnehmern zwei Objekte in der gleichen Zusammenstellung. Sie stellten fest, dass Namen wie "Teller" oder "Schüssel" einen Einfluss darauf hatten, ob diese Relation von Objekten als eine AUF (auf den Teller) oder IN-Relation (in die Schüssel) gesehen wurde.


Physikalische Umwelt und das Verhalten der Eltern

Hier zeigt sich, dass Sprache nicht eine kontextunabhängige Fähigkeit per se ist, sondern vielmehr eine Kompetenz, in verschiedenen Situationen sprachliche und nichtsprachliche Hinweise richtig einzusortieren. Würden wir Sprache unabhängig vom Kontext anwenden, hätten die Namen von Objekten keinen Einfluss und die Relation würde in beiden Fällen gleich beurteilt werden. Das Wissen über die physikalische Umwelt trägt zum Spracherwerb mindestens genauso signifikant bei. Kinder nehmen Objekte nicht lediglich in ihrer Form wahr und bezeichnen nicht jede Krümmung als "Rutsche". Sie achten früher in der Entwicklung mindestens genauso auf die Funktion von Objekten. Die Funktion ist jedoch sehr vielfältig. So kann ein früh angewandtes Wort eine soziale oder diskursive Funktion widerspiegeln: Wenn ein Kind das Telefon als "Hallo!" benennt, liegt es nahe zu vermuten, dass es diese Situation, in der jemand zum Telefon greift, und "Hallo!" sagt, häufig beobachtet hat. Wenn meine Tochter die Tür als "Auf!" benennt, so stellt sich die Frage, ob sie Dinge nach ihren Funktionen benennt oder sie aber nicht nur eine Tür, sondern gleich ihre Funktion mitteilt. Denn auf die Frage, wo eine Tür sei, zeigt sie auf das richtige Objekt. Sie scheint also das Wort "Tür" zumindest richtig zu verstehen. Aus diesem Beispiel wird deutlich, dass sich die ersten Wörter im Speziellen und die frühe Sprache im Allgemeinen auf ganze Ereignisse und nicht nur auf einzelne konkrete Objekte bezieht. Es scheint, als würden in die Sprache einsteigende Kinder eine Situation ganzheitlich sehen und mit dem Wort die Dynamik und Funktion des Objektes erfassen, anstatt nur die Objekte auszusondieren. Beim Formen der ersten Bedeutungen darf nicht nur die Vielfalt der enthaltenen Aspekte und diese Situiertheit, sondern auch die Unterstützung der Mitmenschen nicht vergessen werden. Wir sind die Interpretatoren der kindlichen Wahrnehmung - steht in einer Anleitung zum Verstehen des Kindes, 2001 verfasst von Forschern aus Yale. Und es leuchtet sofort ein, dass die Laute des Kindes von den Eltern interpretiert werden, wodurch sie fürs weitere Benutzen beeinflusst wurden. Erwachsene interpretieren nicht nur, sie passen sich auch in ihrem Verhalten an. Typisch dafür ist die Sprache, die Erwachsene an ihre Kinder richten, die sich - wie H. Grimm zeigen konnte - mit zunehmender sprachlicher und kognitiver Entwicklung verändert. Nicht nur die Sprache, sondern auch das weitere Verhalten wird gegenüber Kindern modifiziert, so zum Beispiel die Forscher Lakshmi Gogate und Rebecca Brand. Lakshmi Gogate und ihre Kollegen zeigten, dass Eltern Objekte, deren Namen ihre Kinder noch nicht kennen, bewegen, um die Aufmerksamkeit der Kinder auf diese zu lenken. Bewegt man Objekte, die man gleichzeitig mit Lauten benennt, behalten die sieben Monate alten Kinder diese Verbindung besser, als wenn man die Objekte ohne Bewegung präsentiert. Auch ist Gestik, die die Erwachsenen äußern, einfacher und redundanter. Das heißt, das, was sie durch ihre Sprache vermitteln, vermitteln sie auch durch ihre Gestik. Zusammen mit meinen Kollegen Jannik Fritsch und Britta Wrede aus der Angewandten Informatik und Tanja Jungmann aus der Psychologie untersuchten wir, wie genau nicht-sprachliches Verhalten modifiziert wird. Wir vermuten, dass Eltern nicht nur die Welt für ihre Kinder interpretieren, sondern auch strukturieren und einfacher darstellen. Dieser Vermutung gehen wir in unseren jetzigen Projekten nach. Aber nicht nur die Eltern interpretieren ihre Kinder. Bei meiner Tochter war es häufig ihr Bruder, der ihre Absichten viel besser verstand. "Sie will nicht mehr sitzen! Sie will raus!" verkündete er, als seine kleine Schwester bei Tisch quengelte. Oder als ich verzweifelt versuchte, sie ins Bett zu bringen, schaute er sich meine Versuche kurz an und stellte beiläufig fest: "Sie ist nicht müde!" Und meistens hatte er Recht mit seinen Interpretationen. Während in der westlichen Kultur der Einfluss der Eltern als sehr wichtig erachtet wird, spielen in afrikanischen Kulturen die Geschwister eine besondere Rolle. Die deutsche Forscherin Heidi Keller berichtet dazu eine Anekdote: Als sie eine afrikanische Mutter fragte, ob ihr Kind denn bereits spreche, antwortete diese, warum solle es sprechen, es habe noch keine Geschwister. Das Wort - egal ob an seinem Anfang oder auch später - erhält seine wirkliche Relevanz eben erst durch den Gebrauch in konkreten Kontexten.


Dr. Katharina J. Rohlfing untersucht das Entstehen linguistischer Bedeutung. Sie beschäftigt sich einerseits mit motorischen und kognitiven Fähigkeiten, die diesen Erwerb ermöglichen und analysiert andererseits Umweltfaktoren, die das Herausbilden einer Bedeutung unterstützen. Katharina J. Rohlfing studierte Germanistische Sprachwissenschaft, Philosophie und Medienwissenschaft an der Universität-GH Paderborn. In ihrer Dissertation an der Universität Bielefeld beschäftigte sie sich mit der Entwicklung des semantischen Wissens über räumliche Relationen und der Verbindung zwischen räumlichem Denken und Sprechen über Raum. Ihr postdoktorales Projekt zum frühsemantischen Wissen über räumliche Relationen wurde 2002 bis 2004 an der San Diego State University, der University of Chicago und der Northwestern University durchgeführt. Seit 2005 ist sie ein Mitglied der Arbeitsgruppe Angewandte Informatik an der Technischen Fakultät der Universität Bielefeld (Professor Sagerer). 2007 trat sie das von der VolkswagenStiftung verliehene Dilthey Fellowship (Förderinitative Pro Geisteswissenschaften) für das interdisziplinäre Projekt "Symbiose von Sprache und Handlung" an. Ab 2008 ist sie an einem neuen Projekt der Europäischen Union beteiligt (ITALK), in dem Roboter - eingebettet in soziales Handeln und Interagieren - Sprache lernen.


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Quelle:
BI.research 31.2007, Seite 46-51
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BI.research erscheint zweimal jährlich


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Januar 2008