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SPRACHE/656: Frankreich - Die vielen Sprachen der Republik (Uni Journal Marburg)


Marburger Uni Journal Nr. 33 - Juli 2009

Die vielen Sprachen der Republik

Von Dorothee Bertenhoff, Alice Borgella, Irina Borger, Julius Dihstelhoff, Cornelia Guss, Oliver Kegler, Viktoria Lidke, Julia Schaper, Lara Willenberg, Frederik Zollfrank und Isabel Zollna


Im vergangenen Jahr sind die Marburger Romanistin Isabel Zollna und die Lektorin Stéphanie Lescure mit einer Gruppe von 20 Studierenden in den Süden Frankreichs gereist, um ihnen die Vielfalt der Minderheitensprachen konkret vor Augen zu führen. Sprachpfleger in der Provinz legen großes Engagement an den Tag, um ihre Idiome vor dem Verschwinden zu bewahren.


Sprachpolitik, Sprachbewusstsein, Normierung regionaler Abweichungen - es sind die grundlegende Fragen der Dialektforschung, an denen die Teilnehmer der Exkursion interessiert waren. Somit ergab sich das Ziel der Reise, die in die wichtigsten Gebiete der "langues d'oc" führte, fast wie von selbst.

Die Stellung der Regionalsprachen in Frankreich ist spannungsreich. Der Konflikt um ihre Anerkennung spiegelt die Problematik von Minderheiten wider, die in einem universalistisch gedachten Staatsgebilde leben, das keine Gruppenrechte kennt, sondern nur solche von Individuen. Der zweite Satz der französischen Verfassung lautet: "Die Sprache der Republik ist das Französische"!

Im Gegensatz zu den meisten anderen Regionen, Savoyen etwa oder dem Piemont, wo der Gebrauch des Frankoprovenzalischen stark zurückgeht, ist das so genannte Patois oder Patoue im Aostatal heute noch sehr lebendig. So diskutiert man zum Beispiel in der Tageszeitung über sprachliche Neuschöpfungen, sammelt Vorschläge und wählt die besten davon aus.


Faschistische Sprachpolitik

Eine Erklärung für diese Situation bietet die Geschichte. Nachdem seit dem 16. Jahrhundert das Französische offizielle Amtssprache war, griff das Italienische immer weiter Raum, als das Aostatal an das 1860 neu gegründete Italienische Reich fiel. Mit dem Beginn des Faschismus in Italien begann eine Periode intensivierter Italienisierung: 1923 schaffte man die dörflichen Grundschulen ab, in denen auf Französisch unterrichtet wurde, 1928/29 kam es zur Italienisierung der Ortsnamen. Mussolinis Sprachpolitik richtete sich gegen alle Dialekte, nur Italienisch durfte als Kommunikationsmittel benutzt werden.

Die Verfolgung des Französischen und Frankoprovenzalischen während des Faschismus ist eines der wesentlichsten Identität stiftenden Elemente des Aostatals. Erst 1948 wurde es eine autonome Region und erlangte so die langersehnte Gleichberechtigung der italienischen und französischen Sprache. Das Frankoprovenzalische Studienzentrum im Bergdörfchen Saint-Nicolas entfaltet eine rege Tätigkeit, um die Regionalsprache zu fördern und zu erforschen: Die Einrichtung unterhält eine Bibliothek, führt Weiterbildungen für Lehrer durch und veranstaltet Fachtagungen.

Jedes Jahr schreibt sie einen Mundartwettbewerb zu Ehren des Schriftstellers Jean-Baptiste Cerlogne aus. Es werden Theaterstücke und Tänze aufgeführt und Mappen mit Bildern und Texten zum Thema gestaltet. 2008 nahmen 3.000 Schüler an dem Wettbewerb teil.


Sorge um die Vielfalt

Die Aktivitäten des Zentrums mögen unnütz erscheinen. Warum sollte man eine Sprache fördern, die keinen wirtschaftlichen Nutzen hat? Ist es nicht viel sinnvoller, den Kindern Englisch und Spanisch beizubringen? Dank des "Concours de Cerlogne" entdeckt der Nachwuchs aber eine neue alte Welt, die ihm fremd zu werden droht - die der Großeltern. Zentrumsdirektor Aléxis Bétemps vergleicht die Verteidigung der kleinen Sprachen mit dem Schutz der Biodiversität: "Das Franko" provenzalische ist Teil des Welterbes. Warum erstreckt sich die wachsende Sorge um den Erhalt der Vielfalt nicht auch auf die unterschiedlichen Sprachen?"

Vom Aostatal führte die Reise der Studiengruppe nach Grenoble. Das dortige Institut für Dialektologie besteht seit ungefähr 18 Jahren. Damals machte eine internationale sprachwissenschaftliche Konferenz deutlich, dass es so gut wie keine Forschung zur so genannten Prosodie gibt, also zu Intonation, Akzent, Rhythmus und Intensität der Aussprache. Sicherlich kann man die Syntax eines Satzes objektiver und eindeutiger bestimmen als die Intonation. Dies liegt aber vor allem daran, dass jeder Mensch ohnehin einen eigenen Sprechrhythmus hat.

Der Forschungsschwerpunkt des Instituts liegt auf dem Erstellen von Sprachatlanten, die regionale Sprachunterschiede aufzeigen. So erfasst der "Atlas multimédia de la prosodie de l'espace romaine", kurz "AMPER"-Atlas, die regionalen Unterschiede, die bei der Aussprache ganzer Sätze herrschen. Die Probanden sind Männer und Frauen mit mittlerem Schulabschluss. Ihnen wird dreimal derselbe Satz vorgelesen, den sie anschließend wiederholen sollen. Das Ergebnis wird aufgezeichnet, so dass man später herausarbeiten kann, welcher Dialekt oder welche Aussprache in welcher Region vorherrscht. Dabei gleicht es einem Wettlauf gegen die Zeit, Aufnahmen von Patois-Sprechern zu erstellen, wie die Institutsleitung beklagt.


Wie schreibt man richtig?

Der erste Besuch im Sprachgebiet des Okzitanischen, dem Langue d'oc, führte die Marburger nach Aix-en-Provence. Hier wurden sie mit einem Thema konfrontiert, das in anderer Form auch in Deutschland für Aufregung sorgt: Die Frage nach der angemessenen Rechtschreibung, hier im Falle der Kreolsprachen.

Die französischen Kreolsprachen sind eine Mischung aus dem Französischen und verschiedenen afrikanischen Sprachen, entstanden aus der Kommunikation zwischen Sklaven und Kolonisatoren. Es handelt sich vor allem um Sprachen der mündlichen Alltagskommunikation. Für den Unterricht wird aber eine schriftliche Fixierung und damit Standardisierung der Orthografie notwendig. Aber an welcher Varietät soll sich die Rechtschreibung orientieren? Soll sie die genaue Aussprache widerspiegeln oder einen höheren Grad an Abstraktion anstreben, um eine größere Reichweite zu erzielen? Marie-Christine Hazaël-Massieux von der Universität der Provence geht davon aus, dass nur eine allgemeinere Ebene, die sich an den grammatischen Formen und nicht so sehr an der Aussprache orientiert, eine Chance hat, von vielen Kreolsprechern gelesen und anerkannt zu werden.

Nach einer Besichtigung der römischen Arena von Nîmes ging es weiter nach Béziers, wo das "Interregionale Zentrum zur Entwicklung des Okzitanischen" im Wesentlichen drei Ziele verfolgt: das Kulturgut zu schützen, die Sprache aufleben zu lassen und für eine lebendige Erinnerung zu sorgen.


Sprache der Minnesänger

Man geht heute von ungefähr zwei bis drei Millionen Okzitanisch-Sprechenden aus. Bis ins 13. Jahrhundert hinein war Okzitanisch die Sprache der kulturellen Elite im Süden Frankreichs, besonders verbreitet durch die Troubadoure. Obwohl deren Kunst großen Anklang fand, ging sie in den Folgen der Kreuzzüge gegen die Albigenser und Katharer unter.

Zwar erschien 1355 sogar eine okzitanische Grammatik, die zu einer der ersten Grammatiken einer Volkssprache zählt. Doch im Jahre 1539 wurde durch das Edikt von Villers-Cotterêts festgelegt, dass für administrative Zwecke ausschließlich die französische Sprache zu gebrauchen sei, was alle Regionalsprachen aus dem prestigeträchtigen Bereich der Schrift in Verwaltung und Recht verdrängte. Erst mit Einführung des "Gesetzes zur Förderung der Regionalsprachen in der Schule" im Jahr 1951 begann ein zaghafter Neuaufschwung.

An den Universitäten von Toulouse und Montpellier kann man Okzitanisch bis zur Promotion studieren. Zurzeit gibt es allein in Montpellier knapp 25 Studienanfänger. Eine Besonderheit besteht darin, dass die Studierenden im zweiten Semester kleine empirische Studien machen: Sie hospitieren in zweisprachigen Schulen oder führen kleine Feldforschungen in den Dörfern durch.

Natürlich wollten die Exkursionsteilnehmer von den Studenten in Toulouse wissen, warum sie Okzitanisch studieren statt einer anderen Sprache. Einige antworteten, ihnen gefalle die Sprache, sie wollten das Idiom ihrer Verwandten nicht verlernen; anderen macht es einfach Spaß, sich auf Okzitanisch zu unterhalten, vor allem außerhalb der Universität. Teilweise würden sie von Passanten auf der Straße angesprochen und gefragt, welche Sprache sie denn da sprechen würden.


Zersplitterung der Dialekte

Die letzte Station der Reise führte nach Nordkatalonien zur Universität Perpignan. Das Katalanische wird vor allem mit Spanien in Verbindung gebracht, ist aber auch in Südfrankreich verbreitet. Die Region Languedoc-Roussillon gehört erst seit 1659 zu Frankreich. Aufgrund der Annexion kam es bald zur dialektalen Fragmentierung, da kein gemeinsames Zentrum mehr vorhanden war. Im französischen Teil Kataloniens entwickelte sich ein eigener Dialekt, der von der Nähe zur okzitanischen Sprache geprägt ist.

Die schlechtere wirtschaftliche Situation Nordkataloniens wirkt sich auf das Prestige und den Gebrauch der katalanischen Sprache aus. Das Selbstbild der französischen Katalanen ist bis heute überwiegend negativ. Sätze wie "Wir sind katalanisch, aber da unten sind sie es besonders" mögen dies illustrieren.


Ab in den Süden! - Austausch mit Frankreich

"Auslandserfahrungen sind für das Fremdsprachenstudium ein absolutes Muss!", sagt Isabel Zollna, die für ihre Studierenden die Exkursion nach Südfrankreich organisiert hat. Die Studienfahrt brachte nicht nur vielfältige Eindrücke für die Teilnehmer - auch künftige Studierende der Philipps-Universität haben etwas davon: Auf der Reise wurde eine Kooperation mit der Universität Perpignan auf den Weg gebracht, die einen Austausch im Rahmen des "Erasmus"-Programms der Europäischen Union ermöglicht. Seit dem vergangenen Wintersemester können die ersten Marburger in Perpignan studieren - "ein großer Beitrag zur Internationalisierung der Uni", erklärt Zollna. Durch die Möglichkeit, Katalanisch an der Philipps-Universität zu lernen, wo ein halbes Lektorat besteht, gewinnt die Partnerschaft mit Perpignan besondere Attraktivität. - Johannes Scholten


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Quelle:
Marburger UniJournal Nr. 33, Juli 2009, Seite 36-37
Herausgeber: Der Präsident der Philipps-Universität Marburg
gemeinsam mit dem Vorstand des Marburger Universitätsbunds
Redaktion: Pressestelle der Philipps-Universität Marburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Oktober 2009