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FILMKRITIK/006: "Die Farbe der Milch" - Verlorene Träume ... (SB)


DIE FARBE DER MILCH


Von der norwegischen Regisseurin Torun Lian



Weichenstellung prä- und postpubertärer Streckenbewältigung...

"Die Farbe der Milch" der norwegischen Regisseurin Torun Lian schildert auf den ersten Blick auf sehr zugewandte Weise die Lebensrealität von Jugendlichen. Allerdings wachsen diese in einer Wohlstandsgesellschaft auf, die an den Verhältnissen, in denen die meisten Kinder heute großwerden, fundamental vorbeigeht. Die Kinder haben Sommerferien, die Sonne lacht, und sie haben den lieben langen Tag Zeit, nach Lust und Laune herumzutollen, etwas auszuhecken, zu faulenzen, zu schwimmen oder einfach nur über Gott und die Welt zu philosophieren. Materielle Probleme gibt es hier keine, Eltern stehen bei Bedarf rund um die Uhr zur Verfügung, die Fragen, um die sich alles dreht, sind zwischenmenschlicher Natur: eine Hochzeit muß organisiert werden und fällt ins Wasser, Streitigkeiten zwischen Familienmitgliedern, und die Frage "wer mit wem". Wenn auch diese Probleme angesichts der sich global zuspitzenden Existenzkämpfe gering anmuten - für die Betroffenen sind sie riesengroß und binden ihr ganzes Denken.

So ist es auch bei Selma (Julia Krohn), der 12jährigen Heldin, aus deren Perspektive der Film erzählt. Sie erscheint als rebellischer Geist, der sich erfrischend gegen bestehende Normen auflehnt, und sich, statt dem vorgezeichneten Weg zu folgen, lieber mit philosophischen und naturwissenschaftlichen Fragen auseinandersetzt. Sich selbst bezeichnet sie als "die größte Naturkatastrophe", hat sie doch schließlich mit ihrer Geburt den Tod ihrer Mutter verursacht. Unter diesem Blickwinkel betrachtet sie auch die Liebe.

Niemand hat ihr je die Schuld für den Tod ihrer Mutter gegeben, zu diesem Ergebnis ist sie selbst gelangt. Darüber hinaus sind Männer ihrer Meinung nach ein Auslaufmodell, das in nicht allzu ferner Zukunft von der Bildfläche verschwindet. Man brauche sie nicht. Nach ihren Zukunftsplänen gefragt, antwortet sie in der Regel, sie wolle Nobelpreisträgerin werden, und meint es selbst auch ganz ernst damit. So ziemlich alles, was sie in ihrem Umfeld erfährt, lehnt sie hingegen ab: Jungen findet sie doof, Beziehungen an sich ebenfalls, an ihrem Vater gibt es allerhand zu bemäkeln und ihre Freundinnen begehen in ihren Augen Verrat, als sie den von ihnen abgelegten Schwur, nicht mit Jungen rumzumachen, brechen.

Leider deutet der Film schon recht früh an - und das ist auch seine eigentliche Aussage - daß Selma in ihren Bestrebungen nicht ganz ernstzunehmen ist. Und das nicht etwa, weil sie Wissenschaftlerin werden will, sondern weil sie in präpubertärer Manier jeden Gedanken an Liebe und Beziehung von sich weist.

Dabei ist es zunächst auch der Darstellung des Films nach ganz verständlich, daß Selma sich gegen das Erwachsenwerden und speziell ihre künftige Rolle als Frau auflehnt, bekommt sie doch von ihrer Tante Nora (Ane Dahl Torp) und ihrem Onkel Rikard (Kim Sörensen) ein abschreckendes Bild davon geliefert, wie diese einmal aussehen könnte: Nora befindet sich kurz vor der Hochzeit, bekommt sich aber immer wieder wegen Nichtigkeiten mit ihrem Verlobten in die Haare. Man trennt sich und versöhnt sich wieder. Das Verhalten der jungen Frau erscheint irrational: mal verwirft sie ihren Bräutigam völlig, dann tut sie wieder alles, um ihn an sich zu binden. Offenbar besteht ihr einziger Lebensinhalt aus diesen Machtspielen. Wie Selma scheint sie Probleme damit zu haben, sich in die von ihr erwartete Rolle zu fügen.

Soll das wirklich alles sein? fragt Selma und sieht sich und den in sie verknallten gleichaltrigen Andy (Bernhard Naglestad) schon in derselben Position. Selbst wenn ihre Beziehung harmonischer verliefe, muß denn die Liebe zwischen Mann und Frau tatsächlich das sein, worum es sich im Leben eines Menschen alles dreht?

Dabei fühlt sie sich nach dem Verrat ihrer zwei Freundinnen eigentlich nur von Andy wirklich verstanden. Mit ihm teilt sie ihre wissenschaftlichen und philosophischen Überlegungen, zieht mit ihm herum, er hält zu ihr, wenn es Streit mit den anderen gibt. Andy erscheint in der filmischen Darstellung stets als derjenige, der weiß, was er will, und das auch zielstrebig und geradlinig verfolgt. Selma wird, auch wenn sie sich mit naturwissenschaftlichen Fragen beschäftigt, als eher gefühlsgesteuert und schwankend dargestellt. Daß Andy sich weniger für Wissenschaft interessiert als für sie, weiß man als Zuschauer vom ersten Moment an. Daß Selma sich im Gegenzug für den Jungen interessiert, muß sie erst noch schmerzlich lernen.

Der Film, und damit auch der Zuschauer, nimmt eher die Sicht des Jungen ein und findet ihn in seinem Bestreben vernünftig. Selmas Kindskopf wird unweigerlich belächelt, etwa wenn sie sagt, Andy rege sie intellektuell an, während er ihr offenbart, daß er sie körperlich anziehend fände. Auch die Tatsache daß sie, statt Beziehung, Liebe und Ehe als Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens zu wählen, lieber die wissenschaftliche Forschung in den Mittelpunkt stellt, erscheint als nicht ganz glaubhaft. Bitter wird es, als ihr klar wird, daß sie sich trotz ihrer Ablehnung doch zum anderen Geschlecht hingezogen fühlt.

"Also", denkt sich Selma, "kann ich auch die menschliche Natur, wenn sie solche körperlichen Zwänge vorgibt, nicht akzeptieren." Doch es fällt ihr schwer, diese Überlegung in die Praxis umzusetzen, gibt es da doch den geheimnisvollen Schweden (Gustaf Skarsgard), der den Sommer über ein Praktikum auf dem "Mond" macht, wo die Kühe gemolken werden. Immer wieder kreisen ihre Gedanken um den gut zehn Jahre Älteren. Er hat ihr ein Rätsel aufgegeben: "Welche Farbe hat die Milch?", und diese Frage läßt Selma längst nicht nur aufgrund ihres Forscherdrangs keine Ruhe. Gemeinsam mit Andy diskutiert sie darüber. Schließlich experimentieren sie gemeinsam, und nicht sie, sondern Andy findet die Antwort: In ihrem Inneren, dort, wo kein Licht hinkommt, müßte die Milch doch schwarz sein.

Unterschwellig wird hier dem Zielpublikum der Heranwachsenden die Botschaft vermittelt, daß, mag es auch schmerzhaft sein, man letzten Endes nicht umhinkommt, seinen Wunsch nach einem anderen Lebensentwurf als Kinderei aufzugeben. Erwachsenwerden bedeutet, Kompromisse einzugehen, sich von hochgesteckten Zielen, seinen Wünschen und Träumen, verabschieden. Je schneller man das erkennt und in die postpubertäre Phase gelangt, umso weniger schmerzlich ist der Prozeß.

So begegnet in diesem Film die Erwachsenenwelt dem aufmüpfigen Mädchen größtenteils mit wohlmeinender Geduld, ihre Ansichten werden als vorübergehendes, pubertäres Aufbegehren gewertet. Geschimpft wird selten, man läßt ihr scheinbar jede Freiheit, doch immer wieder wird sie sanft in die Richtung gestoßen, in die es nach Meinung der Erwachsenen gehen soll. Selma wird schon ihren Weg finden, meinen diese, so, wie auch sie selbst sich nach Phasen des Nichteinverstandenseins schließlich in die vorgestanzten Konzepte wie die Zweierbeziehung gefügt haben.

Doch immerhin: Während sich in Hollywoodproduktionen diese konfliktbehaftete Entwicklungsphase, die gemeinhin als "Pubertät" bezeichnet wird, meist auf Dialoge wie "Ist alles okay?" und "Es wird alles gut, ich versprech's dir" reduzieren, erhält man hier wenigstens ein differenzierteres Bild. Die Freiheiten der Heranwachsenden in norwegischer Idylle werden nicht als "glückliche Kindheit" verklärt.

Lian nimmt die Kinder der angesprochenen Altersklasse und damit auch das Problem, daß sie sich zu Recht unverstanden fühlen, ernst, was auch die zahlreichen Auszeichnungen insbesondere von Kinderjurys auf Kinderfilmfestivals (u.a. den Kinderfilmpreis des Nordischen Filminstituts auf den letzten Nordischen Filmtagen in Lübeck) erklärt.

Gerade weil sie soviel Verständnis für diesen fürs Erwachsenwerden kritischen Lebensabschnitt aufbringt, hätte sie in ihrem Film aber auch eine Lanze für einen größeren Entfaltungsraum unbeeinflußter, frei entworfener Lebensideen brechen können. Denn je mehr Vorgaben von gesellschaftlicher Seite als zwingend, sprich "normal" verbreitet werden, desto geringer ist die Chance für einen noch sehr jungen Menschen, sich seinen Interessen gemäß zu entwickeln. So reduziert sich der Film in seiner Aussage darauf, daß es vernünftig ist, sich in die bestehenden Verhältnisse einzufügen.

In Augen der Filmemacherin ist dies auch noch mythisch verwurzelt: "Ich bin am Schreiben, und im Laufe dieses Prozesses wird einfach immer deutlicher, daß ich nur alte Mythen neu schreibe mit denselben Archetypen, aber eben noch einmal. Äußerlich entziehe ich die Geschichten dem, was mich umgibt, aber eigentlich lasse ich mich nur auf Archetypen und Mythen ein. Ich nutze sie, oder sie gebrauchen mich", so Lian in einem Interview mit Jan Erik Holst, dem Leiter der internationalen Abteilung des Norwegischen Filminstituts. Der Film basiert auf einer ihrer Kurzgeschichten, die eigentlich im 8. Jahrhundert vor Christus angesiedelt ist. "Damals wurde den jungen Mädchen zu ihrer Hochzeit ein Leichentuch geschenkt, weil so viele von ihnen während der Geburt ihres Kindes starben. Zu lieben hat ihr Leben tatsächlich gefährdet. Ich habe darin ein äußerliches Bild für eine ganz wesentliche Wahrheit über die Menschen gesehen. Eine mythische Wahrheit."

Diese "Wahrheit" sieht die Autorin also als so unumstößlich an, daß sie auch viele Jahrhunderte später nicht in der Lage ist, sich für die Interessen der jungen Frauen stark zu machen, die heute vielleicht nicht mehr sterben, aber einen Teil von sich aufgeben müssen. Durch den Rückgriff auf einen angeblichen "Mythos" festigt sie eher die herkömmlichen Auffassungen und präsentiert dies für das heutige Publikum verdaulich. Fast unmerklich vollzieht sich vor den Augen des Zuschauers ein Lernprozeß, den er eigentlich kennen müßte, weil er ihn selbst durchgemacht hat.

So findet Selma denn auch zum Schluß nach inneren Kämpfen und unter Anleitung einer bereits Erwachsenen den anerkannten Weg. Wenngleich sie "Liebe als die größte Katastrophe" begreift, ruft sie Andy an und wiederholt das, was diese als Schlußfolgerung von sich gegeben hatte: "Manchmal dauert es eine Weile, bis man erkennt, wer für einen der richtige ist." Als sie sich im Anschluß mit Andy trifft und ihm die Frage: 'Gehen wir jetzt zusammen?' durch ein Nicken bestätigt, laufen ihr Tränen über die Wangen, Tränen, die wohl nicht zuletzt deshalb fließen, weil sie weiß, daß sie ihre Träume, für die sie noch nicht einmal Worte fand, aufgibt. Es steht zu befürchten, daß ihr rebellischer Geist allmählich ganz erstirbt. Mit Wohlwollen wird ihr Umfeld zur Kenntnis nehmen, daß es gut war, diesen "Trotzkopf" gewähren zu lassen und daß der Lernprozeß stattgefunden hat.

Die Zielgruppe von Kindern ab neun Jahren wird dieser Film, da sie sich durch die Geschichte in ihrem Unverstandensein sicher bestätigt finden, ansprechen. Eher jedoch sei er zwecks besseren Verständnisses vielleicht den Eltern empfohlen, denen ein wenig in Vergessenheit geraten ist, wie problematisch und konfliktbeladen es auch in der vermeintlich "glücklichen Kindheit" zuging. Vielleicht muß man heute sogar schon dankbar sein, daß dieses Thema, wenn auch mit der falschen Stoßrichtung, überhaupt aufgebracht wird, statt es so zu tabuisieren, daß jedes Mädchen, das ein Problem hat, sich in diese Rolle zu schicken, gleich als nicht ganz richtig pathologisiert wird.

29. Januar 2007


DIE FARBE DER MILCH
Kinostart: 8. Februar 2007


Originaltitel: "Ikke Naken"
Darsteller: Julia Krohn, Bernhard Naglestad,
Reidar Sörensen, Andrine Saeter, Ane Dahl Torp
Regie: Torun Lian
Drehbuch: Torun Lian, nach der eigenen
Romanvorlage "Ikke naken, ikke kledt"
Norwegen 2004
90 Minuten
Freigegeben ab 6, empfohlen ab 9 Jahren