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BERICHT/051: Pop-Pop-Populär - deutsche Popliteratur (Einblicke/Uni Oldenburg)


Einblicke - Forschungsmagazin der Universität Oldenburg Nr. 42/Herbst 2005

Pop-Pop-Populär

Von Johannes G. Pankau


"Pop-Pop-Populär" war der Titel einer Ausstellung der Forschungsstelle Kinder- und Jugendliteratur im Rahmen der Oldenburger Kinder- und Jugendbuchmesse KIBUM. In ihr wurden die vielfältigen Ausprägungen neuerer deutscher Popliteratur im Kontext der Entwicklung massenmedialer und jugendkultureller Formen dargestellt. Im vorliegenden Beitrag zeigt der Autor inhaltliche wie formale Aspekte der Popliteratur und beschreibt die Arbeit am Ausstellungsprojekt wie an der wissenschaftlichen Begleitpublikation.

Pop ist in unserer Gesellschaft ein ebenso universelles wie flüchtiges Phänomen. Als Teilhabende wie Konsumenten sind wir ständig über die verschiedenen massenmedialen Kanäle an Pop angeschlossen, wissenschaftlich-diskursive Festschreibungen erweisen sich als problematisch. Dennoch ist die Erfassung von Teilbereichen der Popkultur (Musik, Kunst, Kleidung, Jugendlichkeit, Lebensstile etc.) seit längerem Gegenstand etwa der Sozial- und Medienwissenschaften. Die Germanistik dagegen öffnete sich den literarischen Ausprägungen des Pop nur zögernd. Dabei gibt es eine deutschsprachige Popliteratur schon seit den späten sechziger Jahren als Teil der literarischen Öffentlichkeit. Unterschieden werden können dabei zwei Phasen, die der Publizist Diedrich Diederichsen POP I und POP II nannte: ein erster Höhepunkt im Gefolge der Aufbruchstimmung nach 1968, der durch die Aufnahme und Weiterentwicklung der amerikanischen Beatnik-Literatur geprägt ist und in Rolf Dieter Brinkmann einen herausragenden Vertreter fand, dann das unvermittelte Erscheinen einer andersartigen Popliteratur Mitte der neunziger Jahre mit Autoren wie Christian Kracht, Benjamin v. Stuckrad-Barre, Thomas Meinecke oder Alexa Hennig von Lange.

Die transkontinentale Linie: Beatniks und Brinkmann

Der Romanautor Georg M. Oswald meinte bündig, von Popliteratur sei dann zu sprechen, "wenn sie dafür gehalten wird". Dies leuchtet ein, ist aber nur begrenzt aussagekräftig. Zur Klärung ein Blick auf die Geschichte: Popliteratur, im englischsprachigen Raum bereits in den fünfziger Jahren auf den Plan getreten, ist ein Phänomen der Postmoderne, und sie beginnt dort wo die Grenzziehungen zwischen ästhetischen Formen und Niveaus, die bereits von der klassischen künstlerischen Moderne um 1900 relativiert worden waren, tatsächlich überwunden werden. Eben dies postulierte der amerikanische Literaturwissenschaftler Leslie Fiedler 1968 in einem wirkungsmächtigen Vortrag unter dem Titel 'Cross the borders, close the gaps'. Gegenüber der auf Abgrenzung etwa von 'trivialen' Genres bedachten literarischen Hochkultur forderte Fiedler die Vermischung des Literarischen mit dem Trivialen, mit Musik und sogar mit Pornographie. Sein Aufruf zur Neubestimmung der Kunst aus dem Geist jugendlicher Experimentierlust erschien subversiv, bedrohte er doch eine literarische Praxis, die immer noch weitgehend auf die Bedürfnisse eines bildungsbürgerlichen Publikums zugeschnitten war, das einen von der realen Erfahrung abgehobenen, subtilen Kunstgenuss suchte.

Vorgebildet war der neue Begriff einer offenen, grenzüberschreitenden, alle Lebensbereiche umgreifenden Popliteratur bereits in der amerikanischen Beatnik-Literatur der fünfziger Jahre als Ausdruck einer Gegenkultur junger Außenseiter. Die Werke von Jack Kerouac, William S. Burroughs, Alan Ginsberg u. a. zeigten bereits zukunftsweisende Merkmale des Popliterarischen: die Verbindung individuellen Entfaltungswillens mit den Formen der entstehenden Massenkultur, zugleich die Wendung gegen die moralischen Normen des konservativen Mainstream- Amerika der fünfziger Jahre. Aus der Erfahrung des ziellosen Reisens (wie in Kerouacs 'On the Road'), den Erlebniswelten im Drogenkonsum oder dem Einklang mit der Rhythmik des Jazz wurde eine neue, poetische wie alltagssprachliche Formen nutzende Bildhaftigkeit gewonnen. Die Beatnik-Literaten öffneten sich, wie später die PopArt von Warhol, Lichtenstein u. a., aktuellen experimentellen Formen, der Kombination heterogener Materialien aus der Sphäre der Massenmedien, der Neukontextualisierung von Alltagsgegenständen, der Verwischung der Grenzen von Textualität und Visualität etwa in den Werken des Lyrikers Frank O'Hara.

In den späten sechziger Jahren, stimuliert durch den rebellischen Geist der Studentenrevolte, kam die Popliteratur auch in Deutschland an. Rolf Dieter Brinkmann (1940-1975) aus Vechta wurde zum ersten wichtigen Vertreter einer deutschen Popliteratur, die er selbst freilich nie so nannte. Brinkmann war ein Rebell, den sowohl seine eng katholische Herkunftsregion wie der etablierte Literaturbetrieb anwiderten. Er schrieb den Roman 'Keiner weiß mehr' und Werke wie 'Der Film in Worten', 'Westwärts 1&2' oder 'Rom, Blicke - Texte', die nicht nur durch bewusst eingesetzte Schockeffekte (etwa bei der Darstellung des Sexuellen) provozierten, sondern durch die Einmontierung popmusikalischer und filmischer Elemente irritierend wirkten. In kritischer Absicht nutzte er die Sprache der Medien und die veränderten kulturellen Codes, fasziniert vor allem durch die rohe Sensibilität des frühen Rock'n'Roll. Noch in einer zweiten Weise war Brinkmann für die Entwicklung der deutschen Popliteratur von Bedeutung: als Sammler und Anreger. Erst mit ihm beginnt die produktive Aufnahme der amerikanischen Beatnik- und Underground-Literatur, die er vor allem durch die Sammlungen 'Acid' (zusammen mit Ralf-Rainer Rygulla) und 'Silverscreen' zugänglich machte.

Pop für das nächste Jahrhundert

POP I druckte ein generationsspezifisches Gefühl von Widerständigkeit aus, eine Verweigerungshaltung, die dem rebellischen Geist der Aufbruchbewegung um 1968 entstammte. POP II, die Popliteratur seit Mitte der 1990er Jahre, erscheint demgegenüber eher an die kulturellen und medialen Normen der Gegenwart angepasst, ironisch statt subversiv, mehr Konsumartikel als Kritik am Konsumismus. Allerdings handelt es sich hierbei um ein sehr heterogenes Phänomen, und nur teilweise lassen sich experimentierfreudige, komplexe literarische Codes verwendende Autoren wie Rainald Goetz, Thomas Meinecke und Andreas Neumeister mit gradlinigen Erzählern wie Benjamin v. Stuckrad-Barre ('Soloalbum'), Christian Kracht ('Faserland'), Alexa Henning von Lange (Relax) oder Benjamin Lebert ('Crazy') vergleichen. Dennoch gibt es Verbindungslinien innerhalb der gegenwärtigen literarischen Popszene und intertextuelle Referenzen zur frühen deutschen wie zur angelsächsischen Popliteratur (Nick Hornby, Bret Easton Ellis u. a.), dies vor allem durch folgende Merkmale:

- die Einebnung der traditionellen Grenzen von U- und E-Kultur,

- die Verknüpfung des Literarischen mit visuellen und
  musikalischen Ausdrucksweisen,

- den Zusammenhang mit neuen medialen Wahrnehmungs-,
  Produktions- und Rezeptionsformen
  (Eventkultur, Video, Internet/Netzliteratur),

- die Umsetzung von Alltagserfahrung in künstlerischen   Ausdruck in der Verwendung jugendspezifischen, zum Teil   subkulturellen Jargons,

- die Codierung im Sinne der Binnenkommunikation
  heteronomer jugendkultureller Milieus.

Die neue Erzählliteratur erreichte hohe Auflagen und sprach vor allem ein jugendliches Lesepublikum an. Ins Auge trat, dass die (Selbst-)Inszenierung zu einem zentralen Teil des 'Systems' Popliteratur wurde; schnell entwickelten sich einige ihrer Vertreter zu Medienstars - insbesondere Benjamin v. Stuckrad- Barre, der sich als Autor des 'Rolling Stone' und als Gagschreiber für Harald Schmidt früh eine intime Kenntnis des Medienbetriebs angeeignet hatte und besonders geschickt darin war, seine 'Lesungen' als Performances mit Musikeinspielungen zu gestalten. Der Medienverbund wurde zum Teil der literarischen Praxis: Meist gleichzeitig mit den Büchern wurde der Markt mit CDs und Verfilmungen beliefert, die Autoren zeigten sich bei 'Viva', 'MTV' oder in Talkshows. Aber auch in den Texten gab es einen neuen Ton: Denn 'Jugend' war nun nicht mehr ein verblasster, von den gealterten 68ern immer noch okkupierter Begriff, stattdessen wurde etwa durch die Aufzählung von Markennamen und Plattentiteln positiv ein gegen die Elterngeneration gerichtetes konsumistisches Lebensgefühl vermittelt. Die jungen Autoren bedienten sich eher konventioneller Erzählformen, meist schrieben sie in der Ich- Form. Sie behandelten Probleme, die auch Literatengenerationen vorher thematisiert hatten (Liebe, Eltern, Sexualität, Schule), aber im Gegensatz zur 'Betroffenheitsliteratur' der siebziger und Achtziger Jahre sprach aus ihren Texten, trotz eines mitunter melancholischen Unterstroms, die Lust an den Erlebnismöglichkeiten einer freizügigen Gesellschaft.

Allerdings gab es auch schroffe Kritik, zum Teil aus dem Innern der Popliteratur selbst, wie die Reaktionen auf 'Tristesse royale' (1999) zeigen. In einer langen Nacht im exklusiven Berliner Hotel Adlon entwickelten die dort versammelten Autoren Bessing, Kracht, Nickel, v. Schönburg und v. Stockrad-Barre ein 'popkulturelles' Manifest, das ein ehemaliger Popliterat, Maxim Biller, als Ausdruck von schnöselhaftem Dandytum und Realitäts- wie Geschichtsvergessenheit geißelte: "Noch nie waren die Probleme eines Jahrgangs so belanglos und entrückt von allem wahrhaft Existenziellen. Was sind das nur für lauwarme Geschichten, die wir - seit der Wiederkehr des Realismus in unserer Literatur vor zehn Jahren - immer wieder zu lesen bekommen."


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Das Oldenburger Ausstellungs- und Buchprojekt

Die Diskussion um die literarische Valenz der neuen Popliteratur in den Medien ist heute abgeflaut, die Schwierigkeit der Erfassung von Pop ist geblieben. Die Literaturwissenschaft hat sich - eher vereinzelt - um die systematische Erfassung des Phänomens bemüht. Deutlich wurde dabei, dass hier jede isolierende Betrachtungsweise notwendig das Objekt verfehlt, weil vielfältige mediale Verbindungslinien zusammen- und auseinander laufen, weil die Vielgestaltigkeit dem Pop als Wesensmerkmal eingeschrieben ist. Es geht also um eine Art umfassender Dekodierung - um diese leisten zu können, muss das Register der von Pop bestimmten Gegenwartskultur abgerufen werden, müssen die einzelnen Elemente in einen Gesamtzusammenhang eingeordnet werden.

Diese Heterogenität war der Ausgangspunkt des Oldenburger Projekts. Die Konzeption sowohl der Begleitausstellung zur Kinder- und Jugendbuchmesse KIBUM 2004 "Pop-Pop-Populär" als auch des thematisch darauf bezogenen wissenschaftlichen Bandes war von Beginn interdisziplinär bestimmt und führte Fachvertreter wie Studierende der verschiedenen Fächer zusammen, in Arbeitsgruppen und Seminaren der Germanistik und der Kunst. Die Entwürfe für die visuelle Präsentation, das Plakat, den Buchumschlag etc. entstanden in einem kunstwissenschaftlichen Seminar, das Detlef Hoffmann im Sommersemester 2004 an der Universität Oldenburg anbot. Die von der Forschungsstelle Kinder- und Jugendliteratur in Zusammenarbeit mit der Kulturetage Oldenburg projektierte und durchgeführte Ausstellung wurde durch ein Beiprogramm mit Vorträgen, Filmen, Performances und Lesungen ergänzt. Es ging uns darum, einen auf das Literarische eingeschränkten Blick auf das Phänomen zu überwinden und möglichst viele Facetten von Pop in den verschiedenen Künsten, Ausprägungen von Lifestyle und Habitus als Elemente der Jugendkultur vorzuführen.

Im ersten Teil konnten sich die Besucher auf eine Spurensuche zur Erfassung der Themen Pop, Popkultur und Popliteratur begeben. Im zweiten Teil wurden in einem "populären Warenhaus" durch Bild- und Tonbeispiele Formen der Popliteratur präsentiert, wobei der enge Bezug zur kommerziellen und medialen Kultur der Gegenwart sichtbar wurde, etwa an musikalisch-bildhaften und der Besucheraktivität zugänglichen Beispielen ('Rave-Tunnel') oder der ästhetischen Gestaltung kommerzieller Objekte aus der Werbung. Der dritte Teil zeigte in selbst hergestellten Montagen Ikonen der PopArt und ihre Werke.

Mit dem Begleitband 'Pop Pop Populär. Popliteratur und Jugendkultur', an dem WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen mitgearbeitet haben, liegt erstmals ein Versuch vor, das Phänomen der Popliteratur in seinem Kontext mit anderen Medien und mit Erscheinungen der Jugendkultur zu analysieren. Pop zeigt sich in den verschiedenen Beiträgen als komplexes System 'multimedialer' Praxis, das in seinen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsformen nur durch die Einbeziehung vielfältiger Diskurslinien und medialer Referenzen erfassbar ist.


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Ich hätte gern viele Gedichte so einfach geschrieben wie Songs. Leider kann ich nicht Gitarre spielen, ich kann nur Schreibmaschine schreiben, dazu nur stotternd mit zwei Fingern. Vielleicht ist mir aber manchmal gelungen, die Gedichte einfach genug zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufzumachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus.
(Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1&2. Gedichte, 1975)


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Die Achtziger Jahre waren das langweiligste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts. Nicole sang von ein bißchen Frieden, Boris Becker spielte ein bißchen Tennis, Kaffee hieß plötzlich Cappuccino und Raider Twix. Aber sonst änderte sich nix. Noch ahnten die zwischen 1965 und 1975 Geborenen nicht, daß sich das ganze Leben anfühlte wie die träge Bewegungslosigkeit eines gut gepolsterten Sonntagnachmittags. Ja, noch ahnte man nicht einmal, daß man einer Generation angehörte, der Generation Golf ...
(Florian Illies: Generation Golf. Eine Inspektion, 2000)


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Noch nie gab es eine Schriftstellergeneration, die ein derart ereignis- und konfliktloses Dasein geführt hätte wie die unsere. Noch nie waren die Probleme eines Jahrgangs so belanglos und entrückt von allem wahrhaft Existentiellen. Was sind das nur für lauwarme Geschichten, die wir - seit der Wiederkehr des Realismus in unserer Literatur vor zehn Jahren - immer wieder zu lesen bekommen!
(Maxim Biller: Feige das Land, schlapp die Literatur, 2000)


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5-Zeilen-Gedicht

Knall dich voll
Geh ins Kino
Mach die Augen zu
Die Bullen schießen wie wild
Aber sie treffen nur deine Cola

(Wolf Wondratschek 1974)


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Doch irgendwann sind sie dran,
und dann kennt sie keiner mehr,
gestern niemand,
morgen tot und dazwischen was?
Pop, pop, populär, pop, pop, pop,
Populär, pop, pop, pop, populär.

(Die Fantastischen Vier)

Raute

Der Autor

Prof. Dr. Johannes G. Pankau, seit 1987 Hochschullehrer für Germanistik und Rhetorik an der Universität Oldenburg, studierte Germanistik, Anglistik, Publizistik und Psychologie in Münster, Freiburg und Berlin. 1982 promovierte er an der Universität Freiburg mit einer Arbeit zur Entwicklung des kulturkritischen Denkens im Kaiserreich. Nach Lehrtätigkeiten in Freiburg und Berlin war er von 1983 bis 1987 Lektor am German Department der University of Waterloo (Kanada).In Oldenburg habilitierte er sich 1993 mit einer Studie zum deutschen Drama um 1900. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Kultur und Literatur des Fin de Siècle, Romantik, Rhetorik, Exil- und Gegenwartsliteratur sowie Medientheorie. Im Jahr 2004 leitete er das Ausstellungsprojekt "Pop Pop Populär. Popliteratur und Jugendkultur" der Forschungsstelle Kinder- und Jugendliteratur der Universität Oldenburg. Außerdem ist er Herausgeber des wissenschaftlichen Begleitbands.


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Quelle:
Einblicke Nr. 42, 21. Jahrgang, Herbst 2005, Seite 22
Herausgeber: Das Präsidium der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
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