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BERICHT/054: Tiere in der Literatur des Mittelalters (JOGU/Uni Mainz)


JOGU Nr. 199, Februar 2007
Das Magazin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

"Räume des Wissens"
Tiere in der Literatur des Mittelalters

Von Frank Erdnüss


Sämtliche Niederschriften (West-) Europas aus dem Zeitraum von 500 bis 1500 n. Chr nach "Tieren" zu durchforsten, dieses ehrgeizige Ziel hat sich ein Team internationaler Philologen gesteckt. Nach umfangreichen Vorarbeiten seit 2003 steht dieses interdisziplinäre Lexikonprojekt jetzt in den Startlöchern für die erste wirkliche Arbeitsphase.

Tiere spielen in der mittelalterlichen Welt eine zentrale Rolle. Man begegnet ihnen in Kirchen, auf Gebrauchsgegenständen, in der Namensgebung, auf Bildern und eben auch oft in der Literatur dieser Zeit. Diese "literarischen" Tiere zu verstehen, ist schwierig, denn ihre Bedeutung lässt sich nicht über die geläufigen Quellen zur mittelalterlichen Tiersymbolik erschließen. Jetzt scheint es nur noch eine Frage der Zeit, bis diesem Problem abgeholfen ist. Wie Dr. Sabine Obermaier aus Mainz erklärt, haben die bisher zehn Kooperationspartner nun eine vorläufige Liste von 130 Tieren erstellt, nach denen in der Literatur des Mittelalters gesucht werden soll. Neben den romanischen und germanischen Literaturen, die bereits durch entsprechende Wissenschaftler vertreten werden, sollen bald auch die Byzantinistik, die Slavistik und die Orientalistik in das Projekt integriert werden. Zu jedem Tier wird dann ein Lexikonartikel geschrieben, der außer einer ausführlichen Beschreibung zur Bedeutung des Tieres in der damaligen Zeit auch zentrale Originalquellenangaben umfasst. Die Arbeitssprachen sind Deutsch, Englisch und Französisch.


Im Mittelalter galten Delfine noch als Fische.

Als Initiatorin koordiniert Obermaier auch den Ablauf des Projekts. Nach einer Anschubfinanzierung im letzten Jahr durch das HKFZ (siehe Kasten) sind für 2007 Anträge bei den Forschungsfonds der Universitäten Mainz und Trier gestellt. Langfristig sollen Drittmittel sowie Forschungsgelder der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und des Schweizerischen Nationalfonds das Projekt finanzieren. Die Frage, wie sie auf die Idee für dieses Mammutvorhaben gekommen ist, beantwortet die Germanistin so: "Nun, ich mag Tiere sehr und fand es schade, dass ein Hilfsmittel, welches die Darstellung, Bedeutung und Funktion von Tieren in den mittelalterlichen Literaturen umfassend dokumentiert und erschließt, einfach fehlt. In Anlehnung an bereits existierende lexikalische Darstellungen über Zahlen und über Farben des Mittelalters habe ich dann ein Konzept erstellt, Kooperationspartner gesucht und das Projekt ins Leben gerufen." Bislang arbeiten Philologen, Historiker und Medizinhistoriker der Universitäten Mainz, Jena, Trier, Zürich, Utrecht, Leuven und Louvain- la-Neuve an dem Vorhaben mit. Es soll bis 2020 abgeschlossen sein und dann der gesamten "Scientific Community" auf CD zur Verfügung stehen. Geplant ist, zumindest eine abgespeckte Version im Internet frei zugänglich zu machen. Die digitale Aufbereitung der Daten läuft dabei in enger Zusammenarbeit mit dem Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in Trier.

Kurzfristig, das heißt Ende 2007, soll schon eine Pilotversion fertig sein. Sie besteht aus einer Bibliographiedatenbank und Lexikonartikeln zu fünf exemplarischen Tieren. Die Experten einigten sich dabei auf Ameise, Delfin, Einhorn, Kranich und Pferd. Diese Auswahl soll zum Einen die gesamte Bedeutungsskala von Tieren in der mittelalterlichen Literatur umfassen - Pferde spielen beispielsweise eine zentrale Rolle, wohingegen dem Delfin nur eine geringe Bedeutung zukommt - und zum Anderen auch die verschiedenen Tierklassen (Insekten, Fische, Vögel, Säugetiere) repräsentieren. Wer nun stutzt und gleich einen Brief an die Redaktion schreiben möchte, der sei beruhigt: im Mittelalter galten Delfine noch als Fische. In weiten Teilen fertig ist bereits der Probeartikel zum Elefant. "Ich bin froh, dass es nun ans produktive Arbeiten geht", sagt die sympathische Dozentin und ergänzt: "Wir haben so lange an der Struktur des Lexikons gebastelt und mit allen möglichen technischen Problemen gekämpft. Jetzt sind die wissenschaftlichen Hilfskräfte endlich dabei, die Datenbank zu bestücken." Dazu stehen schon 1.500 Literaturtitel in Mainz und noch einmal 3.000 in Belgien bereit.

Information: www.animaliterinfo


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Das Historisch-Kulturwissenschaftliche Forschungszentrum (HKFZ) Mainz- Trier wurde im Rahmen des Hochschulförderprogramms "Wissen schafft Zukunft" im Sommer 2005 durch das Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes Rheinland-Pfalz bewilligt. Sein Ziel ist die Förderung einer arbeitsteiligen interdisziplinären kulturellen Forschung mit historischem Schwerpunkt. Ausgangspunkt ist dabei die Überlegung, dass aktuelle gesellschaftliche Strukturen und Probleme nur auf der Grundlage systematischer Untersuchungen ihrer historischen Wurzeln verstanden und gelöst werden können. Das derzeitige Forschungsthema lautet "Räume des Wissens". Zahlreiche Teilprojekte in zurzeit sieben Arbeitsgruppen beschäftigen sich mit den unterschiedlichsten Aspekten von "Wissensräumen".

Informations: www.hkfz.info.


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Quelle:
JOGU - Magazin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Nr. 199, Februar 2007, Seite 28
Herausgeber: Der Präsident der Johannes Gutenberg-Universität Mainz,
Univ.-Prof. Dr. Jörg Michaelis
Tel.: 06131/39-223 69, -205 93; Fax: 06131/39-241 39
E-Mail: Annette.Spohn@verwaltung.uni-mainz.de

Die Zeitschrift erscheint viermal im Jahr.
Sie wird kostenlos an Studierende und Angehörige
der Johannes Gutenberg-Universität sowie an die
Mitglieder der Vereinigung "Freunde der Universität
Mainz e.V." verteilt.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. März 2007