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BERICHT/086: Brasilien - "Je suis Favela", Erzählungen über das Leben im Slum finden weltweit Leser (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 11. Mai 2015

Brasilien: 'Je suis Favela' - Erzählungen über das Leben im Slum finden weltweit Leser

von A. D. McKenzie


PARIS (IPS) - Lange vor den Terroranschlägen in Paris, die zu dem Slogan 'Je suis Charlie' inspirierten, hatte eine junge französische Verlegerin unter einem ähnlichen Titel einen Band mit Erzählungen über das Leben in brasilianischen Slums herausgebracht.

Das Buch 'Je suis Favela' ('Ich bin Favela') hat seit der Bluttat am 7. Januar, als bewaffnete Islamisten in den Redaktionsräumen des Satiremagazins 'Charlie Hebdo' zwölf Menschen ermordeten, zahlreiche Leser gefunden.

Einige von ihnen mögen zunächst angenommen haben, dass die Erzählungen von ausgegrenzten Gesellschaftsgruppen in Frankreich handeln. Stattdessen geht es darin um junge Menschen in Südamerika, die durch ähnliche Ausschlussmechanismen in die Kriminalität abgedrängt werden könnten.


Von Brasilien lernen

"Wir können alle von dem lernen, was anderswo auf der Welt passiert. Denn wir sind alle von ähnlichen sozialen und wirtschaftlichen Problemen betroffen", sagt Paula Anacaona, die Gründerin von 'Editions Anacaona', die in Frankreich Bücher brasilianischer Autoren auf den Markt bringt.

Anacaona, vor 37 Jahren in Paris geboren, übersetzte zunächst technische Texte. Eher durch Zufall wurde sie literarische Übersetzerin und Verlegerin. Während eines Urlaubs in Rio de Janeiro 2003 kam sie mit einer Frau ins Gespräch, die sich ihr als Schriftstellerin vorstellte. Zwei Monate später schickte Heloneida Studart ein Buch an Anacaona, die davon sehr angetan war und es ins Französische übersetzte. 'Le Cantique de Meméia' wurde dann von einem kanadischen Verlag veröffentlicht.

Studart, die 2007 starb, war auch Essayistin, Journalistin und Frauenrechtlerin. Französischsprachige Leser in verschiedenen Ländern wurden auf die Schriftstellerin aufmerksam. Als weitere Autoren mit Anacaona in Kontakt traten, übersetzte sie auch deren Werke. 2009 gründete sie ihren eigenen Verlag, der sich zunächst auf Werke aus den und über die brasilianischen Elendsviertel konzentrierte.

Das erste Buch, das 2009 bei Editions Anacaona herauskam, war 'Manuel pratique del la haine' ('Praktisches Handbuch des Hasses'), dessen düstere Handlung in einer Favela spielt. Zwei Jahre danach folgte 'Je suis Favela'. Die darin berücksichtigten Autoren kommen aus den Elendsvierteln und aus der Mittelschicht.


Keine Stereotypen

Ihr Ziel sei es, diejenigen, die als gesellschaftlich ausgegrenzt gelten, in einem anderen Licht erscheinen zu lassen, sagt Anacaona. Auf dem Einband von 'Je suis Favela' ist eine junge schwarze Frau zu sehen, die auf einem Balkon in eine Kladde schreibt. "Wie man sehen kann, tanzt sie nicht", meint die Verlegerin. "Es geht hier also nicht um Stereotypen."

Unter dem Titel 'Eu sou Favela' erschien das Buch daraufhin auch in Brasilien. "In Rio leben 20 Prozent der Bevölkerung in Favelas. Das Buch ist also für viele Leser wichtig", sagt Anacaona. In Frankreich wiederum half das Buch nach den Anschlägen dabei, die Gründe und die Folgen sozialer Ausgrenzung zu verstehen - auch wenn die Erzählungen in mehr als 8.000 Kilometern Entfernung spielen. "Französische Leser fühlen sich von dem Buch angesprochen, weil sie die Gründe für die Radikalisierung verstehen wollen."

Inzwischen umfasst das Verlagsprogramm Werke von mehr als 15 Autoren, darunter Rachel de Queiroz und José Lins do Rego aus dem Nordosten Brasiliens. "Um das Leben in Favelas zu verstehen, muss man die Großeltern verstehen, die aus ländlichen Regionen in die Städte kamen. Oft besaßen sie nichts und konnten weder lesen noch schreiben", sagt Anacaona.


Preisgekrönte Autoren

Unter den zeitgenössischen Autoren, deren Bücher bei Editions Anacaona erscheinen, sind Tatiana Salem Lévy, die den Granta-Literaturpreis gewann, und Ana Paula Maia, die anfangs Kurzprosa im Internet veröffentlichte und inzwischen zahlreiche Fans hat. Die beiden Frauen gehören zu einer Gruppe von 48 brasilianischen Autoren, die im März zur Pariser Buchmesse eingeladen wurden, auf der Brasilien in diesem Jahr Ehrengast war. Anacaona stand als Verlag für brasilianische Literatur bei der Bücherschau im Rampenlicht.

In ihren von Anacaona übersetzten Büchern 'Du bétail et des hommes' ('Von Vieh und Menschen') und 'Charbon animal' ('Tier-Kohle') beschreibt Maia auf unsentimentale Weise ungewöhnliche Charaktere: Personen, die auf einem Schlachthof oder in einem Krematorium arbeiten. Die Dialoge sind spärlich, Adjektive werden kaum verwendet. "Die Autorin passt in keine Schublade", meint Anacaona. Maia wirke äußerlich wie ein Fotomodell, sei aber unter gesellschaftlichen Außenseitern aufgewachsen.

Anacaona berichtet, dass Brasilien sie anziehe, weil auch ihre Wurzeln teils in Südamerika liegen. Von dort stammt ihr Vater, der afrikanische Wurzeln hat, während ihre Mutter eine weiße Französin ist. "In Brasilien ist es möglich, sowohl schwarz als auch weiß zu sein. Das ist mir wichtig."


Von Brasilien lernen

Vor kurzem hat die Verlegerin eine Box mit 14 brasilianischen Theaterstücken herausgebracht, deren Übersetzung vom brasilianischen Kulturministerium finanziell unterstützt wurde. Außerdem ist eine zweite Sammlung von Favela-Geschichten unter dem Titel 'Je suis toujours Favela' ('Ich bin immer noch Favela') erschienen. Neben literarischen Texten finden sich darin auch journalistische Beiträge und soziologische Essays über das Dasein in Slums.

Seit dem ersten Erzählband habe sich in den Favelas viel verändert, sagt Anacaona. Zurückzuführen sei dies sicherlich auf die Politik des ehemaligen Staatspräsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, der die Kluft zwischen Arm und Reich verringern wollte. Von dieser positiven Entwicklung könnten Frankreich und andere Länder einiges lernen. (Ende/IPS/ck/11.05.2015)


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http://www.ipsnews.net/2015/05/je-suis-favela-bringing-brazilian-books-to-the-french-2/

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IPS-Tagesdienst vom 11. Mai 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Mai 2015

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