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FRAGEN/018: Abdulrazak Gurnah - Poetische Vernetzungen in ozeanischer Küstenkultur (afrika süd)


afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
Nr. 4, Juli/August 2016

Poetische Vernetzungen in ozeanischer Küstenkultur

Interview mit Abdulrazak Gurnah von Manfred Loimeier


Der tansanische Schriftsteller Abdulrazak Gurnah wurde 1948 auf Sansibar geboren. Er studierte in Kano, Nigeria, und in Kent, England, wo er promovierte. Dort lehrt er heute afrikanische und karibische Literaturen. Für seine Romane wurde er mehrmals für den Booker-Preis nominiert. Manfred Loimeier sprach mit ihm während der Frankfurter Literaturtage über Sehnsucht, Melancholie und den Indischen Ozean.


Manfred Loimeier: Herr Gurnah, Sie haben einmal gesagt, "Ich schreibe über die Erfahrungen von Menschen, die anderswo geboren wurden". Ist das nach wie vor Ihr Motto?

Abdulrazak Gurnah: Ja. Das war zwar eine bilanzierende Feststellung, aber sie ist gut geeignet, so weiterzumachen. Ja, ich schreibe nach wie vor sehr oft über Menschen, die an einem Ort leben, der nicht der ist, wo ihr Leben begann, wo sie geboren wurden oder zugehörig sind. Mit Zugehörigkeit meine ich, dass es keine größeren, dramatischen bedeutsame Veränderungen im Leben gibt.

Manfred Loimeier: In Ihren Büchern kommt dem Indischen Ozean als Schauplatz eine besondere Bedeutung zu. Haben Sie den Eindruck, dass diese Region zunehmend vernachlässigt wird, da die Leute derzeit eher auf Asien und Nordafrika schauen?

Abdulrazak Gurnah: Das tut der Westen, nicht die Leute - nicht nur im Westen sind Leute! (lacht). Warum ich mich so sehr für den Indischen Ozean interessiere, hat offenkundig damit zu tun, dass ich von dort komme. Das prägt mein persönliches, historisches Interesse. Zum anderen habe ich ein intellektuelles, poetisches Interesse an dieser Region - als einer Idee. Die Kulturen entlang der dortigen Küsten schauen auf Jahrhunderte des Austauschs zurück, der gegenseitigen und sich stützenden Beeinflussung. Es scheint mir, das wird außerhalb dieser Kulturen nicht so recht verstanden. Hier meine ich nicht nur den Westen, sondern auch Regionen in Afrika oder Asien.

Wissen Sie, es gibt eine Art ozeanischer Küstenkultur, die fortbesteht und meines Erachtens ein interessantes Konzept ist. Wenn Sie an diese Gegenden wie Sansibar denken und nur für einen Moment aufhören, sie als Küste Ostafrikas wahrzunehmen, und sich stattdessen vorstellen, das ist die Westküste des Indischen Ozeans, beginnen sie, andere Zusammenhänge und Bezüge zu sehen. Wo ist dann die Ostküste des Indischen Ozeans und was verbindet diese Menschen? Sie haben viel gemeinsam. Historisch und materiell: Austausch von Handelsgütern und Geschichten. Genau das fasziniert mich. Je genauer man hinschaut, desto mehr entdeckt man: Zahlreiche Intellektuelle, Akademiker, Denker, Schriftsteller - im südlichen Afrika derzeit insbesondere - sind sehr daran interessiert, durch den Indischen Ozean miteinander verknüpft, statt voneinander getrennt zu sein.

Manfred Loimeier: Der Indische Ozean als kulturelle Drehscheibe also?

Abdulrazak Gurnah: Wenn man sich Inseln vorstellt, denkt man an Isolation. Die Inseln im Indischen Ozean - Mauritius, La Réunion, Seychellen, Malediven - sind zwar einerseits isoliert, wollen es andererseits aber nicht sein. Sie möchten miteinander verbunden sein, auch mit Indien und mit den Komoren. Da geschieht gerade etwas sehr Interessantes, und es ist erkenntnisreich zu fragen, was das im Zusammenhang mit den tiefen historischen Verbindungen bedeutet.

Jedoch ist man sich darüber in den jeweiligen modernen Nationen nicht im Klaren. In Kenia beispielsweise werden die Küstenmenschen nicht als Kenianer wie andere Kenianer gesehen. Wie Sie wissen, fanden mehrere Vertreibungsprozesse entlang dieser Küste statt. So als ob eine Vorstellung von Nation dominiert, die diese Küstenkulturen ausschließt - weil es kein Verständnis für die Bedeutung dieser Vernetzungen gibt. Es handelt sich um Verbindungen, von der man sich im Landesinneren keine Vorstellung machen konnte. (lacht)

Manfred Loimeier: Große Themen in Ihrer Literatur sind Verlust und Sehnsucht. Halten Sie es für möglich, dass Ihre Hauptfiguren in ihrer neuen Welt, in ihren neuen Kulturen einmal ankommen?

Abdulrazak Gurnah: (Zögert lange) In einer gewissen Weise schon. Mich interessiert der Prozess, warum jemand, aus welchem Grund auch immer, von hier nach dort geht. Oft schreibe ich über Leute, die ein Problem mitbringen. Gut, irgendein Problem hat man immer (lacht), aber wenn man es an einen anderen Ort bringt, verlaufen die Dinge anders. Zunächst gibt man gewisse Verpflichtungen, Verantwortlichkeiten auf. Das Aufbrechen, Verlassen hat mit Verlust zu tun. Man verliert etwas, aber man entkommt auch, vermeidet etwas. Deshalb wird dieser Schritt notgedrungen immer ein gewisses Schuldgefühl verursachen, als würde man etwas Falsches tun. Man kommt mit dem Gefühl an, etwas falsch gemacht zu haben. Dann wird der Ort, an dem man eintrifft - und das ist derzeit gemeinhin der Westen - höchstwahrscheinlich nicht sehr entgegenkommend sein.

Man ist zusätzlich noch mit Feindseligkeit konfrontiert. Wie kann man damit klarkommen und im Sinne Ihrer Frage auch noch ankommen? Man kann nicht einfach sagen: So, mir geht's nun gut. Man kann nicht wirklich ankommen, so lange die feindselige Gesellschaft nicht so vielseitig ist, dass man sich darin wiederfinden kann. Man kann lediglich einen Platz für sich aushandeln - voller Spannungen -, der es einem aber erlaubt weiterzumachen, manchmal in Würde, manchmal nicht. Das ist meines Erachtens das Beste, was man erreichen kann. Dabei spreche ich von Menschen, die von sich aus aufbrechen, also in der Regel Erwachsene oder manchmal jüngere Erwachsene. Mich interessieren deren Gedanken hier wie dort und die Art der Anpassungen, die eine Person erbringen muss, bis etwas erträglich ist.

Manfred Loimeier: In Ihren ersten Büchern wie "Memory of Departure" (1987) ging es um den Aufbruch und um das Leben von Afrikanern in Großbritannien. Wie haben sich Ihre Themen Migration und gesellschaftliche Akzeptanz in Ihren jüngeren Romanen "Desertion" (2005) und "The Last Gift" (2011) verändert?

Abdulrazak Gurnah: Eine große Veränderung bewirkte die Möglichkeit, nach Sansibar zurückzukehren - das konnte ich über viele Jahre nicht. 1984 gab es eine Amnestie, die Leuten wie mir, die weggegangen waren, die Rückkehr erlaubte. Ich hatte schon angefangen zu denken, dass ich wohl mein ganzes Leben in Großbritannien verbringen würde. Ich hatte eine Familie in England gegründet und begonnen, dort zu leben. Dann kehrte ich für lange Zeit in meine Heimat zurück und reiste viel herum. Damals hatte ich bereits Ideen zum Roman "Paradise" ("Das verlorene Paradies" 1996) im Kopf. Aber ich schwankte hin und her. Dann wurde jedoch alles klar. Meine Rückkehr ließ mich Dinge verstehen, die ich vorher nicht verstand.

Das hat mein Schreiben verändert. Ich war siebzehneinhalb, als ich Sansibar verließ, und vierzig, als ich zurückkam und die Situation differenzierter betrachten konnte. Deshalb wurde mein Schreiben runder - auch verständnisvoller dafür, was ich vorher kritischer gesehen hatte. Das Alter hilft, Trauer besser zu verstehen - weniger Urteile und mehr Sympathie. Damals beschloss ich, über ältere Menschen zu schreiben. Sehr oft stellt man sich seine Figuren jünger vor, weniger als ältere Menschen, die in einem Dilemma stecken, da es schwieriger ist, das zu lösen. (schmunzelt) Mit dem Roman "By the sea" ("Ferne Gestade" 2002), begann ich, mich dafür und für die Trauer zu interessieren - für eine Person, die sich nur wenig Hoffnung machen kann, aber ihren Weg im Leben geht.

Das alles hat zu einem erweiterten Blick geführt, der es mir erlaubt, von hier nach dort zu schauen, mehr als nur die Erfahrung eines Afrikaners in England wie in "Pilgrims Way" ("Schwarz auf Weiß" 2004). Jetzt bin ich mehr daran interessiert, beides gleichwertig darzustellen. Auch die Geschwindigkeit meines Schreibens hat sich verändert - ich schreibe detaillierter, aber auch schweigsamer, achte mehr auf leise Klänge.

Manfred Loimeier: Die Atmosphäre etlicher Ihrer Bücher ist melancholisch, traurig, aber zugleich ist Ihr Schreiben voller Humor. Wie finden Sie die Balance?

Abdulrazak Gurnah: (Lacht) Ich mag Melancholie! In ihr liegt etwas Konkretes und eine große Fülle. Melancholie beschert uns oft die wahrsten Gefühle. Und ich schreibe gern über ihre Schönheit. Gleichzeitig bin ich nicht abgeneigt gegenüber guten Komödien, weil man manchmal einfach nicht widerstehen kann, die komischen Seiten des Lebens zu sehen, das wir leben. Wenn man etwas Schmerzliches durchleidet, macht man sich manchmal zugleich darüber lustig. Das hält uns davon ab, melodramatisch zu werden. Das ist eine Methode, das Maß an Selbstbedeutsamkeit zu drosseln und nicht immer nur zu denken und zu denken, sondern sich auch zu sagen, dass man sich selbst zum Narren hält.


ABDULRAZAK GURNAH:
Memory of Departure (1987)
Pilgrims Way (1988; "Schwarz auf Weiß", Ai, 2004)
Paradise (1994.; "Das verlorene Paradies", Krüger, 1996)
Admiring Silence (1996; "Donnernde Stille", edition Kappa, 2000)
By the sea (2001; "Ferne Gestade", edition kappa, 2002)
Desertion (2005; "Die Abtrünnigen", Berlin Verlag, 2006)
The last gift (2011)

Manfred Loimeier ist Literaturwissenschaftler, Autor, Übersetzer, Dozent und Journalist. Zu seinen Publikationen zählen Wortschätze und Szene Afrika, beide erschienen 2012. Er übersetzte "Der Bang-Bang Club" 2015.

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Quelle:
afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
45. Jahrgang, Nr. 4, Juli/August 2016, S. 28-29
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Oktober 2016

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