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PROFIL/055: Die Autorin Lindsey Collen (Frauensolidarität)


Frauensolidarität - Nr. 91, 1/2005

Die Autorin Lindsey Collen

Weltliteratur mit Schwerpunkt Frauenalltag


Helga Neumayer

Anfang Oktober 2004 war eine der beachtlichsten zeitgenössischen Autorinnen der weiblichen Arbeits- und Alltagswelt - die in Mauritius lebende Lindsey Collen (1) - zu Besuch in Österreich (2). Die Frauensolidarität veranstaltete und koordinierte mit der Literatin und Aktivistin eine Lesung, eine Schreibwerkstatt und zahlreiche Interviews für Print- und Funkmedien unter dem Motto "Literatur zwischen Alltag und Weltpolitik".


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Wenige Autorinnen der Weltliteratur haben die Fähigkeit von Lindsey Collen, hochwertiges literarisches Schaffen mit solch gründlichem Ausmaß an Erfahrung in politischem Aktivismus zu verbinden. Die ProtagonistInnen in Collens Romanen sind mit wenigen Ausnahmen durchwegs einfache Frauen aus der Arbeits- und Alltagsweit Mauritius' und des südlichen Afrikas. Die literarische Sprache der Autorin - basierend auf Englisch mit Kreol und Bhojpuri - ist die kollektive Ausdrucksweise des vielfältigen kulturellen Hintergrundes der mauritianischen Hauptdarstellerinnen.

Nahe an der Basis

Die farbige und metaphorische Tiefe der Charakteristik ihrer Figuren belegt die Nähe der Autorin zur Welt der Arbeitskämpfe, der Frauen-, der Gewerkschafts-, der Friedens- und der modernen Antiglobalisierungsbewegung.

Die Autorin, in Südafrika geboren und aufgewachsen, war in der Antiapartheidbewegung tätig und ließ sich Anfang der 1970er Jahre in Mauritius nieder, wo sie im Bildungs- und Kulturbereich tätig wurde. Sie ist Aktivistin der ersten Stunde gegen die skrupellose Vertreibung der BewohnerInnen von Diego Garcia zugunsten einer US-amerikanischen Atom-Militärbasis auf dieser zu Mauritius gehörenden Insel (vgl. "Botschaft aus Mauritius" von Lindsey Collen in Frauensolidarität Nr. 89, S. 24f). Im Roman "Die Wellen von Mauritius" beschreibt sie das Trauma der Vertreibung und die brutalen Menschenrechtsverletzungen anhand einer von Diego Garcia vertriebenen Frau und deren Schicksal. Heute ist sie treibende Aktivistin einer internationalen Bewegung gegen Militärbasen weltweit, die beim Weltsozialforum im Jänner 2004 in Bombay ihren Auftrieb fand.

Geschichtenerzählerin

In der mauritianischen Frauenbewegung war Lindsey Collen eine Art Historiografin und Geschichtenerzählerin. Sie selbst meint, gerade diese anfangs unbewusste Funktion sei die Grundlage für ihre spätere literarische Laufbahn gewesen. Collens Nähe zum mauritianisch-indischen Kontext - über 70 % der Inselbevölkerung sind indischer Herkunft, ein Großteil davon mit hinduistischem Hintergrund - machte sie vertraut mit der Problematik der ungewöhnlich drakonischen Strafen auf Marihuanagebrauch, obwohl ein Großteil der Bevölkerung diese Droge für religiöse Zwecke bei bestimmten Hindufestivals regelmäßig verwendet.

Dieses Thema steht im Mittelpunkt ihres zuletzt erschienen Werkes "Boy", eine "strategisch" angelegte und literarisch unumstrittene Geschichte eines etwas unselbständigen jungen Mannes, "Boy", der in drei Tagen durch Teufels Küche geht, um seiner Mutter etwas Marihuana für das nächste Hindufestival zu besorgen. Die Droge geht verloren, der junge Mann hat ein Rendezvous mit der Polizei und dem Gericht und die Mutter, eine traditionelle Matrone, wird schließlich Aktivistin der Legalisierungsbewegung. Dieser Roman, der in gewisser Weise einen Höhepunkt in Collens Schaffen darstellt, enthält gedrängt alle Charakteristiken der vorangegangenen Romane: Jede Figur hat mit einem brennenden sozialen, ökonomischen oder kulturellen Problem zu schaffen, welches durch literarischen Tiefgang den mauritianischen Kontext darlegt. Am Ende findet die Autorin für alle einen gekonnten Lösungsansatz, denn die Charaktere sind im Grunde Teil von einem unübersehbaren kollektiven Lebens- und Liebesdrang.

Ihren Durchbruch schaffte Lindsey Collen mit dem Roman "Sita und die Gewalt", für den sie 1994 den Commonwealth Writers Price für den besten Roman Afrikas bekam. Die internationale Aufmerksamkeit zu diesem Preis kam im richtigen Moment, wurde die Autorin doch damals wegen ihrer tabubrechenden literarischen Beschäftigung mit Vergewaltigung und sexueller Gewalt gegen Frauen überhaupt von Hindu-Fundamentalisten mit dem Leben bedroht.

Die Protagonistin mit dem mythologischen hinduistischen Namen Sita ist eine starke, politisch aktive und lebensbejahende junge Frau, die plötzlich an Kraft verliert, bis sie sich an einen blinden Fleck ihrer Vergangenheit begibt, dort, wo ihr das Patriarchat keine Chance gab und sie sich der gebauten Macht von Sexismus zu stellen hatte. Die verdrängte Vergewaltigung bleibt, wie es in Collens Werken üblich ist, nicht eine persönliche Geschichte, sondern sie blättert Seite für Seite ebenso Kolonial- und Wirtschaftsgeschichte auf.

In "Lebenstanz" beschreibt die Autorin das Streben drei junger Frauen um eine selbstbestimmte Sexualität, um ein Leben in sozialer und ökonomischer Würde, um Demokratie und Mitbestimmung. Es ist eigentlich die Beschreibung eines einzigen Tages, an dem eine junge Frau morgens eine Fehlgeburt hat, die sie zu verbergen sucht. Mithilfe von zwei Freundinnen versucht sie den Fötus im Plastiksack im Lauf des Tages unbeobachtet zu begraben. Denn abends möchten sie rechtzeitig zur Gewerkschaftsversammlung kommen, die erste in ihrem Leben, wo sie als Straßenverkäuferinnen und als Putzfrauen einige Bemerkungen anzubringen hätten.

Der Tag, der im Roman die wunderbare Beschreibung von einem Universum an weiblichen mauritianischen Lebenskontexten enthält, endet erfolgreich: Die junge Frau, die morgens ein Baby verloren hat, erhebt rechtzeitig, zum ersten Mal und entschieden, ihre Stimme bei der Gewerkschaftsversammlung, sie beschwert sich über die ständige Belästigung der Straßenverkäuferinnen durch die Polizei.

Schreiben und Lehren

Durch die große politische und literarische Öffentlichkeit wurde Collen 1994 zur Entscheidung gedrängt, die Literatur zur ernsthaften Lebenshauptbeschäftigung zu machen. Trotzdem blieb sie der Basisarbeit verbunden und nach wie vor leitet sie Alphabetisierungskurse für Arbeiterinnen, bei denen sie - wie auch bei ihrer Schreibwerkstatt Anfang Oktober 2004 in Wien - mit den Techniken des kreativen Schreibens unterrichtet. Als 2001 eine alerte Weltöffentlichkeit mit Entsetzen den US-amerikanischen Luftangriff auf das afghanische Volk mitanzusehen hatte, bearbeitete Lindsey Collen dieses Thema mit ihren erwachsenen Schülerinnen anhand Picassos Werk "Guernica". Dabei entstand ein Kollektivgedicht gegen den Krieg:

Der Donnerstags-Frauen-Alphabetisierungskurs betrachtet
"Guernica" während des Bombardements auf Afghanistan:

Krieg ist da, / und Unordnung, / da ist ein Schrei / wie ein Zyklon, / und da / liegt ein Mann / hingeschlachtet, er ist tot.

Sogar die Kuh, die Augen der Kuh / Sie schauen zur Seite und geradeaus / Gleichzeitig, warum?

Du hast das zu einem Zweck ausgesucht, dieses da, / Wegen der Bombardements, nicht Wahr?

Picasso ist traurig / oh, das nimmt mich mit, / er zeigt uns, dass wir im Dunkeln leben, / eine Dunkelheit, so dicht, / dass keine Lampe sie erhellen könnte. Alles / wegen dem Krieg / und der Unordnung / und das Pferd das sie quälen / das Pferd und der geschlachtete Mann, schau die Augen wandern in einer Runde, und die Mutter weint / während das Kind in ihren Armen stirbt, schau / der Ochsenschwanz / ein Strudel / ein Rauch / Phantom der Toten / und sterbende Flotte über schreiende schwarze Unordnung / und Krieg. (3)

Internationale Anerkennungen

In Österreich beendete Lindsey Collen ihre literarische Rundreise am Tag nach Bekanntwerden der Vergabe des vorjährigen Literaturnobelpreises an Elfriede Jelinek. Lindsey freute sich mit uns aufrichtig über diese Ehre. Und trotzdem all ihr literarisches und politisches Streben anderen Zielen gilt, ist sie selbst durchaus Kandidatin für die großen Weltliteraturpreise. So erfuhren wir mit großer Freude zu Redaktionsschluss, dass Lindsey Collen mit "Boy" die Preisträgerin des 'Commonwealth Writers Price' 2005 für den besten Roman Afrikas ist. Workshopteilnehmerinnen, Redaktion und Leserinnenschaft gratulieren!


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Anmerkungen:

(1)
Bisher von Lindsey Collen in Deutsch erschienen: Sita
und die Gewalt (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997).
Die Wellen von Mauritius (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
1998). Lebenstanz (Göttingen: Lamuv 1999).

Bisher nur in Englisch erschienen: Boy (London 2004).

Zum Weiterhören:

http://cba.fro.at/show.php?eintrag_id=3029
(Interview mit Lindsey Collen
unter dem Motto "Die Wellen von Mauritius
und Bagdad").

(2)
Die Autorin war auf Einladung der Südwind Agentur
in Österreich.

(3)
Übersetzung aus dem Englischen von Helga Neumayer.


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 91, 1/2005, Seite 8-9
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Berggasse 7, 1090 Wien,
Fon: 0043-(0)1/317 40 20-0, Fax: 0043-(0)1/317 40 20-355,
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