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SF-JOURNAL/059: Autoren... George R.R. Martin, Stories ohne Happy-End (SB)


George R.R. Martin, (geboren 1948)


Persönliche Daten

Der 1948 in Bayonne/New Jersey geborene Autor George Raymond Richard Martin studierte Journalismus an der Northwestern University von Evanston/Illinois, war anschließend zwei Jahre für das soziale Hilfswerk VISTA tätig und organisierte zahlreiche Schachturniere im Auftrag der Continental Chess Association. Science Fiction schreibt er seit 1969, von 1976 bis 1978 lehrte er Journalismus am Clark College in Dubuque/Iowa, seither arbeitet er als freier Autor.

George R.R. Martin erregte zunächst besonderes Aufsehen mit seinen eindrucksvollen Kurzgeschichten, für die er mehrfach mit dem NEBULA und HUGO nominiert und auch ausgezeichnet wurde.

Wie viele andere Science Fiction-Schriftsteller entwickelte Martin sein Talent für den Roman nur langsam. Große Beachtung fanden seine beiden ersten Werke 'Wenn die Flamme erlischt' ('Dying Of The Light', 1977) und 'Kinder des Windes' ('Windhaven', wurde 1975 als Kurzroman, aber erst 1980 in Buchform veröffentlicht), der in Zusammenarbeit mit der Autorin Lisa Tuttle entstand. Es folgten ein Vampir-Roman mit dem Titel 'Fevre Dream' (1982), der Horror-Roman 'The Armageddon Rag' (1983), der das Übernatürliche mit einer Rockband verbindet, (eine Idee, die danach oft kopiert wurde, jedoch nie so gut) und vieles andere mehr.

Seit etwa 1980 hat Martin seinen Geist der Science Fiction oder Fantasy leider nur noch gelegentlich geöffnet, statt dessen unter anderem eine Menge guter Drehbücher geschrieben, und dabei eine noch größere Menge Geld verdient - worauf er schließlich wohl auch bis heute seinen Schwerpunkt gelegt hat. Nun kann man das einem hauptberuflichen Schriftsteller natürlich nicht Übel nehmen oder zum Vorwurf machen. Dennoch ist es mit Blick auf seine anfängliche, leidenschaftliche Begeisterung für das Genre Science Fiction bei entsprechenden Inhalten und Fragestellungen schade.


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Werke, bemerkenswerte Kurzgeschichten - eine Auswahl:

1973 Am Morgen fällt der Nebel
With Morning Comes Mistfall

Ein Team spezialisierter Wissenschaftler, begleitet von einem Journalisten, besucht den Urlaubsplaneten 'Geisterwelt', um ihn vom Mythos angeblich dort lebender, unsichtbarer Wesen zu befreien. Das gelingt schließlich auch, aber ist das wirklich ein Zugewinn für die Menschheit? Wer ist am Ende ärmer oder reicher und vor allem, wer hat wen von was 'befreit'?


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1976 Dieser Turm von Asche
This Tower Of Ashes

Nach einer unglücklichen Liebe versucht der Ich-Erzähler auf einem unwirtlichen Planeten abseits des städtischen Lebens mit sich und dem Universum ins Reine zu kommen. Auch der Besuch seiner ehemaligen Freundin, die sich um ihn sorgt, und deren neuen Freund, lassen ihn zu keinem Ergebnis kommen. Die Story lebt von der ausgefeilten Sprache Martins, vom reichhaltigen Gebrauch an Metaphern, Andeutungen, Bildern sowie detaillierten Beschreibungen der Landschaft. Sie ist in sich spannend, obwohl eigentlich nicht viel passiert: Am Ende bleibt der Ich-Erzähler einsam, aber nicht unbedingt unglücklich zurück und setzt seinen Job, die Jagd auf Traumspinnen, fort.


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1977 Bitterblumen
Bitter Blooms

Die Geschichte ist gewissermaßen ein Plädoyer für die Lüge. Denn wer wollte sich erdreisten, darüber zu urteilen, ob nicht tatsächlich ein Reich der Lüge existiert, parallel zu dem, was wir als oftmals grausame Realität erachten, in dem man das Leben leben kann, was man sich sonst nur mit Hilfe seiner sogenannten Lebenslügen erträumt?


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1977 Und am Wochenende Krieg
Weekend In A War Zone

In dieser Story greift der Autor ein Thema auf, das angesichts von damals tatsächlich existierenden britischen Urlaubsangeboten, die dem Touristen Abenteuer in nachempfundenen Kriegsgefangenenlagern versprechen, gar nicht mal übertrieben utopisch wirkt: Wer will, kann im Urlaub oder am Wochenende in den Krieg ziehen - und der Veranstalter garantiert, daß dieses Angebot blutig ernst gemeint ist... Diese Story gehört zu den wenigen Geschichten, die außerhalb des Martin-Universums (siehe unten), das den meisten seiner Erzählungen (und so auch allen hier genannten) den Hintergrund verleiht, angesiedelt ist.


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1979 Der Weg von Kreuz und
The Way Of Cross And Dragon

George R.R. Martin fragt in 'Der Weg von Kreuz und Drachen' nach den Grundlagen einer Religion, die inzwischen auch die Sterne erreicht hat. Der etablierten Kirche macht eine neue Glaubensrichtung mit einem angeblich gefälschten christlichen Hintergrund Sorgen. Wer darf was glauben - und wer ist der bessere Christ? Diese Story belegte bei der NEBULA-Wahl 1980 den dritten Platz.


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1980 Die Expedition der Nachtfee
Nightflyers

Bei der Novelle 'Die Expedition der Nachtfee' dürfte Robert Blochs 'Psycho' Pate gestanden haben. Die Story ist ein durchaus nicht blutarmer Versuch, Elemente des Krimis und der Weird Fiction mit der Science Fiction zu verbinden.


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Romane und Kurzromane - eine Auswahl:

1977 Dying Of The Flame
1980 Windhaven
1982 Fevre Dream
1983 The Armageddon Rag


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Als Herausgeber:

1977 New Voices in Science Fiction
verschiedene Verlage, 4 Bände bis 1981
1987 Wild Cards, Bantam, 14 Bände bis 1995


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Äußerungen zum Genre und zum Schreiben

George R.R. Martins erzählerisches Werk liegt fast vollständig in deutscher Sprache vor. Seit Jahren sind seine Texte in den Nominierungslisten zu finden, wenn es irgendwo darum geht, einen Preis für Science Fiction zu verleihen.

Martin beherrscht eine ganze Palette von Themen, charakteristisch aber ist bzw. war zu Beginn seiner Karriere, daß die meisten der Kurzgeschichten und Romane vor einem gleichbleibenden Hintergrund - einem Universum der Zukunft nach dem Zusammenbruch des viele Planeten umfassenden Imperiums der Menschen - angesiedelt waren. Markenzeichen dieses sogenannten Martin-Universums sind die nachdenklichen, oft poetisch-traurigen, melancholisch-tragischen und stets düster endenden Erzählungen, als deren Höhepunkt wohl der Romanerstling 'Die Flamme erlischt' gelten kann.

Dieses Buch ist ein sehr dichtes Werk, ganz im Stil eines Kurzgeschichten-Autors, allerdings von epischer Breite. Das nur 291 Taschenbuchseiten lange Werk könnte mühelos eine mehrteilige Serie ausfüllen: Die Geschichte spielt auf Worlorn, einem mittlerweile fast menschenleeren Planeten am Rande der Galaxis, einem Wanderer zwischen den Sternen, über den sich bald ewige Dunkelheit herabsenken wird. Der Planet hatte nur eine kurze Blütezeit: vierzehn verschiedene Zivilisationen errichteten hier gigantische Städte, zum Ruhm ihrer Nationen und für rauschende Feste. Geblieben sind nur noch Geisterstädte... und einige wenige Abkömmlinge der menschlichen Rasse, die hier vor dem finsteren Hintergrund des Schicksals von Worlorn auf dramatische Weise aufeinandertreffen.

Den Entwurf eines eigenen Universums, zwar keine neue Idee (z.B. auch das Hainisch-Universum von Ursula K. LeGuin), bei Martins schriftstellerischer Fähigkeit jedoch sehr vielversprechend, hat der Autor leider nicht weiterentwickelt.

Als einen weiteren Schlüssel zum Erfolg nennen SF-Experten die Verbindung herkömmlicher Science Fiction mit romantischen Themen. Das mag sein. Ein viel wesentlicherer Punkt jedoch dürfte Martins Konzept des dauerperspektivischen Grundwiderspruchs seiner Hauptfiguren sein: Anspruch und Wirklichkeit lassen sich nicht in Deckung bringen. Mit dieser Formel schreibt der Autor seine Stories - und er versteht sein Handwerk gut. Aber Vorsicht! Stets wird der Leser, sofern er sich darauf einläßt, gewissermaßen aufs Glatteis geführt: Nichts hat Bestand, alles ist voller Widersprüche, am besten, man legt sich auf nichts fest und in diesem Sinne ist und bleibt alles unergründlich, spannend und geheimnisvoll. - Was dem Unterhaltungswert keinen Abbruch tut und was nicht heißen soll, daß unter Umständen hier und dort Ideen auftauchen, die immerhin dazu führen, sich über dieses oder jenes eine Handvoll abwegiger Gedanken zu machen ...


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Diese Sicht der Dinge würde Martin selbst vermutlich weit von sich weisen. Als Antwort auf den Vorwurf der Kommerzialisierung von Science Fiction zu Lasten ihrer Inhalte schrieb er im Dezember 1981 im 'The Magazine of Fantasy and Science Fiction', daß er einer solidarisch zueinander stehenden Gruppe von Schriftstellern angehöre, deren literarischer Anspruch eben nicht "Meterware am laufenden Band" sei. James Gunn, Literaturprofessor an der Universität in Lawrence/Kansas, veröffentlichte zu diesem Thema folgende Passage:

Die gemeinsamen Eigenschaften der Gruppe, schrieb er, rührten von dem Umstand her, daß diese Gruppe "ein Zusammenschluß war der beiden sich bekriegenden Lager der 60er Jahre". Sie standen "mit einem Bein fest im Lager der Traditionellen SF", aber sie waren auch "die Generation des Vietnamkrieges". Der Mißerfolg der New Wave, fährt Martin fort, brachte sie nicht dazu, als "Gesellen des Literaturbetriebs Meterware am laufenden Band zu produzieren. Eine wirkliche Geschichte besteht aus These, Antithese und Synthese." Für Martin hat die Labor Day Group die Absicht, "die Atmosphäre und die Verve und die unbewußte Kraft des Besten der traditionellen SF zu verbinden mit dem literarischen Anliegen der New Wave; den Dichter mit dem Raketenenthusiasmus in Beziehung zu bringen; eine Brücke zwischen den Kulturen zu schlagen. [...]

In einer Einleitung zu Songs Of Stars and Shadows [1977, dt. Lieder von Sternen und Schatten, 2 Bde.] schreibt Martin: "Liebe und Einsamkeit mögen unter anderem meine bevorzugten Themen sein, aber mein überragender Champion ist die Suche nach Realität und ein Zerstörungsfeldzug gegen romantisches Erzählen, eine Thematik, der ich mich immer wieder zugewandt habe."
(Literaturangabe siehe unten)


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Vor allem die "Suche nach Realität" und den "Zerstörungsfeldzug gegen romantisches Erzählen" ist für Kenner seiner Erzählungen und Romane nur schwer nachzuvollziehen, zeichnen sich seine Texte doch gerade durch die Verbindung herkömmlicher Aspekte aus dem Bereich Science Fiction mit romantischen Themen aus. Für diese Kontraste setzt Martin viel Sprachgefühl und Einfallsreichtum an Detail und Begebenheit ein. Das ist sein Handwerkszeug, mit dem er professionell umzugehen vermag. - So gesehen hat George R. R. Martin eigentlich gar keinen Grund, sich wegen irgendwelcher Vorwürfe zu rechtfertigen oder sich seinerseits in weitere Widersprüche zu verstricken. Denn seine Stories lesen sich ausnahmslos gut. Und was soll daran schlecht oder falsch sein, als freier Autor möglichst viel zu verkaufen und damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. - Oder ist George R. R. Martin am Ende selbst ein Opfer des Idealismus, dem so viele seiner Hauptfiguren erlegen sind? Mehr zum Thema enthält nachfolgende Leseprobe.


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Leseprobe

aus: "Am Morgen fällt der Nebel" (1973)

Eine Martin-Story wäre keine echte Martin-Story ohne einen romantischen Idealisten als Sympathieträger, und gleichermaßen einen rational denkenden, sogenannten erfolgreichen Gegenspieler.

Hier nun also der Auszug aus einem von vielen langen Gesprächen zwischen dem Besitzer des Hotels "Wolkenschloß", einem Träumer namens Sanders, und dem Ich-Erzähler der Story, einem zielstrebigen, mitten im Leben stehenden Journalisten, der das Forscherteam unter Leitung eines gewissen Dr. Dubowski auf "Geisterwelt" begleitet. Diese Gespräche finden meistens auf der Hotelterasse vor dem Hintergrund der berauschend schönen, nebelverhangenen Berglandschaft dieses Planeten statt:

"Dubowskis Anwesenheit scheint sie nicht zu freuen", begann ich, als die Gläser vor uns standen. "Weshalb nicht? Er bringt Ihnen Geld ins Haus."

Sanders blickte auf. "Das stimmt. Die Saison ist noch nicht richtig angelaufen. Aber mir gefällt nicht, was er sich da vorgenommen hat."

"Also versuchen Sie ihn zu vergraulen?"
Sander's Lächeln verschwand. "War das so deutlich zu
erkennen?"

Ich nickte.

Er stieß einen Seufzer aus. "Ich hatte auch nicht mit einem Erfolg gerechnet", sagte er und nahm einen Schluck. "Aber ich mußte es wenigstens versuchen."

"Warum?"

"Weil er die Welt hier kaputt machen wird, wenn ich ihn nicht daran hindere. Darum. Er und seine Leute arbeiten so lange, bis es im ganzen Universum keine Geheimnisse mehr gibt."

"Es geht doch nur um eine Handvoll ungelöster Fragen. Gibt es auf diesem Planeten Geister? Was hat es mit den Ruinen auf sich? Wer erbaute sie? Hatten Sie nicht den Wunsch, diese Dinge zu erfahren, Sanders?"

Sanders versucht zu erklären, daß es ihm darum nicht geht. Doch er kann sich seinem Gesprächspartner nicht verständlich machen, und zuletzt endet die Unterhaltung im Streit:

Ich [der Journalist] saß da, nippte an meinem Drink und sagte gar nichts. Sanders ließ sich das dritte Glas kommen. Ein häßlicher Gedanke ging mir immer wieder durch den Kopf. Schließlich mußte ich ihn loswerden.

"Wenn Dubowski alle Fragen beantwortet", meinte ich, "dann hat die 'Geisterwelt' ihren Reiz für die Besucher verloren. Und Sie machen kein Geschäft mehr. Könnte es sein, daß Sie davor Angst haben?"

Sanders funkelte mich an, und einen Moment lang schien es, als wollte er sich auf mich stürzen. Er tat es nicht. "Ich dachte, Sie seinen anders. Weil Sie zusahen, wie der Nebel fiel. Weil es Sie beeindruckte. Zumindest glaubte ich das. Aber ich habe mich wohl getäuscht". Er wies mit dem Kinn zur Tür hin. "Los, verschwinden Sie!"

Ich stand auf. "Hören Sie, Sanders", sagte ich. "Die Sache tut mir leid. Aber es gehört nun mal zu meinem Beruf, häßliche Fragen zu stellen."

Er gab keine Antwort, und ich verließ den Tisch. Am Ausgang drehte ich mit noch einmal um und warf ihm einen Blick zu. Er starrte in sein Glas und führte Selbstgespräche.

"Antworten", knurrte er. "Antworten. Für alles brauchen sie Antworten. Dabei sind die Fragen viel schöner. Warum lassen sie uns nicht in Frieden?"


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Literatur

James Gunn (Hrsg.): Von Malzberg bis Benford, S. 59/60,
Bibliothek der Science Fiction Literatur
Wege zur Science Fiction, 10. und letzter Band,
Heyne Verlag München 1999

Lexikon der Science Ficiton Literatur
Erweiterte und aktualisierte Neuausgabe in einem Band
Hrsg.: Alpers/Fuchs/Hahn/Jeschke
Heyne Verlag München 1988

John Clute: Science Fiction - Die illustrierte Enzyklopädie Heyne Verlag München 1995

Kopernikus 1, 2, 4, 5, 7
Kurgeschichtensammlungen
Hrsg.: H.J. Alpers, Moewig Verlag München 1980


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Autoren
- Persönliche Daten
- neue Akzente für die Science Fiction-Literatur
- Zur Schreibtechnik
- Stellungnahmen zur Science Fiction
in Interviews und Romanen
- Werke mit Auszeichnungen und Verfilmungen
- Leseproben

Erstveröffentlichung 2003

8. Januar 2007