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BERICHT/020: "Die Untoten" - Verschleißwelten unvollständiger Autonomie (SB)


Spaziergang durch das "Museum der Untoten"

Kubus für Gehirne - Foto:  ©  2011 by Schattenblick

Exponat einer immateriellen Zukunft
Foto: © 2011 by Schattenblick

Was können uns Prothesen erzählen? Sie sind das Zeugnis davon, daß einem Menschen etwas Eigenes genommen und durch Fremdes ersetzt wurde. Die künstlichen Artefakte sind im Körper integriert, eine Synthese zwischen technowissenschaftlicher Reparaturanstalt und bioorganischem Träger. Als solche sind sie jedoch erkenn- und verifizierbar.

Anders verhält es sich mit der Prothesenbildung, die aus den Forderungen einer Arbeitsvergesellschaftung hervorgeht, wenn der Bestand an Bewegungs- und Ausdrucksformen, Verhaltensweisen und Denkmustern mit einer äußeren verwissenschaftlichten Welt korreliert und die Zu- und Ausgänge dieser Symbiose sich einer Bewußtwerdung nicht mehr erschließen. Dann ist der prothesenhafte Charakter des Lebens so weit absorbiert und verinnerlicht, daß der auf die Arbeitswelten der Moderne aus kritischer Sicht angewandte Begriff der Entfremdung nicht mehr greifen kann. Im Widerspruchsfeld von Automatismus und Autonomie entzündet sich der kulturgeschichtliche Streit um die Schaffung von Lebendigkeit in einer Welt, die von Maschinentechnologien bestimmt und beherrscht wird.

Das von Karin Harrasser und Aino Korvensyrjä initiierte Projekt "Museum der untoten Arbeit" hat sich in diesem Sinne die Illustrierung der kultur- und zeitspezifischen Ausprägungen der Selbstbestimmungsverluste einer Gesellschaft zur Aufgabe gemacht, die mit dem fremdverfügten Charakter moderner Arbeitsteilung, der Verwertbarkeit des Menschen in Produktion wie Reproduktion einhergehen. So gilt es, den gesellschaftshistorischen Zurichtungen, denen der Körper unter dem Primat seiner Wertschöpfung und Kapitalisierung unterworfen wurde und wird, mit künstlerischem und kulturwissenschaftlichem Engagement auf die Spur zu kommen.

Wie untot ist das Leben in den Kodierungen biopolitischer Fremdbestimmung, ließe sich der Anspruch individueller Autonomie im Kontrast zur Automatisierung auf den Begriff seiner Überprüfbarkeit bringen? In der Figur des Untoten und Zombies, der weder lebendig noch tot ist, jedoch als konzipierte Möglichkeitsform durch die Beeinträchtigung seiner Vitalfunktionen ins Bild des Lebens drängt, wird der Mensch als Maschinen- und Arbeitswesen thematisiert. Inwieweit ist also der moderne Mensch noch der subjektive Träger einer freien Willensgestaltung oder nurmehr der Appendix eines das Physische datenelektronisch und mechanisch regulierenden Verfügungsanspruchs?

Artefakte aus der Film- und Literaturgeschichte dienen der Kontextualisierung dieses grundlegenden Widerspruchs. Beispiele dieser Art hat das Museum der untoten Arbeit in verschiedenen Abteilungen zusammengetragen. Ob nun das Knie des Obergefreiten Wieland in Alexander Kluges Film "Die Patriotin" oder die zum Hitlergruß unwillkürlich hochschnellende Hand in "Doctor Strangelove" von Stanley Kubrik, die "autonom handelnden Körperteile" stehen in ihrem kritischen Symbolismus dafür, daß der soziale und physische Körper den technologisch aufgerüsteten Arbeitswelten, ihrer konstitutiven, auf vorformatierten Output ausgerichteten Mechanik und Funktion auf eine Weise ausgesetzt ist, die den Warencharakter dieser Produktivität zu seiner zweiten Natur macht.

Im reflexhaften Ausagieren auf den Menschen einströmender Impulse manifestieren sich jedoch nicht nur die der adaptierten Maschinenmechanik innewohnenden Zwänge. In der Figur des Atomwissenschaftlers Dr. Seltsam, "in der das Unerledigte der Geschichte als Automatismus rumort, zieht sich alles zusammen, was wir in unserem Museum thematisieren möchten", brachte die Kulturwissenschaftlerin Harrasser ihr Forschungsprojekt auf den Punkt. Die sich scheinbar selbsttätig zum Hitlergruß emporreckende Hand, die mit dem anderen Arm immer wieder gebändigt werden muß, könnte in Anbetracht des apokalyptischen Szenarios, das sie begeistert begrüßt, auch als unabgegoltener Herrschaftsanspruch einer Übermenschenideologie verstanden werden, die in der eugenischen und biomedizinischen Selektions- und Optimierungslogik ein in ihrer Gefährlichkeit verkanntes Schattendasein führt.

Harrasser verweist auf den Psychotechniker Fritz Giese, der 1924 in seinem Werk auf 500 Seiten eine Anthropologie der arbeitenden Hand verfaßt hatte, stets unter dem Gesichtspunkt der Anpassungsoptimierung taktiler Bewegung und des Werkzeugcharakters der Hand. Hier wäre der Zusammenhang der lateinisch "digiti" genannten Glieder mit dem Zählen, der grundlegenden Schaltfunktion der digitalen Welt, zu ergänzen. So haben sich die Finger der Hand den Anforderungen menschlicher Arbeit gemäß auf eine Weise ausdifferenziert, die die Frage aufwirft, ob der Griff dieser Finger überhaupt die Verwirklichung der damit beanspruchten Autonomie erfüllt, oder ob das Gegriffene in seiner wortwörtlich zu verstehenden Gegenständlichkeit viel mehr Macht über Gestalt und Entwicklung des Menschen ausübt, als dieser sich gerne eingestehen möchte. Dies wird zumindest durch die evolutionäre Doktrin anpassungsorientierter Bewältigung mit der Unterwerfung des Menschen unter den Naturzwang beantwortet. Der Anspruch, sich von diesem durch technologische Errungenschaften zu befreien, erweist sich auf der Ebene adaptierter Verbrauchs- und Zerstörungsfunktionen - die die Natur selbst verfeuernde Maximierung der Produktivkraft, der den Leib des anderen Lebewesens verstoffwechselnde Bioorganismus - als Vermeidung einer Konfrontation, die dem Menschen mehr abverlangt als die Perfektionierung bekannter Überlebenstechniken.

Der Übergang vom Handwerk zur Industrie, von der Manufaktur zur automatisierten Fließbandarbeit hat sich auch in den jeweiligen künstlerischen Ausdrucksformen niedergeschlagen. Im Zeitalter der Industrialisierung hätten Künstler zuweilen die gesellschaftliche Arbeitsteilung adaptiert und dadurch an Autonomie eingebüßt. Davon zeugen im 20. Jahrhundert viele Collagen und Assemblagen aus industriell hergestellten Bildern. So bestellte der ungarische Künstler László Moholy- Nagy 1922 in einer Schilderfabrik fünf Bilder aus Emailleporzellan, wobei er die zuvor auf Farbkarte und Millimeterpapier skizzierten Formen zur Fertigstellung in Auftrag gab und schließlich die aus der Fabrik gelieferten Gemälde als eigene künstlerische Arbeiten präsentierte, ohne daß der Konzeptkünstler auch nur einen einzigen Pinselstrich selbst getan hätte. Die Autonomie und Einzigartigkeit der Artefakte wurde hier den modernen Produktionsverhältnissen geopfert. Der Künstler, der sich zum kapitalistischen Manager stilisiert, um die Verkehrswege der Kommunikation, Vernetzung und Vermarktung zur Schaffung untoter Produkte und Arbeit zu nutzen, hat die Gestaltungsmöglichkeiten der Hand in der neoliberalen Auslegung von Autonomie und freier individueller Kreativität geradezu kommerziell korrumpiert und in der Materialität seines Werks vergegenständlicht.

Wie Harrasser erklärt, wurde dieses System der Arbeitsteilung zwischen Kunst und Kommerz von Maurice Tourneurs in seinem Film "La main du diable" 1943 analysiert und detailliert dargestellt. Darin erwarb ein erfolgloser Künstler von einem Koch eine Schatulle mit einer abgeschnittenen Hand. Die fremde und funktionalisierte Hand machte aus dem Künstler schließlich einen großen Maler, verhalf ihm zu Reichtum und einer wunderschönen Frau. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere und seines persönlichen Glücks stellte sich jedoch heraus, daß er mit dem Kauf der Hand auch einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte. Als er zusehends in den finanziellen Ruin getrieben wird und alles verliert, was sein Glück auf Erden ausgemacht hat, entschließt er sich zum Weiterverkauf der Schatulle. Aber nun ist es seine eigene Hand, die amputiert wird und ins Kästchen kommt. Im Film ist der Teufel ein freundlicher Bankbeamter, der dem nunmehr verarmten Maler tagtäglich mit strenger Kontoführung seinen wachsenden Schuldenberg vorrechnet.

Das Symbolhafte der im Filmtitel mythologisierten Hand des Teufels ist Harrasser zufolge "gleichzeitig eine Ware und ein Fetisch" und "deshalb eine marxistische Hand. In der Ware mit ihrem fetischistischen Charakter begegnet der Produzent als Konsument seiner toten Arbeit. Die begehrten Waren sind die Untoten in der Welt des Kapitals." Das arbeitsteilige Prinzip erscheint angedeutet und schematisiert durch die amputierte Hand des Künstlers, der seine Arbeitsproduktivität dem Kapital zur Verfügung stellt, während das Kunstwerk als Ausdruck der Lebendigkeit und Überwindung der materiellen Grenzen menschlicher Gesellschaften nicht in Erscheinung tritt, weil es in der Verwertungslogik des Kapitals und der Mehrwert produzierenden Arbeit keinen Platz hat.

Die Referentin Korvensyrjä verwies in diesem Zusammenhang auf die feministische Kritik der Arbeitsteilung ab den späten 1960er und 1970er Jahren. Die Künstlerin Mierle Laderman Ukeles hatte in ihrem Manifest "Maintenance Art Proposal for an Exhibition" 1969 die Rolle der Frauen in der reproduktiven Arbeit in Frage gestellt und für ihre Perfomances beispielsweise Museen geputzt und eine Stelle bei der New Yorker Müllabfuhr angenommen. In einem der berühmtesten Projekte dieser Zeit - "touch sanitation" - schüttelte die Künstlerin die Hände von insgesamt 8500 New Yorker Müllmännern und bedankte sich bei ihnen dafür, daß sie New York City sauber halten.

In der Abteilung "Partizipation als Fitness oder die Konsumentin als Produzentin" werden Installationen und Skulpturen von international bekannten Künstlern und Choreographen vorgestellt. Unterdessen sind die gewohnten Verhältnisse ins Gegenteil verkehrt. Die BesucherInnen werden entgegen der Distanz nehmenden Betrachtung von Kunstobjekten in Ausstellungen wie "Move: Choreographing You" als Mitwirkende einbezogen und nach Ansicht Harrassers so in Prothesen der Kunstwerke umgewandelt. Sie wirft die Frage auf, ob die Kunst in der Moderne zur "Avantgarde untoter Arbeit" geworden sei, einer Arbeit, "die an den versehrten Körpern der Moderne herumdoktert und parallel dazu mit Verfahren und Techniken der Selbstreflektion experimentiert?" Die Fülle an Diskursen in der "Aneignung von Bedeutungen, der automatischen Produktion, der Verzahnung von Arbeit mit Selbstausbeutung, von Produktion und Zerstörung, Kreativität und ewigem Recycling" komme dagegen erst in einer Gesellschaft zur vollen Entfaltung, in der Museen zu Vergnügungs- und Konsumkomplexen mißraten seien wie überhaupt die Ikonisierung des Konsumenten durch den Verlust an unmittelbarer Lebendigkeit zum kulturbestimmenden Leitmotiv in den gesellschaftlichen Verfügungsformen des Körpers avancierte.

Filmszene 'Omega Man' - Foto: © 2011 by Schattenblick

Omega Man in untoter Gesellschaft
Foto: © 2011 by Schattenblick

Die Perspektive einer in diesem Sinne durchrationalisierten Lebenswelt setzte sich Harrasser zufolge endgültig in den 1970er Jahren durch, als die Konsumenten im Subgenre des Horrorfilms als Horde seelenloser Untoter persifliert wurden, oft in der Konfrontation mit leerstehenden urbanen Räumen wie in George A. Romeros Film "Dawn of the Dead", wo die temporären Affinitäten zwischen Warenwelt, Konsum und Melancholie das Strickmuster der Handlung prägen. Im gleichen semantischen Umfeld spielt der Film "Omega Man", in dem Charlton Heston 1971 alleine gegen ein Heer von Untoten, die das menschenleere Los Angeles in Besitz genommen haben, ums Überleben kämpft. Im Film "Soylent Green!" aus dem Jahre 1973 wird dagegen eine Überbevölkerungssituation dramaturgisch vorgeführt, in der die hungernden Unterschichtsmassen aus Knappheit an Lebensmitteln synthetische Nährstoffe erhalten, die aus Leichen gewonnen werden.

Die Abteilung "Immaterielle Arbeit" wurde mit dem Projekt "Zwölf Städte" des Architekturkollektivs "Superstudio" eingeführt, das 1971 entstanden war, als die historische Matrix für diese Form der kooperativen, kommunikativen und affektiven Begriffsbildung in ein festes Konzept geschrieben wurde. Die zwölf Städte sind allerdings nur für das postfordistische Arbeitsregime ideale Markierungspunkte auf der Landkarte einer futuristischen Ausgestaltung der Zukunft. In den Modellentwürfen besetzt eine Minderheit immaterieller Funktionäre die hegemonialen Machtzentren einer kybernetisch vernetzten Utopie, in der die Gehirne über sozialtechnische Kommunikations- und Kontrollformen miteinander verbunden sind und infolge des Stillegens der Körper eine neue Produktivität erzeugt wird, ganz in Zeichen der Virtualisierung des urbanen Lebens. Die verschiedenen Szenarien variieren dabei in der Art der Unterbringung der Gehirne.

In einem Stadtmodell lagern die Gehirne, während die Körper unwiderruflich verfaulen, in kleinen Containern im perfekten Milieu einer Nährflüssigkeit, aufgeschichtet zu einem gewaltigen Kubus aus Quarzkacheln für über zehn Millionen Exemplare, und verbringen, da sie nicht altern, die Ewigkeit in der Monotonie einer endlosen Meditation, frei von externer Wahrnehmung und störungssicher vor Kontakten mit der Außenwelt, die Gedanken sublimierend in Richtung Weisheit oder Wahnsinn, bis die Menschheit eines Tages im Sand der Zeit vergeht und die Gehirne in der Vollendung der Individuation allein zurückbleiben.

In einem anderen Modell besteht die Stadt der Hemisphären aus einer glänzenden Kristallplatte aus über zehn Millionen gläsernen Sarkophagen inmitten von Wäldern und grünen Hügeln. Jeder Sarkophag birgt einen unbeweglichen Menschen, mit geschlossenen Augen, klimatisierte Luft atmend, der Blutkreislauf mit einem reinigenden Apparat verbunden, der die Alterung durch Entfernen der Giftstoffe und Zufuhr von Hormondosierungen verhindert. Ein externer sensorischer Apparat ist über eine Serie von Elektroden an die flache Oberfläche der Hemisphäre gekoppelt und inhäriert die Sinnesorgane an Sehkraft, Gehör, Tastgefühl, Geruchssinn und Geschmack. Stille liegt über diesem Ort, wo der Tod nicht mehr existiert und die Selbstreferenz in der Uniformierung des Geistes den höchsten Grad untoten Daseins erreicht hat.

Aus der sowjetischen Schule untoter Arbeit stammt das Pantheon der Gehirne aus dem Moskauer Institut für Gehirnforschung, das 1927 initiiert wurde. Die Idee zur Sammlung und Kartierung von Gehirnen außergewöhnlich begabter Sowjetmenschen rührt von Wladimir Michailowitsch Bechterew her, dem berühmten Neurowissenschaftler und psychotechnischen Experimentator, der nach seiner Rede als Vorsitzender des ersten übergreifenden Kongresses für Neuropathologen und Psychiater in Moskau Dezember 1927 unter mysteriösen Umständen erkrankte und 24 Stunden später verstarb. Ohne jede weitere pathoanatomische Untersuchung wurde ihm das Gehirn entfernt, der Körper eingeäschert und das Gehirn im Jahr darauf ins fertiggestellte Moskauer Gehirninstitut eingefügt. Noch 1989 vor dem Zerfall der Sowjetunion wird die Sammlung durch das Gehirn Andrei Dmitrijewitsch Sacharows, der Friedensnobelpreisträger und Atomphysiker, Regimekritiker und Menschenrechtsaktivist, ergänzt.

Zwei menschliche Gehirne - Foto: © 2011 by Schattenblick

Wohnsitz des menschlichen Geistes?
Foto: © 2011 by Schattenblick

Bereits in der Mitte der 1920er Jahre hatte der russische Arzt, Soziologe und - bis zu seinem Ausschluß aus der Partei - Bolschewik Alexander Bogdanow zirkuläre Bluttransfusionen für Verjüngungsexperimente durchgeführt, um eine materielle Kommunikation zwischen Spender und Empfänger herzustellen. Inspiriert war diese Idee aus seinem futuristischen Roman "Der rote Stern", einer 1908 erschienenen sozialistischen Utopie, in die auch feministische Themen einflossen. Bogdanow beschäftigte sich schon vor dem Ersten Weltkrieg mit system- und kulturtheoretischen Ansätzen im Rahmen einer "Weltorganisationsdynamik" genannten Lehre, mit denen er von ihm ausgemachten antizivilisatorischen Entwicklungen entgegenwirken wollte. In der von ihm entworfenen Gesellschaftstheorie, die heute dominante Probleme wie das der Umweltzerstörung antizipierte, verortet Harrasser "die Vision einer Gesellschaft der Immateriellen Arbeit", die sich in selbstreproduzierenden Funktionskreisläufen erzeugt und reguliert, in denen sich die Körper "zum gegenseitigen Verzehr anbieten", in denen sich Ressourcen selbst erneuern und ein Leben entsteht, "das nicht sterben will, nicht sterben kann". Er nahm seine utopische Konzeption 1928 bei einem gescheiterten Selbstversuch mit ins Grab.

Die Virtualisierung des Lebens und seine umfassende Vernetzung ist, wie so viele Fortschritte technologischer Entwicklung, wesentlich militärischen Ursprungs. So entstand die Kybernetik Norbert Wieners, das maßgebliche Strukturelement datenelektronischer Schalt- und Regelungssysteme, im Kontext der US-amerikanischen Rüstungsforschung des Zweiten Weltkriegs. Im Irakkrieg 1991 wurde ferngesteuerte Kriegsführung und ihre Übertragung ins heimische Wohnzimmer als eine Art Computerspiel inszeniert, an dem nichts spielerisch und immateriell war. Die Legende von den chirurgischen Luftschlägen, die nur böse Diktatoren und ihre Prätorianer treffen, während die unschuldige Zivilbevölkerung geschont werde, wird bis heute fortgesponnen. Der Rückzug der Piloten bemannter Kampfflugzeuge in die heimische Etappe ist jedoch vor allem der Kostenoptimierung und legalistischen Bemäntelung des Einsatzes von Distanzwaffen geschuldet. Werden angebliche Terroristen in Pakistan von Hellfire-Raketen getroffen, dann kann der an der sicheren Konsole einer Militärbasis in Nevada sitzende Soldat immer noch nicht wissen, ob er nicht eben das Leben ganzer Familien vernichtet hat.

Einsatz ferngesteuerter Distanzwaffen - Foto: © 2011 by Schattenblick

Mit kognitiven Prothesen aus sicherer Entfernung töten
Foto: © 2011 by Schattenblick

Der Essayfilmer und Drehbuchautor Harun Farocki hat 2003 im Projekt "Erkennen und verfolgen" die Bilder aus dem Golfkrieg, die von Kameras im Kopf der Projektile geschossen wurden, zur pointierten Veranschaulichung des medialen Voyeurismus mit Aufnahmen automatisierter Fertigungsstraßen in Fabrikhallen westlicher Industriestaaten konterkariert. Die Vergleichbarkeit der Bildproduktion automatisierter Apparaturen der Herstellung und Zerstörung von Gütern ist indes nicht bloß oberflächlicher Art. Während "die manuelle Arbeit und die materielle Kriegführung in arme Länder verlagert" werden und der Krieg in seiner digitalisierten Erscheinungsform wie eine morbide Gewaltdienstleistung erscheint, delegiert die "selbstgenügsame Gesellschaft immaterieller Arbeit" die Produktion ihrer Güter an jene MigrantInnen, die, aus nämlichen Kriegsgebieten flüchtend, an die Pforten der Festung Europa klopfen.

Damit leitet Harrasser auf die Abteilung "Neokoloniale Arbeit" über. "Neokolonial" sei in einem wortwörtlichen Sinne zu verstehen als "Fortsetzung des Kolonialismus mit den Mitteln der sogenannten Wissensgesellschaft. Es ist eine Geschichte der dauernden Entwendung und Vernutzung", ein Imperialismus der Beutezüge, der auch vor Kulturgütern und volkstümlichen Mythen nicht Halt macht. So tauchten in einem Horrorfilm aus dem Jahre 1932, in dem erstmals das Wort "Zombie" fiel, ausschließlich weiße Zombies auf, obwohl der Mythos dieser Untoten in Haiti wurzelt. Daß auf dieser Karibikinsel zu Beginn des 19. Jahrhunderts die erste unabhängige von Schwarzen geführte Republik ausgerufen wurde, ist in Anbetracht des heutigen Elends der haitianischen Gesellschaft nicht nur eine bittere Fußnote der Geschichte, sondern dokumentiert die ungebrochene Vorherrschaft neokolonialistischer Raubpraktiken.

Beschwörungszeremonie - Foto: © 2011 by Schattenblick

Animistischer Antikolonialismus
Foto: © 2011 by Schattenblick

Der französische Regisseur und Meister des ethnografischen Films, zudem auch Begründer des Cinéma Vérité, Jean Rouch, hat sich in seinen Filmdokumentationen mit den Umbrüchen in Afrika und Europa auseinandergesetzt und dabei wertvolle Einblicke gewonnen in das soziale Leben, die Rituale und die Rolle des Mythos in den afrikanischen Stammes- und Dorfgemeinschaften. Berühmt wurde sein Film "Les Maitres Fous" aus dem Jahre 1954 über ein Ritual der Hauka, einer damals weitverbreiteten Stammeskultur in Westafrika. In der dargestellten Zeremonie werden die Stammesmitglieder in Trance von Geistern besessen, die stellvertretend stehen für die ehemalige europäische Kolonialmacht, etwa der Generalgouverneur, der Ingenieur, der Lokführer. Aus Sicht Harrassers sei dies so zu deuten, daß "schwarze Körper von weißen Geistern besessen" würden. Auf diese Weise werde das Trauma des Kolonialismus verarbeitet. Die Referentin verwies dabei auf einen Kommentar von Rouch zum Abschluß des Films, demzufolge das Ritual eine psychologische Entlastung biete, damit die Haukas gute Arbeiter bleiben und eine erniedrigende Situation mit Dignität überstehen könnten.

Das Solo-Projekt von William Bennett "Cut hands" dagegen sei ein aktuelles Beispiel für kultische Ausdrucksformen in dem "Extreme Afro Noise" genannten Genre der Popkultur. Bennett, als Mastermind der Gruppe Whitehouse bekannt, ist seit Ende der 1970er Jahre Experte für Industrial, Noise und andere musikalische Grenzüberschreitungen. In "Cut Hands" kombiniert er Noise-Elemente mit live gespielter afrikanischer Perkussion, während im Hintegrund ein obskurer Dokumentarfilm aus Afrika läuft.

Schwarze zeigen Handtrophäen - Foto: © 2011 by Schattenblick

Tribut dem Kolonialherrn
Foto: © 2011 by Schattenblick

Die Geschichte des Namens "Cut hands" ist so blutig, wie er sich anhört. In Belgisch-Kongo wurden die abgeschnittenen Hände rebellierender und angeblich fauler Arbeiter in der Kautschukindustrie Anfang des 20. Jahrhunderts von Kolonialaufsehern gesammelt, um einen Beweis für die Tötung Aufständischer vorlegen zu können, für deren Hände Prämien ausgesetzt waren. Um die tödliche Kugel zu sparen, wurden auch Lebenden die Hände abgetrennt. Die englische Missionarin Alice Seely Harris photographierte diese Trophäen und mobilisierte so eine breite internationale Protestbewegung, die erste globale Demonstration für Menschenrechte und gegen Antikolonialismus überhaupt. Mit Ausrufung der Selbständigkeit des Kongos 1960 wurden die rigiden und repressiven Arbeitsbedingungen abgeschafft, nur um zu bewirken, daß die Ausbeutung andere Formen annahm. Für den in den 1990er Jahren einsetzenden globalen Boom der neuen Technologien liefern die kongolesischen Minen Kobalt für Mobiltelefone und Coltan für die Herstellung von Laptops, Handys, Playstations, Prothesen und hitzeempfindlicher Elektronik in Waffensystemen. Der kongolesische Bürgerkrieg während der 1990er Jahre, in dem sechs Millionen Menschen ihr Leben verloren, wurde wesentlich durch die Förderung dieser Mineralien finanziert.

Die ökonomischen Kreisläufe von Produktion und Profit, zivilem Gebrauch der Güter einerseits und kriegerischem Grauen infolge verbesserter Waffentechnologien andererseits erhöhen den Brennwert kapitalgetriebener Ressourcensicherung. Das Gefälle zwischen autonomer Lebendigkeit und dem Automatismus untoter Arbeitsbedingungen neigt sich von Tag zu Tag. "Wenn wir Playstations steuern oder im Internet den virtuellen Krieg gegen unsere Doubles führen", so Harrasser, sei das "mit einem ganz und gar materiellen, reellen Krieg anderswo verbunden". Nicht nur der Krieg um ökonomische Interessen werde in die Dritte Welt verlagert, auch der Elektromüll nimmt seinen Weg zum Anfang zurück. Der elektronische Abfall der westlichen Welt landet in Afrika, wo verarmte und erniedrigte Bevölkerungsschichten mit bloßen Händen Computer und andere Elektrogeräte recyclen.

Die Virtualität, die auf den Bildschirmen flimmert und irreale Welten jenseits des elektronischen Horizonts entwirft, übt nur deswegen eine enorme Faszination aus, weil darin der unerreichbare Fluchtpunkt körper- und schwereloser Hoffnungen auf das Format eines Tastendrucks reduziert wird. Immer sind es die Hände - dieses Symbol einer evolutionären Dynamik, in der der Zugriff auf erweiterte Lebensmöglichkeiten an der Nichtigkeit und Flüchtigkeit bioorganischer Existenz vergeht, ohne daß der Traum von der verlorengegangenen Autonomie verweht wäre -, die in den Ketten fremdverfügter Arbeit gehalten werden.

Im letzten Raum des Museums, der den flexibilisierten Erschöpfungszonen industrieller und postfordistischer Arbeitswelten gewidmet ist, hängt ein einziges Exponat. Es ist eine Seite aus Bertolt Brechts "Kriegsfibel", die "Schlafende Soldaten im Schützengraben" zeigt. In dieser Abteilung sollen später weitere Bilder von Schlafenden gezeigt und Erkenntnisse aus der Schlaf- und Traumforschung dokumentiert werden. Erschöpfung sei, so Harrasser, "viel schleichender" als der Schlaf, der im temporären Wechsel ins Leben zurückkehre. Erschöpfung indessen "geht tief rein, bis an die Knochen und in die Hirnwindungen. Sie sieht fast gleich aus wie das Idealsubjekt immaterieller Arbeit, das physisch reglos ist und dabei produktiv träumt, konsumierend produziert."

Wer verbraucht wen? Totenläuten für den Konsum

Im "Museum der untoten Arbeit" werden Fragen aufgeworfen, die die Verheißungen der postindustriellen Gesellschaft auf die Füße einer materiellen Bedingtheit stellen könnten, der sich kein noch so rückstandslos in die Datenspeicher und Biochips flüchtendes Humanum entziehen kann. Das Zukunftsbild einer durch vollautomatisierte Produktivität für die eigentlichen Interessen des Menschen freigesetzten Gesellschaft, das in den fortschrittsoptimistischen Hochzeiten des Fordismus von der Aufhebung des Erwerbszwangs nicht durch Überwindung, sondern Affirmation kapitalistischer Produktivkraftentwicklung kündete, ist längst am Widerspruch des Kapitalverhältnisses zerstoben. Die daran anknüpfende Vorstellung einer Optimierung und Virtualisierung, mit der sich der Tod perspektivisch überwinden ließe, abstrahiert aus gutem Grund von den gesellschaftlichen Voraussetzungen dieser Monadendystopie.

Man möchte die Aufmerksamkeit nicht auf die blutigen Voraussetzungen der datenelektronisch verwalteten Komfortzonen lenken. Sie treten überall dort hervor, wo die an der Hardware des Immateriellen vergehenden Ressourcen neue Formen der Versklavung schaffen, und das nicht nur, weil der Ausbau komplexer Strukturen der Administration, Versorgung und Sicherheit menschlicher Arbeit aller Art bedarf. Viel mehr ist der kalten Umlastungslogik der Kapitalakkumulation ein Verbrauchsfaktor immanent, der im Perpetuum mobile kybernetischer Selbstregulation nur deshalb nicht auftaucht, weil es sich dabei um die Idealisierung eines stets von außen zu schließenden und damit Mehraufwand konstituierenden Systems handelt.

Ein aus sich selbst generierter Regelkreis kann kein außen kennen, das erst mit dem Blick über den Horizont eigener Bedingtheit hinaus und der Reprojektion auf diese zum Strukturelement menschlicher Erkenntnis wird. Die unterstellte Selbstgenügsamkeit kybernetischer Prozesse ist, um im Bild zu bleiben, in der endlosen Verschaltung durch keinen Sinn zu erfüllender, weil von keiner übergeordneten Instanz verfügter und evaluierter Schaltvorgänge untot. Der Mensch hingegen lebt von der Utopie des Nichtexistenten, von der Negation all dessen, was ihn auf einen bloßen Zehr- und Nährwert fremdverfügter Produktivität reduzieren will. Die soziale Hinwendung zum andern, die allen dagegensprechenden Gründen seiner Schwäche, Ohnmacht und Aussichtslosigkeit trotzt, hat im geschlossenen Universum totaler Determiniertheit keinen Platz.

Wo das Überleben im Wortsinne zu Lasten des anderen Menschen geht, ist er dem industriell und biotechnologisch optimierten Übermenschen Werkstoff und Werkzeug serieller Prozeßverläufe der Produktion und Reproduktion. Die evolutionäre Dynamik, die das Feuer des nicht nur die Beute, sondern den Menschen selbst verzehrenden Stoffwechsels in Maschinenparks einhegt, um die molekularbiologisch induzierte Synthetisierung des menschlichen Geistes anzutreiben, bringt Homunkuli einer durch noch so komplexe synaptische Rekonfigurationen nicht zu überwindenden Vergeblichkeit hervor. So flieht der Mensch die Auseinandersetzung mit seinen existentiellen Problemen als nicht nur von der Last des prothetisch sublimierten Naturzwangs niedergedrückter, sondern in Kompensation bioorganischer Flüchtigkeit in Xter Potenz scheiternder Untoter. Vom Leben weiß er, weil er von ihm gekostet, aber seinen Verbrauch allen Entwicklungsmöglichkeiten vorgezogen hat, die die Individuation des stets den andern für die eigene Misere bezichtigenden, Gleichheit ausschließlich als vorteilsorientierte Vergleichbarkeit begreifenden und damit fortwährend Verluste bilanzierenden Menschen verworfen hätten.

Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)
BERICHT/006: "Die Untoten" - Roboter - reprojektiver Entwurf menschlichen Scheiterns (SB)
BERICHT/007: "Die Untoten" - Wachkoma - ein Film erzählt (SB)
BERICHT/008: "Die Untoten" - Altern eine Krankheit? (SB)
BERICHT/009: "Die Untoten" - Mark Ravenhill ... im Limbus medizinischer Unwägbarkeit (SB)
BERICHT/010: "Die Untoten" - Systemvollendet - Schlachtvieh Mensch (SB)
BERICHT/011: "Die Untoten" - Verrechtlichung der Sterbehilfe Einfallstor für genozidale Lösungen? (SB)
BERICHT/012: "Die Untoten" - Palliativmedizin zwischen Patientenautonomie und Sterbehilfe (SB)
BERICHT/013: "Die Untoten" - Hirntodlüge aus Pflegesicht (SB)
BERICHT/014: "Die Untoten" - Her- und Hinkünfte des deregulierten Todes (SB)
BERICHT/015: "Die Untoten" - Vorgriff auf den eigenen Tod in künstlerischer Inszenierung (SB)
BERICHT/016: "Die Untoten" - Sandy Stone ... aus einem bewegten Leben (SB)
BERICHT/017: "Die Untoten" - Das zweite Gesicht des Schönheitskultes (SB)
BERICHT/018: "Die Untoten" - Kapitalgespenster - Zur Ästhetik fehlender Theorie (SB)
INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)
INTERVIEW/002: "Die Untoten" - Petra Gehring, Philosophin (SB)
INTERVIEW/003: "Die Untoten" - Thomas Macho, Kulturwissenschaftler (SB)
INTERVIEW/004: "Die Untoten" - Roberto Rotondo, Diplom-Psychologe und ehemaliger Krankenpfleger (SB)
INTERVIEW/005: "Die Untoten" - Sander L. Gilman zu Fragen der kosmetischen Chirurgie (SB)
INTERVIEW/006: "Die Untoten" - Georg Fülberth, Politikwissenschaftler (SB)
INTERVIEW/007: "Die Untoten" - Sandy Stone, Performancekünstlerin und Wissenschaftlerin (SB)

Rostige Fabrikanlage auf Kampnagel - Foto: © 2011 by Schattenblick

Postfordismus gegenständlich gemacht
Foto: © 2011 by Schattenblick

10. Juni 2011