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INTERVIEW/003: "Die Untoten" - Thomas Macho, Kulturwissenschaftler (SB)


Interview am 13. Mai 2011 in Hamburg

Thomas Macho - Foto: © 2011 by Schattenblick

Thomas Macho
Foto: © 2011 by Schattenblick

Der Philosoph, Musikwissenschaftler und Pädagoge Thomas Macho ist Professor für Kulturgeschichte am Institut für Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin. Er beschäftigt sich in einer Vielzahl von Publikationen mit Metaphern und Bildern des Todes sowie mit der historischen und kulturellen Wandelbarkeit des Umgangs mit dem Tod. Insbesondere forscht er zur aktuellen, neuen Sichtbarkeit des Todes, zu Unterwelten, zu Totenmasken und zu Gustav Theodor Fechners "Büchlein vom Leben nach dem Tode".

Auf dem Kongreß "Die Untoten" referierte der Kulturwissenschaftler zum Thema "Mein Tod im Bild: Kritik des Suizidalismus". In einer zweiten Veranstaltung am selben Tag sprach er mit der Fachärztin Maja Falckenberg über Palliativmedizin. Im Anschluß nahm der Schattenblick Gelegenheit wahr, ein Gespräch mit Thomas Macho zu führen.

Schattenblick: Wir hatten eben über den Menschen in seinem letzten Lebensstadium gesprochen und dabei auch die Frage seiner Verwertung aufgeworfen. Kann man denn überhaupt sagen, daß in unserer Gesellschaft ein sterbender Mensch noch die gleichen Rechte und die gleiche Lebensberechtigung wie ein Mensch, der im Arbeitsprozeß steht, hat?

Thomas Macho: Das würde ich unbedingt aufrechterhalten wollen. Ich will in keiner Gesellschaft leben, die den sterbenden Menschen ausschließt oder wie Müll behandelt. Das wäre eine grauenvolle Vorstellung von einer ganz inhumanen - letzten Endes auch gegenüber den Arbeitenden, gegenüber den Lebenden - und feindlichen Gesellschaft.

SB: Gegenwärtig bricht sich die Tendenz Bahn, die Frage, wie ein Mensch sterben solle oder dürfe, mit immer gravierenderen Einschränkungen zu versehen.

TM: Genau. Sie erfährt einerseits Einschränkungen und andererseits Regelungen, wobei es hier ganz heikle Grenzbereiche gibt. Es ist ja so, daß in der Schweiz oder in den Niederlanden die aktive Sterbehilfe, wenn man so will, mit großem Erfolg praktiziert wird. Inzwischen mehren sich jedoch sehr kritische Stimmen, da mittlerweile klar ist, daß der Mißbrauch, der da getrieben werden kann, enorm hoch ist. Das gilt insbesondere dort, wo für den assistierten Suizid erhebliche Summen bezahlt werden. In der Bundesrepublik ist das nicht so, und ich bin sehr froh, daß es nicht so ist. Es ist komischerweise vermutlich nicht etwa so, weil wir ein christlicherer Staat als die Schweiz oder die Niederlande wären - das kann man durchaus in Frage stellen -, sondern weil wir ganz spezifische historische Erfahrungen damit gemacht haben, was es für Implikationen hat, wenn man anfängt, zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben zu unterscheiden, und was eigentlich passiert, wenn man Menschen die Mündigkeit nimmt, über ihre jeweilige Lebensbefindlichkeit mitzuentscheiden. So hat man beispielsweise im Nationalsozialismus gesagt, geistig Behinderte wissen gar nicht, wie schlecht es ihnen geht, und daraus ein Recht abgeleitet, diese Personen in den großen Euthanasieprojekten umzubringen. Das will ich nicht mehr erleben, das sind grausige Erinnerungen. Deshalb ist meines Erachtens völlig zu Recht die Diskussion in Deutschland gegenüber diesen möglichen Entwicklungen besonders skeptisch. Hamburg ist ja ein gutes Beispiel, da es hier einen Justizsenator gab, der vor ein paar Jahren ganz stolz seine Suizidmaschine vorgeführt hat. Er hat dann dieses Projekt wieder aufgegeben, weil der Rückhalt in der Bevölkerung offenbar nicht so groß war, wie er erhofft hatte, und er sich mit dem Vorwurf konfrontiert sah, daß dabei aus dem Leid anderer finanzieller Profit gezogen wird. Diese Vermutung war nicht zu widerlegen.

SB: Muß man nicht befürchten, daß aus dem europäischen Ausland Druck einwirkt, dem sich auch Deutschland früher oder später nicht mehr entziehen wird?

TM: Ich kann mir im Moment schwer vorstellen, daß die EU Sterbehilferegelungen verabschieden wird, die in etwa das gestatten, was in der Schweiz oder in den Niederlanden möglich ist. Das kommt mir eher unwahrscheinlich vor. Das wird man den nationalen Parlamenten und Gesetzgebern dann doch vorbehalten. Aber was würde passieren, wenn das geschieht? Nun ja, wir hätten dann endlich mal eine Diskussion in der EU, in der es nicht nur um die Stabilität des Euro ginge, sondern zur Abwechslung einige existentielle Diskussionen, und das wäre vielleicht auch gar nicht so schlecht. Denn es ist natürlich absurd, daß wir wunderbare Atomkraftausstiegsdiskussionen führen, wohl wissend, daß die schwächsten Atommeiler in der Europäischen Union ohnehin nicht in Deutschland stehen, bzw. daß wir hier relativ leicht einen Ausstieg erreichen können, in Tschechien kaum und in anderen Mitgliedsstaaten der EU ebensowenig. Wenn wir eine Diskussion erreichen würden, in der das auch über die nationalen Grenzen und Erfahrungen hinweg erörtert werden könnte, ganz egal, ob es um Sterbehilfe oder Atomkraft geht, dann wäre das auf jeden Fall gut und zu begrüßen. Übergreifende transnationale Regelungen kann ich mir dennoch hier noch lange nicht vorstellen.

SB: Man spricht von Selbstbestimmung auch am Lebensende. Kann es in einer Gesellschaft, in der man ein Leben lang sehr wenig selbst zu bestimmen hat, überhaupt am Ende so etwas wie Selbstbestimmung geben?

TM: Das ist eine extrem gute und richtige Frage, finde ich. Weil sie nämlich voraussetzt, daß man so etwas wie Selbstbestimmung erst lernen muß, daß man das nicht selbstverständlich kann. Daher gilt es, bestimmte Implikationen der Selbstbestimmung zu prüfen. So wenig ich sagen kann, daß jeder Mensch in jeder Situation über seine möglichen Vergangenheiten und Zukünfte frei entscheiden kann, so kann ich auch den Sinn von Patientenverfügungen mitunter in Frage stellen, wenn damit verbunden ist, daß sie Situationen vorwegnehmen, die ich mir gar nicht vorstellen kann und in die ich mich gar nicht hineinversetzen kann. Insofern würde ich das - positiv umformuliert - als den Auftrag zu mehr Selbstbestimmung verstehen. Dann könnte man vermutlich auch in Hinblick auf das Lebensende besser planen und entscheiden.

SB: Wenn man in jungen Jahren nach dem Lebensende gefragt wird, wird man wahrscheinlich völlig andere Antworten als im Alter geben und vielleicht sagen, ich möchte gar nicht so alt und gebrechlich werden.

TM: Genau, das wäre so, wie es die japanische Künstlerin Michiko Nitta aufgegriffen hat. Sie hat als Kunstprojekt die "Extreme Green Guerilla" - so hieß das - ins Leben gerufen, ich weiß nicht, ob sie es ernst gemeint hatte oder als ironische Pointe. Zu den ersten Verpflichtungen der Mitglieder dieser "Extreme Green Guerilla" gehörte die Festlegung, aus ökologischen Gründen wohlgemerkt, nicht älter als vierzig Jahre zu werden. Das hat natürlich in der Radikalität dieser Position etwas Faszinierendes, auf der anderen Seite aber auch etwas sehr Unheimliches, weil es in gewissem Umfang die Suizidfaszination, die es in unserer Gesellschaft ohnehin klammheimlich gibt, noch einmal festschreibt.

SB: Könnte denn, weil wir gerade davon sprechen, im Zusammenhang einer grünen Bewegung oder des Einflusses der Grünen als Partei so etwas wie eine weitreichendere Verfügung über Menschen im Namen ökologischer Erwägungen Raum greifen?

TM: Wenn es dazu käme, würde ich meine große Sympathie, die ich für die Grünen hege, arg in Frage stellen. Das war's dann wohl mit meiner Bereitschaft, die Grünen zu wählen. Das wäre natürlich ganz katastrophal. Ich bin ja jemand, der Zeit seines Lebens in Kärnten verbracht hat, in diesem sehr absonderlichen - ja inzwischen wirklich sehr absonderlichen - Bundesland Österreichs, und mir war immer klar, daß es ein Problem ist, wenn beispielsweise Umfragen unter der Bevölkerung durchgeführt wurden, was sie für die wichtigsten Politthemen der nächsten Jahre hält. An erster Stelle rangierte dann - was weiß ich - "Ausländer raus" und an zweiter Stelle "eine saubere Umwelt". Ich habe immer gedacht, daß das im Grunde zwei Forderungen sind, die wunderbar zusammenpassen. Man hat sozusagen dieses Gefühl von Reinigung, das eben auch durchaus mit ökologischem Bewußtsein einhergeht und schnell mal in eine politisch ganz fatale Richtung losgehen kann. Dann entsteht das, was man manchmal auch schon als das Avocadosyndrom beschrieben hat: außen grün und innen braun. Dahin möchte ich keinesfalls kommen.

SB: Wir hatten vorhin auch die Kostenfrage thematisiert. Man spricht von demographischer Entwicklung und fragt "ja, aber wer soll das bezahlen?". Kann man diese Rechnung überhaupt aufstellen, die ich sehr problematisch finde?

TM: Ich auch, ja, ich auch. Man geht permanent von einem Schuldzusammenhang aus und suggeriert, daß wir sozusagen eine Form der Schuldsklaverei haben, in der die Jungen für die Alten arbeiten. Da muß man zunächst daran erinnern, daß es das in der Tat natürlich einmal gab. Das waren die Gesellschaften, die sehr viele Kinder brauchten, damit ihre Alten überhaupt noch leben konnten. Aber aus dieser Zeit sind wir lange heraus. In der Regel arbeiten die Menschen doch daran, einen besseren und höheren Lebensstandard als ihre Vorgänger zu erreichen und aufrechtzuerhalten, und sie sind nicht die Schuldsklaven der Elterngeneration. Da wird manchmal ein Bild hineinprojiziert wie der "Aufstand der Jungen", das ich für hochproblematisch halte. Ich bin zwar kein so guter Volkswirt, daß ich die Details der Rentenrechnung kritisieren könnte, aber ich würde Ihren Vorbehalt durchaus teilen, daß man ins Detail gehen müßte und feststellen würde, daß vieles in ein ganz falsches Licht gerückt wird.

SB: Sie hatten in Ihrem Vortrag ausführlich über die kulturellen Implikationen des Sterbens und des Umgangs mit dem Tod gesprochen. Verhielt es sich in dieser Hinsicht in anderen Kulturen genauso wie im europäischen Kulturkreis?

TM: Nein, es verhielt sich in fremden Kulturen in der Regel wesentlich anders. Dazu gehört erstens, daß in den nichteuropäischen Kulturen der unvorbereitete und plötzliche Tod als der wirklich schlimme Tod galt. Zweitens, daß man eben doch ein sehr umfangreiches, wenn man so will, Regulativ von Zeremonienritualen, Praktiken, Übungen und dergleichen kannte, um dieses Ereignis zu zähmen, weshalb Philippe Ariès, der große französische Historiker, gesagt hat: "Die anderen Kulturen oder auch das europäische Mittelalter hatten es mit Bemühungen zu tun, den Tod zu zähmen. Wir sind dabei, ihn zu verwildern." Das, würde ich sagen, ist ein sehr schönes Bild: "Der verwilderte Tod" als der Tod in der Moderne.

SB: Gab es in der europäischen Kultur, wenn man die historische Entwicklung betrachtet, im Umgang mit Tod und Sterben eine Veränderung?

TM: Ja, es gab mit Sicherheit sehr viele Veränderungen, die sich im wesentlichen im 19. Jahrhundert vollzogen, in der Zeit also, in der der große Aufschwung im Grunde erst begann. Die Lebenserwartung nahm seither kontinuierlich zu. Und selbst gravierende Einbrüche wie durch die Weltkriege oder die spanische Grippe von 1918 haben daran überhaupt nichts geändert, was mich am meisten verblüfft. Wenn man sich die Statistik der Lebenserwartung anschaut, dann steigt diese kontinuierlich an. Da findet man keine Ausbuchtungen oder Spuren von so dramatischen Ereignissen wie den Weltkriegen oder anderen tiefgreifenden Zäsuren. Das ist zunächst einmal festzuhalten und das hat natürlich unter anderem auch dazu geführt, daß es eine Verschiebung der Heilserwartung von Religion zu Medizin gegeben hat, was ja in gewissen Grenzen durchaus zu bejahen ist. Allerdings eben auch nur in gewissen Grenzen, denn was daraus entstehen kann, ist eine derartige Überfrachtung der Medizin mit Erwartungen, daß sie zum Schluß gar nicht mehr handlungsfähig sein kann und Dinge passieren, die niemand für wünschenswert halten kann.

SB: Ich möchte noch ein anderes Thema ansprechen. Sie haben ja auch zur Folter gearbeitet. Hängt das für Sie unmittelbar mit den von Ihnen untersuchten Themen Tod und Sterben zusammen?

TM: In Grenzen schon. Zur Folter habe ich eine sehr klare Position. Ich finde es auch aus politischen Gründen außerordentlich wichtig, daß man das absolute Folterverbot, das so mühsam erkämpft wurde, nicht aufgibt. Jetzt werden Stimmen laut, die einem erklären, man habe letztendlich den Aufenthaltsort von Osama bin Laden nur herausbekommen, weil man bestimmte Mitglieder der Al-Kaida-Führung in Guantánamo des Waterboardings unterzogen hat. Das finde ich abscheulich, muß ich ganz ehrlich sagen. Ich finde das abscheulich und lehne so eine Perspektive grundsätzlich ab.

SB: Mit der Folter wird ja nicht zuletzt eine Drohkulisse nicht nur gegenüber den Menschen, die unmittelbar gefangen sind und gefoltert werden, sondern auch gegenüber allen anderen aufgebaut.

TM: Ja. Damit geht einher, daß der Staat sagt, "ihr wißt noch gar nicht, was wir alles machen können, wenn wir nur wollen". So kann es nicht gehen.

SB: Ich möchte Ihnen abschließend eine persönliche Frage stellen. Wie ist es dazu gekommen, daß Sie sich so intensiv mit dem Thema Tod auseinandersetzen?

TM: Das war wie bei den meisten Menschen persönliche Betroffenheit. Der frühe Tod meiner eigenen Eltern, zum Teil auch aufgrund ärztlicher Fehldiagnose, und ja, ich hatte daher gute Gründe, mich damit intensiver auseinanderzusetzen.

SB: Herr Macho, ich bedanke mich für das Gespräch.

Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)
BERICHT/006: "Die Untoten" - Roboter - reprojektiver Entwurf menschlichen Scheiterns (SB)
BERICHT/007: "Die Untoten" - Wachkoma - ein Film erzählt (SB)
BERICHT/008: "Die Untoten" - Altern eine Krankheit? (SB)
BERICHT/009: "Die Untoten" - Mark Ravenhill ... im Limbus medizinischer Unwägbarkeit (SB)
BERICHT/010: "Die Untoten" - Systemvollendet - Schlachtvieh Mensch (SB)
BERICHT/011: "Die Untoten" - Verrechtlichung der Sterbehilfe Einfallstor für genozidale Lösungen? (SB)
BERICHT/012: "Die Untoten" - Palliativmedizin zwischen Patientenautonomie und Sterbehilfe (SB) BERICHT/013: "Die Untoten" - Hirntodlüge aus Pflegesicht (SB)
INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)
INTERVIEW/002: "Die Untoten" - Petra Gehring, Philosophin (SB)

29. Mai 2011