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INTERVIEW/012: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften - Gelehrte, Forscher, Brückenbauer, Prof. Günter Stock im Gespräch (SB)


Fragen zu den Forschungslandschaften in Deutschland am Beispiel der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

Telefoninterview mit Prof. Dr. Dr. h.c. Günter Stock am 28. März 2014



Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) gehört heute zu den acht großen deutschen Wissenschaftsakademien, die in der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften zusammengeschlossen sind. Abgesehen von der erst 2004 gegründeten Akademie der Wissenschaften in Hamburg ist die offiziell 1992 durch den Staatsvertrag zwischen den Bundesländern Berlin und Brandenburg im Zuge der Wiedervereinigung gegründete Wissenschaftsakademie die namentlich jüngste im Bunde. Tatsächlich schaut sie jedoch auf eine traditionell bewegte Vergangenheit zurück, die im Jahr 1700 mit der Gründung der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften als 'Kurfürstlich-Brandenburgische Societät der Wissenschaften' unter maßgeblicher Beteiligung Gottfried Wilhelm Leibniz gemeinsam mit dem Theologen Daniel Ernst Jablonski ihren Anfang nahm.

Foto: 2009 by Beek100 (Own work) freigegeben via Wikimedia als CC-BY-SA-3.0 Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) oder GFDL

Ehemaliges Hauptgebäude der Königlichen Seehandlung/Preußischen Staatsbank an der Ecke von Jägerstraße (links) und Markgrafenstraße in Berlin-Mitte, nun Sitz der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, hier gesehen vom Gendarmenmarkt.
Foto: 2009 by Beek100 (Own work) freigegeben via Wikimedia als CC-BY-SA-3.0 Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) oder GFDL

Im Mittelpunkt aller Akademien steht die Vereinigung hochrangiger Gelehrter, die sich regelmäßig zu wissenschaftlichem Austausch zusammenfinden. Damit erinnern sie heute noch an die erste Platonische Akademie in Athen, die sich als eine Studien- und Lebensgemeinschaft verstand, deren Name zu Ehren des griechischen Helden Akademos, der in dem von Platon zum Zwecke der Versammlung erworbenen Olivenhain begraben liegen sollte, geprägt worden war. Die Geschichte der BBAW hat allein 78 Nobelpreisträger hervorgebracht. Heute ist sie mit rund 200 gewählten Mitgliedern eine Fach- und Ländergrenzen überschreitende Wissenschaftlervereinigung, die für den Wissenschaftsstandort in der Hauptstadtregion verantwortlich ist. In inter- und transdisziplinären Arbeitsgruppen, einer in der deutschen Akademienlandschaft innovativen Arbeitsform, befassen sich die Akademiemitglieder mit Zukunftsfragen unserer Gesellschaft sowie mit Arbeiten zur Erschließung des kulturellen Erbes. International ist sie vertraglich mit 20 Akademien auf vier Kontinenten vernetzt. Sie hat mit der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina die Junge Akademie gegründet, eine auch international bislang singuläre Form der Förderung des exzellenten Nachwuchses. Seit 2008 nimmt die BBAW unter Leitung der Leopoldina mit Acatech (Deutsche Akademie der Technikwissenschaften) sowie den in der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften zusammengeschlossenen Akademien, insbesondere im Bereich der Politikberatung, Aufgaben der Nationalakademie wahr.

Unter dem Arbeitstitel "Fragen zu den Forschungslandschaften in Deutschland" am Beispiel der drei Forschungsdachorganisationen, die in der Tradition des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz stehen, will der Schattenblick auch die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften und ihren Beitrag zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme vorstellen. Professor Dr. Dr. h.c. Günter Stock, der seit 2006 amtierende Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, deren Mitglied er bereits seit 1995 ist, war bereit, dem Schattenblick im Verlauf eines Telefoninterviews einige Fragen über ihre heutige Positionierung innerhalb der deutschen Forschungslandschaft - in Abgrenzung oder Ergänzung zu anderen Einrichtungen - zu beantworten.

Foto: © by Noel Tovia Matoff

Prof. Günter Stock
Foto: © by Noel Tovia Matoff

Schattenblick (SB): Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften beruft sich auf eine mehr als 300 Jahre zurückreichende Akademie-Geschichte, zurückgehend auf Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716). Wieviel Leibniz steckt heute noch in dieser Akademie?

Professor Günter Stock (GS): Leibniz hatte damals die Idee, dass es, anders als bei den vorangegangenen Akademiegründungen, die vorwiegend naturwissenschaftlicher Art waren - wie die Royal-Academy in England, die Leopoldina [1] hier in Deutschland oder auch in Paris -, nicht genug sei, nur die Naturwissenschaften zusammenzufassen. Seine Idee war, alle Disziplinen, also Interdisziplinarität und Problemorientierung, Theorie und Praxis zusammenzuführen. Diese Ideen sind gerade heute aktueller denn je, weil wir ja merken, dass rein technologische Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft allein nicht ausreichen. Wir müssen vielmehr versuchen, unter Beteiligung der Sozialwissenschaften, der Juristen und Philosophen, der Geisteswissenschaften, die großen Herausforderungen in Angriff zu nehmen. Interdisziplinarität und "theoria cum praxi", Theorie mit Praxis, zu verbinden, ist aus meiner Sicht aktueller denn je.

SB: Würden Sie sagen, dass das Universalgelehrtentum heute praktisch der Vernetzung mit anderen Forschungsinstituten gleichzusetzen ist?

GS: Das ist die moderne Antwort auf die enorme disziplinäre Tiefe, die wir erreicht haben und brauchen. Es geht alles nicht mehr an einem Tisch oder in einem Kopf, sondern wir brauchen dazu das Zusammenwirken, die echte Kooperation von mehr oder weniger stark miteinander verbundenen Kreisen und Menschen. Moderne Teamarbeit und Kooperation sind die zeitgemäße Antwort, aufgrund des enormen Wissens, das wir in den einzelnen Disziplinen haben, trotzdem problemorientiert zu Lösungen zu kommen.

SB: Was bedeutet das für den Menschen, der forscht? Was sind die Vor- und Nachteile dieser modernen Form der vernetzten Forschung?

GS: Zunächst einmal ist es eine große Herausforderung. Man braucht disziplinäre Exzellenz, die man natürlich herstellen muss. Man muss sich gleichzeitig öffnen für andere: für deren Sprache, für andere Methoden, die man zumindest im Ansatz irgendwo nachvollziehen, zum Teil auch anwenden können muss. Und es sollte die Bereitschaft vorhanden sein, auf andere zu hören, auf andere Meinungen, auf diejenigen, die mit einer anderen Perspektive herangehen, sie regelrecht willkommen heißen, neugierig darauf zu sein, was der andere sagt, was der andere denkt und tut und dieses dann in seine Welt, in sein eigenes Bild einzubeziehen. Das rein lineare nach vorwärts und in die Tiefe Gehen allein wird nicht dazu führen, dass es zu echten Problemlösungen kommt, obwohl wir beides nebeneinander brauchen, sowohl als auch. Das kann manches Mal in derselben Persönlichkeit stattfinden, manches Mal sind Persönlichkeiten nicht so sehr Willens und in der Lage, sich solchen Netzen zu öffnen. Dann forschen sie eben individuell zu ihrem Thema in ihrem ganz eigenen Team weiter. Also wir haben sehr viel mehr 'sowohl-als-auch' und nicht dieses radikale 'Ich kann 's nur so'.

SB: Wer bestimmt den Kurs der Akademie? Nach welchen Kriterien eröffnet sie neue Forschungsfelder?

GS: Die Akademie ist wirklich autonom. In keinem der Gremien sitzt die Politik, um das gleich von vornherein zu sagen. Das Zentrum der Entscheidungen liegt bei den Wissenschaftlern in den Klassen. Wir haben fünf Klassen, mit denen alle Disziplinen abgebildet sind, und aus den Klassen wird ein sogenannter Rat gebildet, bestehend aus ungefähr 40 Persönlichkeiten, die dann letztlich den Kurs der Akademie gemeinsam mit dem Präsidenten entscheiden. Die Entscheidung, in welche Projekte unsere Forschungsgelder fließen, wird sehr stark vom Wunsch der Arbeitsgruppen bestimmt - von ihren Tätigkeiten und Aktivitäten -, die, zunächst individuell in Klassen zusammengefasst, eine gemeinsame interdisziplinäre Diskussion darüber führen.

SB: Welchen Stellenwert hat die Grundlagenforschung in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften?

GS: Ich sollte vielleicht noch folgendes dazu sagen: Als die preußischen Reformen kamen und die Berliner Universität von Humboldt gegründet wurde, sind sämtliche naturwissenschaftlichen Forschungsgegenstände und auch Laboratorien an die Humboldt-Universität übertragen worden. Man hatte kein Geld und konzentrierte dort die naturwissenschaftlichen Sammlungen. Damit war die Akademie letztlich auf geisteswissenschaftliche Themen zurückgeworfen.

Theodor Mommsen [2] und Barthold Georg Niebuhr [3] haben dann angefangen, das kulturelle Erbe zu dokumentieren, zu erforschen und neu zu interpretieren. Auf diese Weise ist die Aufgabe entstanden, Editionen, Wörterbücher und Ähnliches zu machen. Das ist Grundlagenforschung pur, weil wir mit dieser Art von Forschung, finanziert durch das deutsche Akademienprogramm von Bund und Ländern, andere überhaupt in die Lage versetzen, aufgrund gesicherter Quellen weitergehende Forschungsarbeiten zu erstellen. Das heisst, wir sind wirklich grundlagenforschungsorientiert, aber primär in den Geisteswissenschaften, ein ganz klein wenig in den Sozialwissenschaften.

Anwendungsorientierte Forschung im klassischen Sinn machen wir nicht. Aber wir haben in den 90er Jahren interdisziplinäre Arbeitsgruppen eingerichtet, die wir eigentlich auch modellhaft erfunden haben, auch für die anderen Akademien. Gemeinsam mit der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina haben wir interdisziplinäre Arbeitsgruppen eingerichtet, bei denen Fachvertretungen zusammenkommen und aufgrund des vorhandenen Materials in der Wissenschaft versuchen, Empfehlungen zu geben oder Gesellschaftsberatung, im Einzelfall auch Politikberatung zu machen. Das heißt also, wir machen Beratung, ja, aber keine Primärforschung. Zum Beispiel beim wichtigen Thema Klima, bei den Fragen zu Ausbildung und Bildung, beim Gesundheitssystem führen wir Disziplinen zusammen und geben Empfehlungen. Forschung selbst findet dann woanders statt.

SB: Sie haben lange Zeit selbst für die Medizinforschung gearbeitet. Haben Sie dort auch angewandte Forschung betrieben?

GS: Ja, ja, natürlich. In der Medizin ist die Frage der Grundlagen- und angewandten Forschung ohnehin relativ schwierig. Bis zu meinem 39. Lebensjahr war ich an der Universität und habe dort medizinische Grundlagenforschung gemacht. Ich habe mich natürlich dort auch für bestimmte Erkrankungen interessiert, die den Menschen berühren, aber mit vorklinischen Methoden. Das habe ich dann später weitergeführt, aber dann ganz gezielt mit dem Wunsch, neue Medikamente zu definieren und zu entwickeln. Doch selbst dabei geht es manches Mal darum, ein Gen zu identifizieren oder unbekannte Proteine als Zielstrukturen für neue Wirkstoffe zu finden. Das heißt, in diesem Bereich der Pharmaforschung ist ein Wechsel zwischen Grundlagenforschung und Anwendungsforschung Normalität und das klassische Modell der Forschung funktioniert so nicht: erst Grundlagenforschung, dann Anwendung und dann der Markt. Wir haben heute ein sehr interaktives Spiel zwischen dem, was wir klassischerweise Grundlagenforschung und dem, was wir Anwendung nennen. Aus der Anwendungsforschung kommen interessante Fragen für die Grundlagenforschung, und manches Mal gelingt es, aus der Grundlagenforschung relativ schnell in die Anwendungsforschung zu gelangen.

SB: Kommen Sie als Präsident einer großen deutschen Forschungsakademie überhaupt dazu, eigene Forschungen zu betreiben, oder werden Sie vollständig von Verwaltungsaufgaben vereinnahmt?

GS: Dieser Gegensatz zwischen selbst forschen und verwalten ist ja auch wiederum ein künstlicher. Ich habe kein Labor mehr und lege nicht persönlich Hand an bestimmte experimentelle Fragen, das ist richtig. Aber der wissenschaftliche Diskurs mit Kollegen, mit Mitarbeitern in der Akademie, ist ja auch eine wissenschaftliche Tätigkeit. Das heisst also, ich erstelle keine Messreihen, sondern, das ist sicherlich eine meiner Hauptaufgaben, ich versuche Möglichkeiten zu optimieren, damit meine Mitarbeiter beste Arbeitsbedingungen finden. Das ist meine primäre Aufgabe, aber natürlich geht es auch darum, im Diskurs zu bestimmten Fragen meine Meinung einzubringen. Ich glaube, das ist eine der schönsten Tätigkeiten: mit der aktiven Forschung im Dialog zu stehen und gleichzeitig dieser Forschung die Möglichkeiten so gut es geht zu optimieren sowie dafür zu sorgen, dass auch national und europäisch die Forschungsbedingungen insgesamt gut sind, gut bleiben und besser werden.

SB: Auch andere deutsche Wissenschaftsrichtungen sehen sich in der Tradition von Leibniz, beispielsweise die Leibniz-Gemeinschaft und die Leibniz-Sozietät. Arbeitet Ihre Akademie mit diesen Institutionen in irgendeiner Form zusammen?

GS: Unsere Mitglieder kommen ja genau aus diesen unterschiedlichen Institutionen, von der Max-Planck-Gesellschaft, von der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren, den Leibniz-Instituten und den Universitäten. Das heißt, wir haben über die Mitglieder eine ganz enge Vernetzung mit den Wissenschaftsorganisationen. Deswegen sind wir letztlich grundsätzlich integrativ - auch schon über die Institutionen hinweg. Und wir machen Projekte, die von Professoren geleitet werden, die entweder an der Universität oder zum Beispiel bei der Max-Planck-Gesellschaft oder woanders sind, und die unmittelbaren Projektmitarbeiter haben bei der Akademie eine Anstellung. Das heißt, wir haben über die Personenidentität eine ganz enge Verknüpfung. Daneben gibt es auch sehr konkrete Kooperationen, zum Beispiel, was die deutsche Sprache betrifft, mit dem Max-Planck-Institut, mit dem wir eine echte, finanziell ausgestattete Kooperation haben. Was Politikberatung anlangt, arbeiten wir ganz eng mit der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina zusammen und auch die Akademien untereinander kooperieren intensiv. Ja, wir sind ein vernetztes, kooperatives System.

SB: Der Wissenschaft wird manchmal der Vorwurf gemacht, sie habe sich einen Elfenbeinturm geschaffen. Umgekehrt beklagen Wissenschaftler schon mal, dass ihre Erkenntnisse von der übrigen Gesellschaft nicht ernst genug genommen werden. Könnten Sie vielleicht je ein Beispiel nennen, a) wo Sie sich für Forschungsergebnisse Ihrer Akademie eine bessere Umsetzung gewünscht hätten und b) wo Sie die Umsetzung für besonders gelungen betrachten?

GS: Ich fange mal etwas anders an. Der "Elfenbeinturm" ist eine allseits gepflegte Redewendung. Man muss natürlich sagen, dass die Wissenschaft mit ihrer eigenen Sprache und mit der hohen Spezialisierung, die sie heute erreicht hat, nicht ohne weiteres kommunizierbar ist. Daraus erwächst der Zwang und die Verpflichtung für sie, sich um neue Kommunikationsmöglichkeiten zu kümmern und auf die Öffentlichkeit zuzugehen. Wir müssen die Öffentlichkeit stark mitnehmen. Da hat sich in den letzten zwanzig, dreißig Jahren sehr viel getan. Die Wissenschaftler sind grundsätzlich in großer Mehrheit bereit - und auch fähig -, mit der Öffentlichkeit adäquat zu kommunizieren. Der Wissenschaftsjournalismus ist für uns eine ganz wichtige Brücke, und es ist deswegen ein bisschen traurig, dass er es zur Zeit bei den Zeitungen so schwer hat, weil die Wissenschaftsredaktionen verkleinert wurden. Die Bereitschaft der breiten Öffentlichkeit, sich für Wissenschaft wirklich zu interessieren, ist durchaus da. Wir machen pro Woche in meiner Akademie mindestens drei öffentliche Abende mit ungefähr 80 bis 200 Personen, bei denen wir über Wissenschaft diskutieren. Das heißt, es gibt ein beiderseitiges Interesse, das deutlich zugenommen hat. Das ist die Grundlage. Es gibt natürlich Punkte, da ist es der Wissenschaft zum Beispiel im Bereich der grünen Gentechnologie nicht gelungen, auch nur ansatzweise die Ungefährlichkeit, die mittlerweile ziemlich erwiesen ist, der Öffentlichkeit deutlich zu machen. Das ist ein großer, bedeutender und bedauerlicher Fehlschlag. Bei der Klima-Debatte ist es der Wissenschaft wiederum gelungen, eigentlich über das Ziel hinauszuschießen und eine Bewusstseinsbildung und auch Sorge zu produzieren, die vielleicht auch nicht ganz angemessen ist. Das sind zwei klassische Beispiele, wo wir Wissenschaftler vielleicht nicht ganz optimal agiert haben.

SB: Wenn man das alles hört und auch Ihre Webseite ansieht, dann sind ja allein schon die Wörterbuchprojekte, die Editionen und Bibliographien, die Sie erstellen, erschlagend. Wie ist diese Arbeit überhaupt zu bewältigen?

GS: Wir haben allein in meiner Akademie 320 Mitarbeiter und wir sind damit die größte außeruniversitäre geisteswissenschaftliche Forschungsinstitution in der Region Berlin-Brandenburg. Das ist das eine, zum anderen muss man fairerweise sagen, dass Deutschland im Gegensatz zu vielen anderen Ländern der geisteswissenschaftlichen Forschung immer einen wichtigen Stellenwert eingeräumt hat. Die Forschung, die wir betreiben, geht über Jahrzehnte. Unser Forschungsprogramm, das sogenannte deutsche Akademienprogramm, ist von Bund und Ländern finanziert, so dass wir solche langfristigen Grundlagenforschungen über 25 Jahre lang unternehmen können. Das heißt, alles, was Sie sehen, läuft auch schon eine gewisse Zeit und ist auf mehrere Jahre angelegt. Das ist weltweit einmalig, das ist ganz großartig. Diesem Programm verdanken wir auch unsere Editionen, zum Beispiel die Musikeditionen: Wenn Sie heute das komplette Werk von Bach oder Mendelssohn-Bartholdy kennen, dann verdanken Sie dies Arbeiten, die in den Akademien entstanden sind. Oder wenn Sie den Duden aufschlagen: Ohne Wörterbucharbeit in den Akademien gäbe es keinen Duden. Wenn Sie ins Netz gehen, dann finden Sie dort - und das ist gerade für Übersetzer ganz wichtig - das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache. Dort können Sie sehen, in welchem Zusammenhang, in welchem Kontext heute in der Literatur, in der wissenschaftlichen Sprache die Wörter verwendet werden, das ist ein sehr hilfreiches Instrument, das kostenlos mehrere tausend Mal am Tag weltweit angeklickt wird, besonders für Leute, die mit der deutschen Sprache etwas differenzierter umgehen möchten. Mit einem Wort, wir sind wissenschaftlich zwar nie ausreichend finanziert, aber für diese Arbeiten sind wir sehr dankbar und können bei entsprechender Anstrengung um Qualitätserhalt tatsächlich solche großangelegten Themen bearbeiten.

SB: Können Sie uns sagen, wie lange es ungefähr gedauert hat, zum Beispiel dieses Digitale Wörterbuch zu erstellen?

GS: Es hat mit unserer klassischen Wörterbucharbeit angefangen, die damals noch mit Bleistift und Papier gemacht wurde. Als wir dann begannen, diese Arbeiten zu digitalisieren, entstand die Idee, ein solches digitales Wörterbuch in Angriff zu nehmen. Es wird jeden Tag erweitert, ist nicht zu Ende, das ist ein lebendiges System. Die zuständige Arbeitsgruppe hat mindestens drei bis vier Jahre gebraucht, um mit dem Wörterbuch online gehen zu können. Eine Gruppe von Wissenschaftlern arbeitet weiter daran, es durch Einbeziehen neuer Quellen - von Tageszeitungen, Romanen, Wochenzeitungen - ständig aktuell zu halten und zu erweitern.

SB: Sie hatten es ja eben schon ausgeführt: Einer der Schwerpunkte Ihrer Arbeit ist die ständige Erforschung der deutschen Sprache. Welche Beweggründe stecken dahinter? Muss die deutsche Sprache konserviert und erhalten werden, weil sie bereits stirbt? Ist sie bald nur noch ein europäischer Dialekt?

GS: Nein, Sprache ist ein äußerst lebendiges Objekt, mit dem man sich befasst. Natürlich will man gelegentlich wissen, woher ein Wort kommt und warum man es benutzt. Sie haben vielleicht die Frage: Wird unsere Sprache überfremdet durch Anglizismen oder verarmt die Sprache? Alle Länder, die etwas auf ihre Sprache geben, England oder Frankreich z.B., versuchen ihre Sprache nicht nur zu beobachten, sondern auch sorgfältig zu analysieren, wohin die Entwicklung geht oder an welcher Stelle man vielleicht sogar hilfreich eingreifen kann, wobei das sehr schwer ist. Wir haben jetzt zum ersten Mal unser Wörterbuch, unsere deutsche Sprachforschung mit den Aktivitäten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt und der Union der deutschen Akademien zusammengeführt und haben, vor einem Jahr ungefähr, den ersten Bericht zur Lage der deutschen Sprache herausgegeben und die Frage beantwortet: "Verarmt die deutsche Sprache?" - Die Antwort lautet: "Nein, sie wird reicher." Wir haben mehr Wörter, als wir jemals hatten. Die zweite Frage: "Haben wir zu viele Anglizismen? Werden wir überfremdet?" - Hier heisst die Antwort: "Ja, wir haben Anglizismen und einen Großteil der Anglizismen gibt es im Englischen gar nicht, die haben wir selbst erfunden." Oder nehmen Sie die Frage: "Wie gehen wir grammatikalisch mit neuen Wortschöpfungen, mit neuen Wortungetümen, diesen Verbindungswörtern um?" All diese Fragen haben wir untersucht. Nun werden wir als nächstes die Frage stellen: "Was ist mit der Jugendsprache?" Da entstehen ganz witzige, neue Wortschöpfungen, die auch lautmalerisch sind und die man unmittelbar versteht. Das ist ein ganz faszinierendes Forschungsgebiet, dessen Ergebnisse wir dann ebenfalls der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen werden. Es ist ja gar keine Frage, dass man sich in Deutschland für die Sprache interessiert. Denken Sie an den Rechtschreibstreit vor wenigen Jahren, das ging durch die ganze Nation. Das heißt, es gibt ein grundlegendes Interesse an der Frage: "Wie entwickelt sich unsere Sprache?" und nicht nur an der Frage: "Wo kommt sie her?" Und genau damit beschäftigen wir uns.

SB: Vielen Dank, Professor Stock, das war ein sehr guter Einblick in Ihre Arbeit.

Grafik: by Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften [Public domain], via Wikimedia Commons

Grafik: by Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften [Public domain], via Wikimedia Commons


Fußnoten:

[1] Leopoldina: Die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina ist seit 2008 die Nationale Akademie der Wissenschaften. Sie bearbeitet unabhängig von wirtschaftlichen oder politischen Interessen wichtige gesellschaftliche Zukunftsthemen aus wissenschaftlicher Sicht, vermittelt die Ergebnisse der Politik und der Öffentlichkeit und vertritt diese Themen national wie international.

[2] Unter der Leitung des Althistorikers Christian Mathias Theodor Mommsen (1817-1903) wurde im Jahre 1853 das "Corpus Inscriptionum Latinarum" ins Leben gerufen; ein erster Band erschien zehn Jahre später. Mommsen war von 1853 Korrespondierendes Mitglied und ab 1858 Ordentliches Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1874-1895 Sekretar der philosophisch-historischen Klasse der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1902 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.

[3] Barthold Georg Niebuhr (1776 - 1831) gilt als Begründer der historischen Methode in der Geschichtsschreibung. Durch ihn wurde zunächst die Geschichtswissenschaft und dann die "Alte Geschichte" aus der Rolle des Nebenfachs der Philosophie, der Philologie, der Rechtswissenschaft und der Staatswissenschaft zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin und somit zu einem eigenständigen akademischen Studienfach erhoben. 1810 wurde er ordentliches Mitglied in der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften.


8. April 2014