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BUCHBESPRECHUNG/005: Anonymus - Mein Leben für die Mafia (SB)


Anonymus


Mein Leben für die Mafia



"Mein Leben für die Mafia" - ein vielversprechender Titel für ein Buch, das den Anspruch erhebt, die authentische Lebensgeschichte eines `ehrbaren' Sizilianers zu enthalten, die er aus der Anonymität des untergetauchten Mafiosi heraus dem ebenfalls anonymen Verfasser zur Niederschrift erzählt. Worum es in dieser Biographie geht, läßt folgendes Zitat des "Giovannino" genannten Sizilianers erahnen, der nun, unerkannt und von den Geschäften zurückgezogen, irgendwo auf Sizilien als kleiner Bauer lebt und das praktiziert, was man als `dritten Weg' zwischen Denunziation und Knast bezeichnet könnte.
Ich hatte Glück. Das Leben, das ich geführt habe, hat mir nur eine Narbe auf dem Bein und ein Magengeschwür hinterlassen. Alles andere hat es mit sich fortgenommen: Von denen, die ich kannte, sind nur wenige im Gefängnis. Und die kommen nicht mehr raus. Die anderen haben sie umgebracht. Ich bin allein zurückgeblieben. Am Leben und allein. Gesellschaft leisten mir meine Erinnerungen. Erinnerungen, aber keine Reue. Was soll ich auch bereuen? Ich hätte im Bergwerk sterben können wie mein Bruder. Oder in die Fußstapfen meines Vaters treten: unter einem Herrn für ein paar Lire bis siebzig. Oder Turiner Dialekt lernen in einer Bolzenfabrik, fern von den Feldern, dem Meer und meinen Eltern. Statt dessen habe ich das Leben geführt, das ich geführt habe. Schön und häßlich, wie es eben kam. Und wenn ich wieder geboren werde, will ich es noch mal genauso leben. (S. 260/261)

Die Attraktivität dieses Romans, pardon, dieser Biographie, lebt sicherlich nicht unwesentlich von diesem Realitätsanspruch. Auch vor zehn Jahren, als Reality-TV noch längst nicht die Popularität der späten 90er Jahre erreicht hatte, war der Nervenkitzel schon um so größer, je echter das Blut ist, das vergossen wird... kein Wunder also, daß diese Entwicklung auch vor dem Buchmarkt nicht haltgemacht hat. Ob man die Authentizität dieser Lebensgeschichte in Frage stellen möchte oder nicht, ist eine Frage, die bis zum Schluß offenbleibt und in das Befinden eines jeden Lesers gestellt ist. Der Unterhaltungswert bleibt von dieser letzten Endes unerheblichen Frage gänzlich unberührt, einfach weil dieses Buch alle Elemente enthält, die einen spannenden Mafia-Thriller ausmachen.

Der Verfasser dieses Buches, der in akribischer Kleinarbeit die Lebensgeschichte des versteckt lebenden Sizilianers aufgenommen haben will, bleibt seinem Konzept treu und läßt von der ersten bis zur letzten Seite keine Zweifel an der Echtheit dieses Berichts aufkommen. Er schreibt in seinem Vorwort:

Der Inhalt des Buches: Geschichte von unten gesehen, eine Reise in der Ich-Form von den Latifundien zum Heroin, ein Bekenntnis ohne Reue. Ich habe es aufgenommen und niedergeschrieben, ohne je von den Fakten abzuweichen, und ich habe versucht, Sprache und Tonfall möglichst beizubehalten. (S. 14)

Mag ja sein, daß sich alles so oder ähnlich abgespielt hat. Ebenso plausibel wäre allerdings auch die Vorstellung, die ganze Geschichte sei eine professionelle und mit feinem Gespür für zeitgeistliche Strömungen in die Welt gesetzte Inszenierung, in der eben das zum Ausdruck kommt, was man über die Mafia in Sizilien schon immer gedacht hat - und das, um einmal bei dieser Lesart dieser Biographie zu bleiben, nicht ohne Hintergedanken. Die Botschaft, die am Ende des 260seitigen Werks steht, ist klar und unmißverständlich: Es gibt den dritten Weg, auch ein schuldbeladener Mafiosi kann aussteigen, wenn er nur will - und zwar, ohne zum Verräter an seinen Genossen zu werden. "Giovannino" lebt unerkannt in seiner Heimat, so heißt es ganz lapidar gleich zu Beginn des Buches - und gerade dieser Satz ist es, der soviel Kopfzerbrechen bereiten könnte.

Zudem enthält die vermeintliche Lebensgeschichte durchaus Bemerkungen, die zu dieser Behauptung im Widerspruch stehen. Giovannino selbst erklärt, als er zum ersten Mal daran denkt, daß er am liebsten einfach aufhören würde: "Ich wußte natürlich, daß das nicht geht." Doch am Ende, da geht es eben doch, und Giovannino bleibt von Mafia und Strafverfolgern unbehelligt. Für die Vermutung, der Aussteiger habe seine Freiheit mit einem Auftritt als Kronzeuge vor Gericht `erkauft', gibt es keinerlei Anhaltspunkt, eine solche Vermutung wäre pure Spekulation und ein Schlag ins Gesicht diese `ehrbaren' Sizilianers, der nicht müde wird, seine Ehrbarkeit zu betonen. Allein, es fallen fast zu viele Worte der `Ehre' in einer Angelegenheit, die nach bestem sizilianischem Mafia-Klischee eigentlich keiner Erwähnung bedarf...

Doch solche und ähnliche Fragen, die der Leser bei seiner zugegebenermaßen dramatischen Reise durch das Leben eines Mafiosi stellen könnte, können als zusätzliches Spannungsmoment den Unterhaltungswert dieses Buches noch steigern. Und nebenbei bietet dieses kurzweilige Werk auch noch eine Gelegenheit, die eigenen Vorstellungen über die Mafia einer womöglich kritischen Überprüfung zu unterziehen. Im Vorwort der Übersetzerin Christel Galliani klingt an, was die `Mafia' spätestens seit dem Paten für nicht wenige Zeitgenossen attraktiv macht:

Heute steht das Wort "Mafia" landläufig und weltweit für das organisierte Verbrechen schlechthin. Doch die einstmals "ehrenwerte Gesellschaft" Siziliens hat mit Ehre nur mehr wenig zu schaffen. Der Einstieg ins internationale Drogengeschäft und das daraus fließende große Geld hat aus der sozialen Selbsthilfe-, Schutz- und Versorgungseinrichtung - so auch von der Bevölkerung akzeptiert - ein Wirtschaftsunternehmen werden lassen, das kühl berechnendes Kaufsmannskalkül mit nackter krimineller Gewalt verbindet. Boten die Mafiosi alten Typs dem Volk für seine "Leistung" eine Gegenleistung - Schutz, Sicherheit, Arbeit und Brot -, so fiel diese spätestens mit dem Aufkommen des internationalen Drogenhandels schlicht weg. Giovannino, der "ehrbare" Sizilianer, der in diesem Buch zu Wort kommt, erlebt alle Stadien dieser Entwicklung mit: aus dem Inneren und "von unten" gesehen. Er ist Instrument, Handlanger und Beobachter zugleich. (S. 10/11)

Mit Wehmut wird auch hier der `guten, alten' Zeiten bedacht, als es noch Werte wie Beständigkeit, Treue und Familie gab, als die `Mafia' noch hielt, was sie verspricht - bevor dann das `organisierte Verbrechen', der Drogenhandel etc. dem rührigen Treiben ein Ende bereitete und damit den historischen Wurzeln, die die Übersetzerin wie folgt beschreibt, endgültig den Boden entzieht:

Mögliche Vorläufer der heutigen Organisationen lassen sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen: Bereits im ausgehenden 12. Jahrhundert gab es in Sizilien eine Geheimsekte, die sich Vendicosi nannte und anderen angetanes Unrecht blutig rächte. Im 16. Jahrhundert waren es dann die Beati Paoli, ein legendenumwobener Geheimbund in Palermo, der es für seine Aufgabe hielt, zugunsten von Witwen, Waisen und Unterdrückten in der Manier von Robin Hood "Recht zu sprechen". Damals gehörte Sizilien zum Königreich Neapel und wurde von spanischen Vizekönigen regiert. Über die Jahrhunderte gaben sich auf der Insel an der Stiefelspitze Italiens ausländische Herrscher die Türklinke in die Hand: Wandalen, Ostgoten, Byzantiner, Araber, Normannen und Staufer... (S. 8)

Mit `Robin Hood' ist hier das Stichwort gefallen, das bis auf den heutigen Tag auf ein reges Leserinteresse fällt. Doch es steht zu befürchten, daß solche und ähnliche Vorstellungen mehr mit den Erwartungen und Vorstellungen eben jener potentiellen Leserschaft gemein haben, als damit, was unter dem Begriff `Mafia' in früheren wie gegenwärtigen Zeiten tatsächlich geschehen sein mag.


Anonymus
Mein Leben für die Mafia
Der Lebensbericht eines ehrbaren Sizilianers
Rowohlt, 1989