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BUCHBESPRECHUNG/096: "Gekaufte Forschung" von Christian Kreiß (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Christian Kreiß
Gekaufte Forschung. Wissenschaft im Dienst der Konzerne

von Klaus Ludwig Helf, Februar 2016


In den letzten Jahrzehnten sind Tabak- und Chemieindustrie und Gentechnikkonzerne immer wieder als Geldgeber für gekaufte und gefälschte Forschung in Verruf geraten. So hat die Tabakindustrie renommierte Forscher dafür bezahlt, dass sie in ihren Studien die Gefahren des Rauchens leugnen oder zumindest relativieren und das nicht nur in den USA. In Deutschland standen 2006 und 2007 mehr als 60 Wissenschaftler im Verdacht, sich von der Tabakindustrie mit saftigen Honoraren beeinflussen zu lassen. In seinem neuen Buch über gekaufte Forschung belegt Christian Kreiß, dass 90 Prozent aller Medikamentenstudien von der Pharmaindustrie bezahlt würden. Erst vor kurzem habe die EU rund 700 Medikamente für die europäische Zulassung gestoppt wegen gefälschter Pharma-Studien. Die Finanzierung klinischer Studien und die Einflussnahme der Pharmaindustrie auf die Interpretation der jeweiligen Ergebnisse führe bis heute zu breiter Fehlinformation über Medikamente "... was laut unabhängigen Sachverständigen derzeit jährlich Hunderttausenden (!) von Menschen das Leben kostet und bei sehr vielen Menschen unnötiges Leiden hervorruft, dafür jedoch die Gewinne der Pharmakonzerne erhöht" (S. 80). Die engen Abhängigkeiten von Industrie und Wissenschaft greifen seit Jahren noch viel weiter und tiefer. Seit der Implementierung des Neo-Liberalismus als gesellschaftliches Gestaltungsprinzip und der "Bologna-Reform" sind Hochschulen und wissenschaftliche Forschung in Deutschland chronisch unterfinanziert und damit immer stärker auf "Drittmittel" angewiesen; dies ist politisch so gewollt und auch z. B. in Hochschul-Satzungen festgelegt. Drittmittel kommen von öffentlichen Einrichtungen, von Stiftungen oder direkt aus der Wirtschaft und stehen für bestimmte, zeitlich begrenzte Projekte zur Verfügung. Christian Kreiß befürchtet mit Recht, dass mit diesen nicht unabhängig kontrollierten Verflechtungen die Freiheit von Forschung und Lehre bedroht ist, obwohl diese im Grundgesetz garantiert wird.

Christian Kreiß (* 1962) studierte Volkswirtschaftslehre, promovierte in Wirtschaftsgeschichte und war neun Jahre als Bankier tätig; seit 2002 ist er Professor für Finanzierung und Wirtschaftspolitik an der Hochschule für Wirtschaft und Technik in Aalen.

Die Kernfragen des vorliegenden Bandes formuliert der Autor wie folgt: "In welchem Umfang wird unsere Wissenschaft an den Hochschulen von der Wirtschaft gekauft? ... Sind akademische Freiheit, institutionelle Autonomie und Forschungsintegrität auch heute noch gewährleistet?" (S. 10). Am Ende seiner Analysen kommt Kreiß zu dem erschreckenden Ergebnis: "Nicht nur in Deutschland, sondern auch auf europäischer Ebene liegt die Lenkung der öffentlichen Forschungsmittel stark in den Händen von Industrievertretern. Sie legen an der Quelle die Forschungsagenden fest" (S. 160). Da auch die personelle wie finanzielle Verflechtung mit Industrieinteressen in zwei der vier großen Forschungsgemeinschaften Deutschlands erheblich sei, kommt der Autor zu der quantifizierten Einschätzung: "Unter Einbeziehung dieser indirekten Einflussnahmen kann man davon ausgehen, dass etwa 75 Prozent oder mehr aller Forschungsanstrengungen in Deutschland heute bereits direkt oder indirekt unter Industrieeinfluss stehen" (S. 185).

Die vielen konkreten Fälle, die Kreiß in seinem Band ausführlich dokumentiert, belegen, dass auch eine große Anzahl von direkt oder indirekt mit Industriegeldern finanzierten wissenschaftlichen Studien häufig zur Instrumentalisierung und zum Missbrauch der Wissenschaften führt; eines der wichtigsten Probleme sei dabei die Einseitigkeit der Fragestellungen beim Untersuchungsgegenstand und -aufbau, so dass dann jeweils nur Teilwahrheiten ermittelt werden könnten; dadurch werde die Forschung in einem erheblichen Umfang einseitig zugunsten der Interessen der Industrie und nicht des Gemeinwohls gesteuert mit langfristigen gesellschaftlichen Folgen: "Man kann die Methode ... gezielt nutzen, um bestimmte Interessen im gesellschaftlichen Konsensfindungsprozess zu bevorzugen oder durchzusetzen ... Wissenschaft gerät in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer stärker unter den Einfluss von Geld- und Machtinteressen." (S. 9). War es früher erst der kirchliche, dann der staatliche Einfluss, so seien es heute vor allem ökonomische Steuerungsimpulse, die den Wissenschaftsbetrieb maßgeblich lenkten: "Durch diesen Missbrauch der Wissenschaft im Dienste von Industriegeld, wie er heute an der Tagesordnung ist, leiden Ansehen und Autorität der Wissenschaft, und der Glaube an wissenschaftliche Wahrheit überhaupt verschwindet allmählich." (S. 189/190).

An den Hochschulen gewinnen Wirtschaftsunternehmen zunehmend Einfluss, indem sie einzelne Forschungsprojekte, Stiftungs-Professuren (z.B. Professur für Mode und Ästhetik durch die Wella AG, Professur Energieeffizienz an der TU Dortmund durch RWE), Institute (z.B. "House of Finance" der Goethe-Universität Frankfurt) oder sogar Hörsäle (z.B.: "Aachener und Münchener Halle" als Aula der RTHW Aachen) finanzieren oder in den entscheidenden Hochschul- und Wissenschaftsgremien mit Stimmrecht vertreten sind. Als äußerst bedenklich wird auch der Einfluss des Multis "Google" auf das "Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft" eingeschätzt, das ja gerade die Entwicklung des Internets im Zusammenspiel mit den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformationsprozessen unabhängig und kritisch begleiten soll; trotz interdisziplinärem Ansatz seien geisteswissenschaftliche und kommunikationsphilophische Forschungsfelder unterbesetzt zugunsten juristischer und ökonomischer Projekte und Fragestellungen. Selbst vor Kitas und Schulen macht das Industriesponsoring nicht halt: "Ritter Sport" und "Capri Sonne", "McDonald" und die Initiative "Neue Soziale Marktwirtschaft" und natürlich die elektronische Industrie (Apple, Windows, Samsung etc.) halten unterschiedliche, verlockende Angebote für die Schulen parat, didaktisch z.g.T. hervorragend aufbereitet, pädagogisch-inhaltlich aber einseitig orientiert und unkritisch ausgerichtet auf die jugendliche "Kundschaft".

Der Autor kritisiert nicht nur, sondern stellt im letzten Kapitel - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - einige Lösungsvorschläge vor, zunächst für alle Industriebranchen und dann speziell für die Pharmaindustrie wegen der dort besonders gravierend anfallenden skrupellosen Verfehlungen: Verbot direkter Geldflüsse von Wirtschaftsunternehmen und abhängigen Stiftungen an Hochschulen, Hochschuleinrichtungen und Hochschulpersonal und Ersetzung durch Fondslösungen, strenges Sponsoring- und Werbeverbot an Schulen (einschließlich des fremd finanzierten und erstellten Unterrichtsmaterials), größere Transparenz, Offenheit und Klarheit bei der Herkunft von Geldmitteln und bei Entscheidungsgremien (personelle Zusammensetzung, Vergabekriterien), Einbindung zivilgesellschaftlicher Organisationen in wichtigen bundestaatlichen wie europäischen Entscheidungsgremien und mehr Pluralität in den Hochschulräten. Bei der Pharmaindustrie schlägt er zusätzlich ein eigenes unabhängiges Institut zur Überwachung klinischer Prüfungen vor, eine ausschließlich öffentlich-rechtlich finanzierte Pharmaforschung und Zulassungsstellen, die beide durch ein Abgabe-Verfahren von der Pharmaindustrie finanziert werden (wie z.B. in Italien).

Das Buch entstand in wesentlichen Teilen in den Jahren 2014 und 2015; man hätte sich gewünscht, dass der Autor neben den zahlreichen US-Quellen auch selbständig recherchierte Quellen in Deutschland stärker berücksichtigt hätte. Aber dennoch haben wir es hier mit einem wichtigen und aufrüttelnden Buch zu tun, das den geheimen und mächtigen Lobbyismus der Wirtschaft im Bereich Hochschulen, Wissenschaft und Bildung aufdeckt und anprangert. Hier ist ein enormer politischer Handlungsbedarf angesagt, wie dies bereits der Mediziner und Politiker Karl Lauterbach in seinem neuesten Buch über Krebsbehandlung und die Rolle der Pharmaindustrie heftig gefordert hat.

Christian Kreiß:
Gekaufte Forschung.
Wissenschaft im Dienst der Konzerne.
Europa Verlag, Berlin 2015
gebunden,
240 Seiten
18,99 EUR

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Quelle:
© 2016 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Februar 2016

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