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BUCHBESPRECHUNG/103: "Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens" von Joachim Bauer (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Joachim Bauer
Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens

von Klaus Ludwig Helf, April 2016


Sind wir Menschen Herr im eigenen Hause und haben einen freien Willen oder sind wir fremdbestimmt und ferngesteuert? Darüber streiten Wissenschaftler allen voran Philosophen und Theologen, Juristen und zuletzt Psychologen über Jahrhunderte hinweg. Seit einigen Jahrzehnten beteiligen sich auch Hirnforscher an dieser Diskussion. Im Anschluss an das berühmte Experiment von Benjamin Libet behaupten z.B. die Hirnforscher wie Gerhard Roth und Wolf Singer, dass der menschliche Wille nicht frei, sondern neurobiologisch vorherbestimmt sei. Diesem "totalitären Zugriff eines neurobiologischen Determinismus" widerspricht der Freiburger Hirnforscher und Psychiater Joachim Bauer in seinem neuesten Buch über Selbststeuerung und über die Wiederentdeckung des freien Willens. Der Band hat sechs Kapitel: Freiheit durch Selbststeuerung/ Selbststeuerung lernen/ Leben gegen den Strom/ Sublime Unterwanderung des freien Willens/ Aktivierung der Selbststeuerung und Persönliche Gesundheit. Es folgen eine Schlussbetrachtung, Dank, jeweils ein sehr umfangreicher Literatur- und Anmerkungsapparat und ein Personen- und Sachregister.

Menschliche Entscheidungen fielen nicht - so Bauer - wie in der Physik stur nach den Regeln von Reiz und Reaktion wie z.B. eine Kugel auf einer schiefen Platte auf den Boden hinab rolle; er weist plausibel nach, dass Singer und Roth das "Lebet-Experiment" fehlerhaft interpretiert hätten und beruft sich dabei auch auf Jürgen Habermas. Inhalte von Geist, Bewusstsein und sogar Unbewusstsein folgten keinem biochemisch und/oder physikalisch determinierten Ablauf. Während Phänomene der physikalischen Welt immer die Folge einer Ursache seien, beruhten menschliche Entscheidungen vielmehr auf Gründen. Menschliche Entscheidungsfindungen erfolgten nicht im luftleeren Raum, sondern in einem Kontext von Faktoren, die sich wechselseitig bedingen: Biologie des eigenen Körpers, unsere sozialen Beziehungen, unsre materielle Umwelt und die allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Verneinung menschlicher Entscheidungsfreiheit sei unhaltbar und habe fatale Konsequenzen:

Der Determinismus ist eine Ideologie, die jede Initiative, Kreativität und Entschlossenheit lähmt ... Der Versuch, Betrüger zur Rechenschaft zu ziehen, wäre sinnlos, denn jeder Finanzspekulant ... hatte mit Sicherheit eine schwere Kindheit ... Alle konnten nicht anders, als sie sind, alle sind Opfer. Die durch den Determinismus vollzogene Abschaffung des freien Willens würde Heerscharen von Unschuldigen produzieren ... Schuld ist die Gesellschaft, der Stress, oder es sind die Gene. (S. 32/33) 

Voraussetzung für das Gelingen kreativer Selbstentfaltung des Menschen und Kennzeichen einer reifen Persönlichkeit sei die Fähigkeit zur Selbststeuerung - so die Hauptthese Bauers: "Mit Selbststeuerung lässt sich im Leben vieles, ohne sie nichts erreichen. Ihre wahre Bedeutung liegt jedoch nicht in der Ansteuerung hehrer oder spektakulärer Ziele. Ihr tiefer Sinn liegt darin, unser ganz eigenes, wahres Leben zu leben und zu uns selbst, zu unserer ureigenen Identität zu finden" (S. 9). Seine These begründet er in seinem Buch ausführlich, anschaulich und überzeugend anhand der aktuellen Forschungsergebnisse der Hirn-, Gen- und Verhaltensforschung und mit Anleihen aus der philosophischen Aufklärung. Der Autor will zeigen, dass wir als Menschen einen freien Willen haben, mit dem wir uns selbst steuern und unser individuelles Selbst leben können; als Arzt geht es ihm auch darum, den "heilsamen Einfluss deutlich zu machen, der von einer intakten Selbststeuerung auf unsere Gesundheit ausgeht. Wo kein Selbst ist, kann es auch keine Selbststeuerung geben" (S. 10). Wer wie ein Kleinkind nur seinen spontanen Impulsen und Affekten folge, habe kein entwickeltes Selbst. Doch wo und wie entwickelt sich dieses? Bauer erklärt das - stark verkürzt - wie folgt: Die Struktur des menschlichen Hirns bestehe aus zwei Fundamentalsystemen, dem triebhaften "Basissystem" ("bottom-up" agierend) und dem darauf aufbauenden "Präfrontaler Cortex" mit Sitz im Stirnhirn; dieser wirke "top-down" und kontrolliere - bei hinreichend guter Entwicklung - das Basissystem: "Selbstkontrolle ist die neurobiologisch im Präfrontalen Cortex verankerte Fähigkeit des Menschen, aus dem Bereich des eigenen Triebsystems (mit dem Belohnungs-, Angst- und Stresssystem als neurobiologischer Grundlage) kommende Impulse des Verlangens, der Angst und der Aggression zu kontrollieren" (S. 217/218). Im Rahmen einer umfassenden Selbstfürsorge sei Selbststeuerung das Bemühen, eine Balance zwischen Selbstkontrolle einerseits und angemessener Berücksichtigung der Triebwünsche andrerseits herzustellen. Der Präfrontale Cortex (PFC) sei also neurobiologisch für das Selbst und für die Selbstkontrolle und Selbststeuerung zuständig. Das "Basis- oder Triebsystem" sei bei der Geburt des Kindes weitgehend ausgereift, während der PFC ein fast unbeschriebenes Blatt sei, dessen Potenziale erst entwickelt werden müssten; die Funktionstüchtigkeit dieses neuronalen Netzwerkes werde erst im Verlauf der ersten drei Lebensjahre durch soziale Fürsorge und durch Erziehung hergestellt. Der Prozess der vollständigen Ausreifung des PFC erfolge ungefähr in den ersten zwanzig Lebensjahren. Die neuronale Reifung des PFC-Netzwerkes beginne in den ersten zwei Lebensjahren zunächst im unteren - über den Augenhöhlen liegenden - Teil, der für die Entwicklung von "Ich und Du", also für die sozialen Fähigkeiten, zuständig sei. In diesen zwei Jahren sei deshalb eine intensive, dyadische Beziehung unersetzlich; ab dem dritten Lebensjahr bildeten sich die neuronalen Grundlagen der eigentlichen Selbstkontrolle im oberen Teil des PCF aus, die jetzt auf die Strukturen des unteren Teils zurückgreifen können. Unter liebevoller, geduldiger und konsequenter Begleitung, Anleitung, Ermutigung, Setzen von Regeln und auch durch Aushalten von Frustrationen entwickelten sich beim Kind "exekutive Funktionen" wie Ziele setzen, planend zu handeln, konzentriert und aufmerksam bei einer Sache zu bleiben, Impulse zu kontrollieren und zu steuern, mit Frustrationen umzugehen und soziale Bindungen aufzubauen. Selbstkontrolle, Selbststeuerung, Autonomie und die Fähigkeit zu einem freien Willen setzten eine ungestörte Entwicklung des Gehirns voraus, die nur durch Anleitung und Ermutigung erfolgen könne - dies sei wissenschaftlich bewiesen. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse kritisiert Bauer das derzeitige Erziehungs- und Bildungssystem scharf; der tiefgreifende Wandel unserer Gesellschaft habe auch die Voraussetzungen für Erziehung und Bildung enorm verändert durch die Auswirkungen des digitalisierten Konsum- und Finanzkapitalismus: u.a. Hektik, Tempo, Stress, Konsum, Verdichtung der Arbeit. Bauer fordert eine gelingende, emanzipatorische Pädagogik, die die emotionalen, psychologischen und neurobiologischen Bedürfnisse und Erfordernisse von Kindern und Jugendlichen stärker berücksichtigt: u.a. einen Personalschlüssel für die Kindertagesstätten von 1:3 (um dyadische Beziehungen aufbauen zu können), Ausbau und inhaltliche Bereicherung der Ganztagsschulen zu "Treibhäusern der Zukunft" durch mehr Achtsamkeits- und Kreativitäts- Praxis, pädagogische Führung mit Freiheitsräumen und regelnden Grenzen, Erziehung zur Selbststeuerung und Autonomie, intensivere Angebote für körperliche Bewegung und für gesunde vitaminreiche, fett- und zuckerarme Ernährung: "Unter dem Einfluss von Beziehungserfahrungen, die Kinder und Jugendliche in ihrem unmittelbaren zwischenmenschlichen und erweiterten sozialen Umfeld machen, verändert ihr Gehirn seine Strukturen. Umwelteinflüsse spielen für die neurobiologisch und psychologische Entwicklung von Kindern eine quantitativ weit bedeutendere Rolle als Effekte von genetischen Varianten. Als besonders bedeutsam ... haben sich die Anregungen herausgestellt, die Kinder bereits in den ersten vorschulischen Lebensjahren erhalten" (S. 60/61).

Selbststeuerung sei kein Selbstzweck, sondern solle dem Menschen helfen, ein gelingendes Leben zu führen; dazu zähle auch deren Einfluss auf die biologischen Systeme und damit auf die körperliche Gesundheit. Dabei seien zwei Wirkprinzipien im Spiel: ein konkreter, gesunder Lebensstil und ein gutes Selbstgefühl als Vertrauen in die eigenen Selbstkräfte (positives Grundhaltung und Selbstvertrauen); von beiden Mechanismen gingen "massive biologische Effekte" aus und seien von gleichrangiger Bedeutung. Das aktuelle schulmedizinische System kommuniziere fast ausschließlich mit der Frage der gesunden Lebensführung, während die Stärkung der psychischen Situation des Patienten "nicht nur sträflich vernachlässigt", sondern sogar geschwächt werde; dies führe auch zum Aufbau eines paramedizinischen Marktes. Der Autor warnt vor dem Irrtum in der Annahme, Lebewesen seien biologische Maschinen; alle lebenden Systeme - so der neueste Stand der Wissenschaft - kommunizierten im Gegensatz zu Maschinen mit ihrer Außenwelt. Auch Gene seien Kommunikatoren; sie steuern nicht nur unseren Körper, sondern würden auch von ihm beeinflusst; dies beträfe nicht nur den Lebensstil, die Ernährung und die körperliche Betätigung, sondern auch die sozialen und zwischenmenschlichen Erfahrungen und die damit verbundenen psychischen Prozesse. Soziale Erfahrungen würden vom Gehirn in biologische Prozesse verwandelt, die sich an der Steuerung der Gene beteiligten. Der Einfluss der Psyche auf die Steuerung biologischer Prozesse sei enorm. Bauer mahnt deshalb zu Recht an: "Die heute verfügbaren, ausgezeichneten schulmedizinischen Möglichkeiten der Krankenbehandlung können ihre volle Potenz nur gemeinsam mit einer Stärkung der Selbstkräfte und der Selbststeuerung aufseiten des Patienten entfalten" (S. 114). Beide Wirkprinzipien hätten also das Potenzial zur Steuerung von Genen und spielten eine entscheidende Rolle beim Erhalt oder der Gefährdung der Gesundheit. Der Präfrontale Cortex sei die Schaltzentrale einmal für die Lebensführung (Selbstkontrolle der Lebensführung) und zum anderen für die Verbindung zwischen den sozialen Erfahrungen und dem Selbstgefühl (neurobiologische Kopplung zwischen Ich und Du); was sich im PFC abspiele, habe somit Auswirkungen auf die Biologie des gesamten Körpers. Es sei vor wenigen Jahren noch unvorstellbar gewesen, in welchem Ausmaß durch unsere persönlichen Lebensstile unsere Gene, unsere Biologie und damit unsere Gesundheit steuern könnten; der Autor wolle sich aber nicht als Moralapostel aufführen und bestimmte asketische Verhaltensweisen propagieren, sondern nachdenklich und widerständig machen gegen die sublimen Unterwanderungen unseres freien Willens durch die Konsum- und Warenindustrie.

Der vorliegende Band von Joachim Bauer ist eine gelungene Plattform und Basis für eine längst fällige, wissenschaftlich interdisziplinäre und poltische Diskussion über das Menschenbild in unserer Gesellschaft und über die Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind. Er ist darüber hinaus unbedingt empfehlenswert für alle, die sich mit menschlichen Entwicklungschancen beruflich oder privat beschäftigen - also für Pädagogen Psychologen, Mediziner, Eltern, Erzieher, Personalchefs und für Politiker. Er ist in einer klaren, flüssigen und verständlichen Sprache geschrieben, die auch komplizierte wissenschaftliche Zusammenhänge für Nichtfachleute verständlich macht. Wer tiefer eintauchen möchte, kann dies im sehr ausführlichen Anmerkungsapparat nachvollziehen. Bauer blickt auch über den Tellerrand der fachspezifischen Analysen, kritisiert deutlich bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen und gibt auch bemerkenswerte, kreative Impulse für Veränderungen im Bildungs-, Erziehungs- und Gesundheitswesen. Bauer gelingt es, aufgrund aktueller neurobiologischer, psychologischer und gentechnologischer Erkenntnisse den Aufruf der Aufklärung zur Nutzung des Verstandes und des freien Willens fortzuschreiben und zu erneuern, ebenso das Freudsche Diktum: "Wo ES war soll ICH werden!".

Joachim Bauer
Selbststeuerung
Die Wiederentdeckung des freien Willens
Karl Blessing Verlag, München 2015
238 Seiten
19,99 EUR

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Quelle:
© 2016 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. April 2016

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