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BUCHBESPRECHUNG/109: Verborgen unter Blattwerk (Sachbuch) (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 6/16 - Juni 2016

Ökologie
Verborgen unter Blattwerk

Rezension von Peter Biedermann


Bei genauem Hinsehen zeigt sich auf Bäumen und Sträuchern allerlei Verblüffendes.

Ein Haselnussstrauch mit einem abgestorbenen Blatt, mitten im Sommer? Eine Birke mit eigenartig verwachsener Krone? Ein Maikäfer, aufgespießt auf einen Dorn in einem Strauch? Die Lektüre dieses Buchs macht Lust darauf, sich mit den Ursachen solcher Phänomene zu beschäftigen: Tiere, Pflanzen oder Pilze, die den Baum als Wohnstätte nutzen.

In ihrem Naturführer stellen Margot und Roland Spohn die häufigsten heimischen und exotischen Gehölze vor. Das Besondere an den Porträts von mehr als 50 Arten: Im Fokus stehen die Wechselbeziehungen zwischen Bäumen und Sträuchern einerseits und ihren Bewohnern andererseits - vor allem Vögeln, Insekten und Pilzen. Das eingangs erwähnte Blatt etwa nutzt der Haselblattroller (Apoderus coryli) als Kinderstube für seine Käferlarven, die verwachsene Baumkrone rührt von Pilzbefall her und den aufgespießten Maikäfer hat ein Neuntöter (Lanius collurio) auf dem Gewissen - ein Vogel, der sich Vorratslager in Sträuchern anlegt.

Spohn und Spohn stellen die Gehölzbewohner in jeweils etwa halbseitigen Absätzen vor, wobei sie neben charakteristischen Eigenschaften auch faszinierende Besonderheiten erläutern. So erfährt man, dass der Gelbfüßige Glanzrüssler, ein Rüsselkäfer, eigentlich gern an Birkenblättern frisst, aber Bäume meidet, die neben Sumpfporst (Rhododendron tomentosum) wachsen. Der Geruch dieser Pflanze, die zu den Heidekrautgewächsen gehört, vertreibt den Sechsbeiner.

Die Autoren haben viele aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zusammengetragen. Beide sind ausgebildete Biologen, Roland Spohn zudem Naturfotograf und -maler. Sie besitzen reichlich Erfahrung darin, Naturführer zu verfassen, und ihr Buch zeugt von einem unvergleichlichen Talent, komplexe Sachverhalte einfach, spannend und dennoch fundiert darzustellen.

Zahlreiche hervorragende Fotos und Zeichnungen bebildern das Werk. Beachtlich, dass die Autoren fast alle der mehr als 400 Fotos selbst aufgenommen haben. Man kann nur erahnen, wie viele Stunden genauer Naturbeobachtung nötig waren, um die vielen Gehölzbewohner aufzuspüren und abzulichten. Ebenso beeindrucken die exakten Zeichnungen, in denen sich des Künstlers Begeisterung für die Natur und seine Liebe zum Detail widerspiegeln. Zur rundum schönen Optik tragen zudem das ansprechende Layout und die hohe Druckqualität bei. Monatsangaben erlauben eine schnelle Übersicht darüber, wann die beschriebenen Fraßspuren, Pflanzengallen oder Pilzfruchtkörper in der Natur zu finden sind. Dies macht es den Lesern einfach, sich selbst auf Spurensuche zu begeben.

Das Buch richtet sich an alle Naturinteressierten und wird sowohl Laien als auch Experten begeistern. Einerseits benötigt man kein Fachwissen, um die Texte zu verstehen. Andererseits lernt man selbst als Biologe noch viel Neues. Welcher Fachmann weiß schon, dass Rotkehlchen die besten Verbreiter von Pfaffenhütchensamen sind? Oder dass Proteine des Kleinen Zangenbocks (Rhagium inquisitor), eines fichtenbewohnenden Käfers, dazu genutzt werden, die Kristallisation von Speiseeis zu hemmen?

Besonders Naturpädagogen und Fachleute, die Exkursionen leiten, finden in dem Band einen reichen Wissensfundus, mit dem sie ihre Teilnehmer begeistern können. Empfehlenswert ist die Lektüre vor allem während der warmen Jahreszeit, wenn die meisten Baumbewohner aktiv sind. Denn man kann es beim Lesen kaum erwarten, im eigenen Garten nach Spuren zu suchen, die man vielleicht früher schon bemerkt hat, aber nie zuordnen konnte. Jedem, der gern Natur entdeckt und sich für das Zusammenspiel von Organismen interessiert, sei das Buch wärmstens empfohlen.


Rezensent Peter Biedermann ist Zoologe am Max-Planck-Institut für chemische Ökologie und Träger des »Klartext«-Preises der Klaus Tschira Stiftung.


Margot und Roland Spohn
Bäume und ihre Bewohner
Der Naturführer zum reichen Leben
an Bäumen und Sträuchern

Haupt, Bern 2016
302 S., € 29,90


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Der Eichelbohrer hat einen extrem langen Rüssel. Mit diesem bohrt das Weibchen ein Loch bis weit in das Samengewebe hinein. Anschließend dreht es sich um, dringt mit seiner Legeröhre ein und legt Eier ab. Auf Rosen spezialisiert haben sich dagegen die Larven mehrerer Blattwespen. Hier fressen die Afterraupen einer Bürstenhorn-Blattwespe an den Blättern.


Der Artikel ist als PDF-Datei mit Abbildungen abrufbar unter:
http://www.spektrum.de/pdf/86-93-sdw-06-2016-pdf/1410322


© 2016 Peter Biedermann, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 6/16 - Juni 2016, Seite 86 - 87
URL: http://www.spektrum.de/pdf/86-93-sdw-06-2016-pdf/1410322
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2016

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