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BUCHBESPRECHUNG/120: "Kleiner Mann - was nun" von Hans Fallada (Roman) (Klaus Ludwig Helf)


Hans Fallada
Kleiner Mann - was nun?

von Klaus Ludwig Helf, Oktober 2016


Im Aufbau Verlag gibt es eine lange Tradition bei der Wiederentdeckung von verschollenen und zensierten literarischen Texten wie z.B. von Anna Seghers, Victor Klemperer, Werner Bräunig und auch von Hans Fallada. Bereits 2014 hatte der Verlag dessen Roman "Jeder stirbt für sich allein" als ungekürzte Neuausgabe erfolgreich herausgebracht. Jetzt folgte im Jahr 2016 "Kleiner Mann - was nun?", eng angelehnt an das handschriftliche Originalmanuskript, das Fallada von Oktober 1931 bis Februar 1932 in einem "eruptiven Schreibakt" (S. 363) - so Carsten Gansel in seinem ausführlichen Nachwort - verfasst hatte und das im Nachlass aufbewahrt werden konnte. Wie der Verlag betont, wurde der Originalzustand des Urtextes wiederhergestellt: So wurde ca. ein Viertel des Textes hinzugefügt, Streichungen und sprachliche Glättungen wurden aufgehoben, Orthografie und Interpunktion der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst und Irrtümer korrigiert. Damit sei kein grundsätzlich neuer Text oder gar Roman entstanden, aber er sei bunter, nuancenreicher, politisch kantiger und die Hauptfiguren seien psychologisch tiefer gezeichnet - wie Gansel analysiert. So werden uns jetzt tiefe Einblicke in das wilde Berliner Nachtleben, in die Freikörperkultur, in weitere subkulturelle und auch zwielichtige Milieus sowie in die Gossensprache mit ihren deftig-vulgären Formulierungen gegeben; das karge Leben der Arbeiter und der Arbeitslosen wird schonungslos geschildert ebenso die Härte der politischen Auseinandersetzungen im Vorschein der Nazi-Diktatur.

Wie und warum kam es zu diesen Kürzungen und Glättungen bereits 1932 bei der Erstveröffentlichung des Romans? Diese Eingriffe in das Originalmanuskript waren notwendig sowohl aus der Sicht des Verlegers Ernst Rowohlt als auch des Autors selbst, wie Gansel hervorhebt - ein gedrucktes Buch sei immer seiner Entstehungszeit verhaftet und gerade bei Fallada besonders zu berücksichtigen: "Bei seinem Welterfolg ... erschien es angeraten, mögliche Irritationen zu vermeiden und den Roman auf diese Weise einem breiten Lesepublikum anzupassen - vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse und der wirtschaftlich angespannten Lage nach der Wirtschaftskrise, die Autor und Verlag gleichermaßen hart getroffen hatte". (S. 348) Der Rowohlt Verlag stand kurz vor der Insolvenz und Fallada hatte wegen seines Lebenswandels einen Schuldenberg um die 8.000 Reichsmark angehäuft. In dieser angespannten Situation hat er dann in nur vier Monaten den Roman mit über 350 Seiten und mit nur wenigen Korrekturen - wie das handschriftliche Urmanuskript zeigt - fertiggestellt. Dem Marketingstrategen Ernst Rowohlt gelang bereits vor dem offiziellen Erscheinen des Romans ein Publicity-Erfolg. So konnte er bis zur Auslieferung des Romans gegen Zahlung von 7.000 Reichsmark einen Vorabdruck des Romans in der traditionsreichen "Vossischen Zeitung" platzieren; das hatte allerdings zur Konsequenz, dass der Text aus vorbeugender Rücksichtnahme auf die bildungsbürgerliche, konservative Leserschaft nicht nur gestrafft, sondern auch politisch verfängliche Stellen gestrichen wurden. Zusätzlich verschickte Rowohlt Freiexemplare an bekannte Autoren, Literaturkritiker und Zeitungen, so dass positive Rückmeldungen von Leser_innen und auch von prominenten Schriftstellerkollegen wie Thomas Mann, Hermann Hesse, Kurt Tucholsky, Robert Musil und Axel Eggebrecht das Erscheinen des Romans und dessen Welterfolg vorbereiteten und begleiteten. Selbst die vom Autor nazikonform geglättete Neuausgabe von 1935 (so wurde z.B. aus der Figur des Nazis Lauterbach ein Torwart mit Schlägerneigungen) und auch die erheblichen Kürzungen nach dem Krieg in den 50er Jahren konnten den Ruhm des Romans nicht schmälern; offenbar traf er vom Inhalt und Stil den Nerv der Zeit.

Mitten in der Wirtschaftskrise kämpft das naiv-sympathische junge Ehepaar Pinneberg, Johannes und Emma ("Lämmchen"), bei der Suche nach Brot und Arbeit ums nackte Überleben; das Schicksal spielt den beiden übel mit, aber dennoch verlieren sie am Ende ihre Liebe zueinander nicht. Im Stile der Neuen Sachlichkeit, einer Art Tatsachenpoetik, erzählt Fallada in einer Rahmenhandlung über das Zeitgeschehen, über Menschlichkeit und soziale Konflikte, über politische und moralische Auffassungen; was die Figuren denken und wie sie psychisch ticken ergibt sich aus ihren Reaktionen und Handlungen; ein "beobachtender Berichterstatter" (Fallada) als Erzähler kommentiert und bewertet das Geschehen im Wechsel mit der personalen Perspektive der Figuren; deren Dialoge und innere Monologe erhöhen und drosseln den Erzählstrom.

Großartig wie Fallada die Atmosphäre der Großstadt Berlin einfängt: "Die Autos jagen und schieben sich weiter, die Autobusse torkeln durchs Gewühl, die Elektrischen klingeln, und vor den Schaufenstern von Mandel stehen viele Leute" (S. 120). Die Stimmung im "Kleinen Tiergarten" in Alt-Moabit wirkt bedrückend:

... an diesem ersten Oktober, halb nass und halb trocken, halb bewölkt, halb sonnig, mit Wind aus allen Ecken und vielen braungelben hässlichen Blättern sieht er doch besonders trostlos aus. Er ist nicht leer, nein, das ist er gar nicht. Massen von Menschen sind da, grau in der Kleidung, fahl in den Gesichtern. Arbeitslose, die warten, sie wissen selbst nicht mehr auf was, denn wer wartet noch auf Arbeit? Und viele Kinderwagen mit blassen, gelbnasigen, geduldsamen Kindern. Viele junge Mädchen, viele alte Männer. Sie stehen so herum, planlos, in den Wohnungen ist es auch schlimm, warum sollen sie nicht herumstehen? (S. 124) 

Der kommentierende Erzähler sieht die Hauptfigur so:

Pinneberg ist ein erwachsener, normaler Mensch, normal ruhig, normal ängstlich. Aber nicht umsonst haben Jahre und Jahre auf ihn mit Geldnot und Kündigungsfurcht, würdeloser Behandlung und der Lebensmittelsattheit der Großen eingewirkt. In seinen Wunschträumen kriecht er in die Erde zurück, in den Beutel, die Gebärmutter, in den Mutterschoß, in dem man ihm nichts tun kann, in dem er keine Angst zu haben braucht. Ach er ist ja einer von Millionen, Minister halten Reden an ihn, ermahnen ihn, Entbehrungen auf sich zu nehmen, Opfer zu bringen, deutsch zu fühlen, sein Geld auf die Sparkasse zu tragen und die staatserhaltende Partei zu wählen. Er tut es, und er tut es nicht, je nachdem, aber er glaubt denen nichts. Gar nichts. Im tiefsten Inneren sitzt es, die wollen alle was von mir, für mich wollen die doch nichts, ob ich verrecke oder nicht, das ist ihnen so egal ... (S. 125/126) 

Äußerlich gehöre er nicht zu den grauen, verschlissenen, "ungefährlichen, ausgehungerten, hoffnungslos gemachten Bestien des Proletariats" (S. 126), aber innerlich sei das anders. Diese nennen ihn als Angestellten "feiner Pinkel und Stehkragenproletarier", aber das sei nur vorübergehend: "Ich weiß es am besten, was das wert ist. Heute, nur heute, verdiene ich noch, morgen, ach morgen, stemple ich doch ...". (S. 126) Der Streifzug durch das Berliner Nachtleben der zwanziger Jahre gibt ihm die Möglichkeit zum Nachdenken über seine persönliche Situation; er ist entflammt und doch auch bedrückt. Besonders begeistert ihn das "Ballhaus Resi" ("Ballhaus der Technik") in der Chausseestrasse mit zweihundert Tischtelefonen, Rohrpostanlage und gigantischen, beleuchteten Springbrunnen, die bis unter die Decke sprudeln:

Er sah sich um, die Telefone schnarrten, und die Lampen drehten sich, sie waren bunt, und bunt sprangen die kleinen Wasserfontänen, die Tänzer tanzten, und die Trinker tranken, und die Schweineigel schweineigelten und taten einen Griff nach den Mädchen, worauf diese sofort zu Prinzessinnen wurden: Es war die trostloseste Geschichte von der Welt. Was sollte ein Mensch damit? Was ging das einen kleinen Mann an, dass er sich da was von mitnehmen konnte nach Haus? (S. 283) 

Sogar beim ausdauernden Tanzen im Ballhaus bedrückt ihn seine soziale Situation und er sagt zu "Lämmchen": "Grade an die Arbeitslosen denke ich immerzu. Und manchmal denk ich, es wäre gut, wenn ich auch arbeitslos wäre, dann bräuchte ich doch keine Angst mehr davor zu haben, wie es ist und ob man es aushält. So lebt man doch ewig unter Druck". (S. 280) Politisch ist Pinneberg im Gegensatz zu "Lämmchen" eher unentschlossen und verkriecht sich lieber in seine Höhle: "Ist man dumm, dann geht man zu den Nazis und glaubt, irgendwas würde sich dadurch ändern, wenn man die Juden totschlägt - und ist man gläubig und viel widerstandsfähiger ... träumt man also nicht von der Höhle in der Erde, dann geht man zur KPD und versucht es anders". (S. 126) Auch wenn sie sanft erscheine, so sei "Lämmchen" zäher als er und sie würde sich nicht verkriechen; trotz SPD-Mitgliedschaft gehöre sie eigentlich in die KPD: "Sie hat so ein paar einfache Begriffe, dass die meisten Menschen nur schlecht sind, weil sie schlecht gemacht werden, dass man niemanden verurteilen soll, weil man nicht weiß, wie man's selber täte, dass die Großen immer denken, die Kleinen fühlten alles nicht so - solche Sachen hat sie in sich nicht ausgedacht, die sind in ihr, darum müsste sie eigentlich zu den Kommunisten". (S. 126) "Lämmchen", die zunächst als naives, harmoniesüchtiges und gutmütiges Dummchen geschildert wird, entpuppt sich im Laufe des Romans als die eigentliche starke und prinzipienfeste Heldin, die ihren Mann aus seiner depressiven Verzweiflung rettet.

Falladas Roman in seiner ursprünglichen Fassung ist ein großartiger Zeitroman, der auch heute nichts an politischer und sozialer Aktualität eingebüßt hat.

Hans Fallada:
Kleiner Mann - was nun?
mit einem Nachwort von Carsten Gansel
Aufbau Verlag, Berlin 2016
6 Abbildungen
448 Seiten
22,95 Euro

Die zitierten Seitenzahlen beziehen sich auf die e-Book-Ausgabe

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Quelle:
© 2016 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Oktober 2016

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