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BUCHBESPRECHUNG/154: Guillaume Paoli, Die lange Nacht der Metamorphose (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Guillaume Paoli
Die lange Nacht der Metamorphose. Über die Gentrifizierung der Kultur

Klaus Ludwig Helf, Juni 2018


Erfrischend, leichtfüßig, klug und scharfsinnig hat der französische Philosoph Guillaume Paoli einen kulturkritischen Essay geschrieben, in dem er im Rückgriff auf Pier Paolo Pasolini eine »anthropologische Mutation« der Gesellschaft diagnostiziert. Er meint damit eine Form der Gesellschaft, in der es keine Gegenkräfte mehr gebe wie Arbeiterklasse, Sozialismus oder Gewerkschaften; vielmehr seien diese alle unsichtbar oder schlicht irrelevant. Bereits Anfang der 70er Jahre habe Pasolini in der italienischen Gesellschaft eine eigentümliche Toleranz festgestellt. Den Grund dafür fand er in einer vom Menschen gemachten Mutation im Dienste des Kapitals durch das Erzeugen eines Konsumrauschs, der die kritischen Säulen der italienischen Gesellschaft hinweggefegt habe.

Der französische Philosoph und Zeitdiagnostiker Guillaume Paoli lebt und schreibt seit über 25 Jahren in Berlin, war »Hausphilosoph« am Leipziger Theater und gehörte zum »Inner Circle« der Castorf-Volksbühne. 1996 veröffentlichte er das Manifest über den »Glücklichen Arbeitslosen«.

Paoli nimmt uns mit auf eine »lange Nacht der Metamorphose« und lässt uns teilhaben an ihren gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Erscheinungen und Offenbarungen in den Medien und im Journalismus, in der postmodernen Philosophie, in der zeitgenössischen Literatur, im Theater, in der Popmusik, in der Stadtentwicklung und in der Politik. Was wir erleben, ist keine kreative, fröhliche Vielfalt, sondern stupider, konsumistischer Einheitsbrei.

Paoli zitiert aus dem »Kommunistischen Manifest«, wonach die Bourgeoisie als Agent des Kapitalismus alle patriarchalischen Verhältnisse zerstöre, den rührend sentimentalen Schleier der Familie abreiße, die spießbürgerliche Wehmut ertränke, den Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwinge und alle Länder kosmopolitisch gestalte: "Sämtliche kulturellen Begleiterscheinungen des modernen Kapitalismus, die Marx auflistet, sind Steckenpferde der heutigen Linken. Gegen Patriarchat, spießige Moral, Ausgrenzung und Ausländerfeindlichkeit, für offene Grenzen und Kosmopolitismus". (S. 44) Paoli anerkennt durchaus die freiheitlich-emanzipatorischen Gewinne, betont aber auch deren Schattenseiten. An die Stelle der Solidarität des Klassenbewusstseins trete »eine kulturliberale Angleichung«, eine Ungebundenheit, Mobilität und Flexibilität, die subjektiv als Freiheits-Gewinn empfunden werde, aber objektiv ein Erfordernis des globalen Kapitalismus sei. Die kulturalistische Linke habe - unterstützt durch postmoderne Denker - im Streit z.B. um Transgender-Toiletten »die soziale Frage vergessen« und damit den Kapitalismus gerettet. Darüber hinaus sei dadurch der Rechtspopulismus gestärkt worden, wie bereits der Soziologe Didier Eribon vortrefflich analysiert habe.

Kulturell seien jetzt alle Kombinationen möglich: Der gepiercte Manager, die SM-Investorin, der transsexuelle Notar, der Pop-Oberstaatsanwalt, die anti-rassistische Sicherheitsexpertin, der anarchistische Bankier und umgekehrt natürlich auch der wertkonservative Finanzhai und die christlich-fundamentalistische Puffmutter. Weil kein Idealtypus mehr identifizierbar sei, werde daraus geschlossen, dass es keinen klassenfeindlichen Bourgeois mehr gebe: "Die Kategorie sei überholt, schließlich teilen die Besserverdienenden mit allen aufgeklärten Bürgern dieselbe tolerante und weltoffene Lebenseinstellung. Wir sehen alle gleich individuell aus und tanzen zu derselben Musik". (S. 46) In Wirklichkeit aber - so Paoli - hätten wir eine »Refeudalisierung der Gesellschaft«, also die Selbstreproduktion einer Oberschicht; die Klassenverachtung habe sich gedreht und richte sich jetzt gegen die von der globalen, offenen Gesellschaft abgehängten Menschen, die "... KZ-Hühnchen bei Aldi kaufen, RTL2 schauen, sich am Stammtisch gegen die da oben echauffieren und sexistische Witze reißen. Konservativ sind nur noch die Unterschichten. Rückständige Muslime, Wutbürger. Versager. White Trash". (S. 47) Der Dschungel habe gesiegt - Gleichheit gelte als Synonym für Totalitarismus; die privilegierte Klasse sei Nutznießerin der Ungleichheit in Freiheit. Während in der Parallelwelt der Kultur Freiheit walte, herrsche in der profanen Welt Gehorsam: "Sei nimmersatt in deinem Konsum und moderat in deinen Lohnansprüchen. Genieße und verzichte. Sei kreativ und verstehe, dass es keine Alterative gibt ... Sei loyal und akzeptiere, dass du jederzeit ausgemustert werden kannst". (S. 51/52) Paoli analysiert pointiert und scharfsinnig die kulturellen, politischen und sozialen Begleiterscheinungen und Transformationen des modernen Konsum- und Finanzkapitalismus und scheut auch keine Kritik an Verfehlungen und Irrungen linker Positionierungen und überschreitet damit die gängigen Muster der linken Neoliberalismus- und Kapitalismus-Kritik. Ein Teil der Linken habe sich verrannt, der Gentrifizierung der Kultur und den konsumistischen, neoliberalen Mutationen zugearbeitet.

Guillaume Paoli
Die lange Nacht der Metamorphose.
Über die Gentrifizierung der Kultur.
Matthes & Seitz, Berlin 2017
220 S.
20 EUR.

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Quelle:
© 2018 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juni 2018

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