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BUCHBESPRECHUNG/155: Bernhard Pörksen, Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Bernhard Pörksen
Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung

Klaus Ludwig Helf, Juli 2018


Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hat den Titel seines neuesten Bandes einer Kapitelüberschrift aus Thomas Manns «Zauberberg» entnommen. Dort wird das gesellschaftspolitische Reizklima der Vorkriegsgesellschaft in Deutschland ironisch gespiegelt im abgelegenen Sanatorium, ein abstruses zwischenmenschliches Reizklima der Beunruhigung, der Verstörung und der Ungeduld. Genau dieses finde man heute wieder - so Pörksens These - beim Übergang von der Mediendemokratie alten Typs zur «Empörungsdemokratie« des digitalen Zeitalters.

In dem neuen digitalen Öffentlichkeitstyp werde das klare Agenda-Setting und Gatekeeping des professionellen Journalismus zunehmend zurückgedrängt, weil das Publikum eine neue Medienmacht bekommen habe durch den digitalen Verbund von Plattformen und «sozialen Netzwerken«. So sei heute jeder mit seinem Smartphone oder seinem Tablet über Facebook, Twitter und Co. ein potenzieller Sender: blitzschnell, barrierefrei und weltweit. Jeder könne sich zuschalten und seine eigenen Ideen, Themen oder Produkte verbreiten. Diese digitale Öffnung des kommunikativen Raumes bringe einerseits einen Zugewinn an Informationen, Freiheit und partizipativer Mündigkeit, könne aber andrerseits zu totalisierenden Deformationen einer «Emotions- und Erregungsindustrie« führen. Denn fast alles sei von jedem sagbar und zeigbar geworden ohne Rücksicht auf bewährte kommunikationsethische und journalistische Standards und zivilisierende Diskursfilter wie Fakten- und Wahrheitsorientierung, kritische Skepsis, Bemühen um Objektivität, Transparenz und Fairness, Respekt vor persönlichen Schutzzonen und prüfendes Abwägen vor dem Publizieren. Eine neue «Medienmacht ohne Medienmündigkeit« sei entstanden, die «fünfte Gewalt der vernetzten Vielen«.

Pörksen diagnostiziert in seinem Buch fünf Krisen, denen jeweils ein Kapitel des Bandes gewidmet ist: Wahrheits-, Diskurs-, Autoritäts-, Behaglichkeits- und Reputationskrise. Er belässt es nicht bei seinen Analysen, sondern entwirft im letzten Kapitel eine «konkrete Utopie der redaktionellen Gesellschaft«. Pörksen analysiert an konkreten Beispielen üble und brutale Erscheinungen einer exzessiven, verantwortungslosen Netz-Kommunikation von Fake-News-Panik über Shitstorms, echte oder hochgejazzte Skandale und Spektakel, Terrorwarnungen, Mobbing- und Erpressungs-Attacken durch hochgeladene Videos, Beleidigungen, Hetz- und Hass-Tiraden bis zu üblen Medienkampagnen gegen Personen des öffentlichen Lebens. Im Zuge der Digitalisierung, der Vernetzung und des weltweiten Einsatzes von digitalen Medien würden die verschiedenen Ebenen, das Vergangene und das Gegenwärtige, die Information und die Emotion, das Reale und das Simulierte verschmelzen. Die entscheidende Veränderung in der globalen Organisation von Informationen sei der Wechsel von der stärker publikums- und kontext-spezifischen Segmentierung hin zu einer «integrierenden Konfrontation«: "Man hat nicht mehr oder minder strikt getrennte Informationssphären für Junge und Alte, Kinder und Erwachsene, sondern alle können potentiell alles sehen. Sie können fortwährend senden und empfangen, immer und zu jeder Tages- und Nachtzeit, bei der Arbeit oder in der Freizeit, von jedem Ort der Welt." (S. 13). In der digitalen Gesellschaft sei das digitale Dorf ein gereiztes Dorf, in dem kein Rückzug mehr möglich sei - so Pörksen. Jederzeit würden wir von Katastrophenmeldungen eingeholt, jeder einzelne könne sich jederzeit öffentlich äußern, ebenso aber auch Adressat von Kritik, Pöbelei oder Hetze werden. Dieses forciere eine Stimmung der großen Gereiztheit.

Eine emotionale Isolation im digitalen Zeitalter sei eine Illusion. Medienhistorisch sei das eine Zäsur, die das Kommunikationsklima der Gesellschaft elementar verändere. Die Neuorganisation der Informationswelt bestehe darin, dass sich die Weltbewohner oft «unerträglich« nahe kämen und genötigt seien, einander zuzuschauen, ohne sich ausweichen zu können: "Wir sind gereizt, weil uns der Gedanken- und Bewusstseinsstrom anderer Menschen in nie gekannter Direktheit erreicht, wir ungefiltert der Gesamtgeistesverfassung der Menschheit oder den Einfällen eines delirierenden amerikanischen Präsidenten ausgesetzt werden..." (S. 17). Diesem «kommunikativen Klimawandel« seien die Menschen schutzlos ausgesetzt und reagierten nervös und gereizt auf die mediale, allgegenwärtige und anschwellende Dauerberieselung, der man kaum noch entkommen könne: Wir zappeln hilflos im Netz und wissen nicht, was eigentlich stimmt, was Sache ist und reagieren umso nervöser auf der Suche nach Fixpunkten und Wahrheiten. Der zivilisierende Diskursfilter der hierarchisch-vorsortierenden Sender-Empfänger-Relation fehle weitgehend in den sozialen Medien. Nach Pörksen habe das Internet uns zu einer «redaktionellen Gesellschaft« gemacht, in der jeder Sender und Empfänger sein könne, was zu einem «Clash of Codes« führe, dem Aufeinanderprallen von unterschiedlichen Systemen zur Deutung von Wirklichkeit. An die Stelle einer von professionellen Medien moderierten politischen Diskussion trete die "Empörungsdemokratie", ein permanentes Ringen um Aufmerksamkeit.

Pörksen gelingt es, differenziert und konkret-anschaulich die kollektiven Erregungsmuster und das große Geschäft der Emotions- und Erregungsindustrie im digitalen Zeitalter zu analysieren. Er zeigt auch die Chancen und nicht nur die Gefahren für unsere Gesellschaft und Demokratie. Da er kein Netzpessimist ist, entwirft er im letzten Kapitel seines Bandes die «Konturen einer konkreten Utopie der redaktionellen Gesellschaft«. Die Idee dazu hatte bereits der britisch - australische Medienwissenschaftler John Hartley. Im digitalen Zeitalter gebe es drei publizistische oder kommunikative Machtzentren: der klassische Journalismus, das medienmächtig gewordene Publikum (jeder ist potenzieller Sender) und die Plattformen («soziale Netzwerke« wie Facebook, Suchmaschinen wie Google und Microblogging-Dienste wie Twitter. In dieser Situation des Medienumbruchs müsse ein neues, wirkmächtiges Bildungsprogramm entwickelt werden. Es reiche nicht aus, allein am Individuum oder an einer Ethik des Teilens anzusetzen oder die Strafgesetze zu verschärfen oder an "einem diffusen, politisch entkernten Konzept von Medienkompetenz" festzuhalten, sondern es gelte "... die Player der öffentlichen Welt insgesamt zu involvieren, den Einzelnen mit seinem Netzzugang genauso wie die Journalisten und diejenigen, die Informations- und Meinungsströme in sozialen Netzwerken lenken" (S. 188).

Die neue Kommunikationsutopie sieht nach Pörksen wie folgt aus: "Es ist eine Gesellschaft reflektierter Publikumsentscheidungen, in der die Grundfragen des Journalismus nach der Glaubwürdigkeit und Relevanz von Informationen zu einem Element der Allgemeinbildung geworden sind" (S. 21). Die Normen und Prinzipien eines ideal gedachten Journalismus sollen zum Bestandteil der Allgemeinbildung werden: Wahrheitsorientierung/ Skepsis/ Verständigungs- und Diskursorientierung/ Relevanz und Proportionalität/ Kritik und Kontrolle/ ethisch-moralische Abwägung und Transparenz. Diese Prinzipien sollen nach Pörksen umgesetzt werden durch einen dialogischen Journalismus, verantwortungsbewusste Plattformen sowie durch ein neues Schulfach. Ein Plattformrat aus Unternehmern, Journalisten, Wissenschaftlern, Juristen, und Vertretern des Publikums solle redaktionelle Ethik-Codizes entwickeln und für inhaltliche und wirtschaftliche Transparenz sorgen. Als »Labor für Medienmündigkeit« und «Reporterfabrik« solle das neue Medien-Schulfach interdisziplinär aufgebaut sein mit den Fächern philosophische Ethik, Sozialpsychologie, Medienwissenschaft und Informatik und könnte folgende inhaltliche Schwerpunkte haben: Entstehungsgeschichte und Machtanalyse der digitalen Welt, Entstehung von Wissen und Wahrnehmung und Theorie und Praxis des Mediengebrauchs.

Bernhard Pörksen hat in seinem Band eine kritische und luzide Analyse der digitalen Informations- und Kommunikationswelt geleistet, die trotz der wissenschaftlichen Orientierung auch für Fachfremde flüssig zu lesen und zu verstehen ist. Besonders treffend gelungen ist das Einfangen eines irrlichternden Reizklimas in unserer Gesellschaft. Ambitiös sind die ausgefeilten Vorschläge für eine "redaktionelle Gesellschaft", die sicher eine solide und kreative Grundlage für eine medienpolitische Strategie sein werden.

Bernhard Pörksen:
Die große Gereiztheit.
Wege aus der kollektiven Erregung.
Carl Hanser Verlag, München 2018,
256 Seiten,
22 EUR.

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Quelle:
© 2018 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juli 2018

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