Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → MEINUNGEN

BUCHBESPRECHUNG/016: In der Falle der Stammesideologie (Arn Strohmeyer)


In der Falle der Stammesideologie

Der israelische Anthropologe und Friedensaktivist Jeff Halper sieht den Zionismus als gescheitert an und prophezeit seinem Land eine düstere Zukunft

Von Arn Strohmeyer, Januar 2011


Der Israeli Jeff Halper war von Beruf Professor für Anthropologie an der Universität von Jerusalem. Nach dem Ausscheiden aus dem Dienst übernahm er den Vorsitz der israelischen Friedensorganisation ICADH, die gegen die Zerstörungen palästinensischer Häuser vorgeht. Er geht in seinem Buch über das Nahost-Problem einmal ganz anders an den israelisch-palästinensischen Konflikt heran als sonstige Darstellungen - eben anthropologisch. Er schildert die "normale" Situation des Menschen im Allgemeinen. Und die sieht für ihn so aus: Sie sind eingesperrt in "Boxen", Kästen also. Diese bestehen aus tief verwurzelten sozialen und kulturellen Identitäten, Narrativen, Normen, Erfahrungen und Interessen. Ihnen fest verhaftet zu sein, ist das, was man in der Gesellschaft als "normal" bezeichnet. Die "Normalität" ist aber keineswegs so "normal", wie man meint, sondern meistens sehr beschränkt, von Vorurteilen und Dummheiten bestimmt, die jeder Vernunft widersprechen.

Nun gibt es aber kritische Menschen, die sich nicht an die vorgeschriebenen Muster halten, sondern Löcher in die Box schlagen, sozusagen Fenster zur "Realität" und zur Vernunft öffnen, was aber wiederum die "Wächter" auf den Plan ruft, die die Box errichtet haben. Sie wollen die Menschen darin festhalten und die aufgestoßenen Fenster zur Realität schnell wieder schließen. Denn die Eingeschlossenen sollen die Realität draußen gar nicht sehen. Tun sie es dennoch, werden sie verteufelt und dämonisiert und die Wächter drohen mit Sanktionen und hohen Strafen. Außerdem setzen sie über die Medien eine Propaganda-Kampagne in Gang und vermitteln so die Botschaft: Es gibt gar keine Box - alles ist völlig "normal". Aber die Box ist Realität und die Propaganda hat nur die Funktion, die Menschen "dumm" zu halten. Sie sollen die Realität draußen unter keinen Umständen "verstehen".

Was hat dieses Gleichnis, das an Kafka erinnert, mit dem Nahost-Konflikt zu tun? Die Israelis sitzen - so Halper - in der "Box" der Ideologie einer "jüdisch-nationalen Ethnokratie, d.h. einem archaischen Stammesdenken, das Palästina "exklusiv" für Juden beansprucht. Die Ursprünge dieses "organisch-völkischen Nationalismus" ortet Halper in Osteuropa, wo der Zionismus entstand und dann mit der jüdischen Auswanderung Palästina exportiert wurde. Aus dem exklusiven Anspruch auf das Land ergibt sich automatisch die Entweder-oder-Gleichung: "wir oder sie", d.h. das Land bleibt arabisch oder es wird jüdisch, ein Kompromiss ist nicht möglich.

Halper belegt diese zionistische Position mit vielen Beispielen, etwa auch einem Zitat des Zionistenführers und ersten israelischen Ministerpräsidenten Ben Gurion, der schon 1919 schrieb: "Jeder sieht die Probleme zwischen Juden und Arabern. Aber nicht jeder sieht ein, dass es keine Lösung dafür gibt. Es gibt keine Lösung! Der Konflikt zwischen den Interessen der Juden und den Interessen der Araber in Palästina kann nicht durch Spitzfindigkeiten gelöst werden. Ich kenne keinen Araber, der zustimmen würde, dass Palästina uns gehört - selbst wenn wir arabisch lernen. Und ich habe kein Bedürfnis, die arabische Sprache zu lernen. Wehe uns, wenn wir unser Leben im Arabischen führen müssten! Andererseits sehe ich auch nicht ein, dass 'Mustafa' hebräisch lernen sollte. Es handelt sich hier um eine nationale Frage. Wir wollen, dass das Land uns gehört. Die Araber wollen, dass das Land ihnen gehört."

Daraus ergeben sich - als zionistisches Narrativ - noch einige Schlussfolgerungen, die wie die Sätze Ben Gurions noch heute unumschränkt gültig sind. Halper formuliert sie so: "Das Land [vom Mittelmeer zum Jordan] gehört ausschließlich dem jüdischen Volk. Es gib kein anderes Volk mit stichhaltigen nationalen Rechten oder Ansprüchen auf das Land. Obwohl 'Araber' im Lande Israel leben, stellen sie kein Kollektiv dar, das den jüdischen Exklusivanspruch in irgendeiner Weise in Frage stellen könnte. Da das Land den Juden gehört, verfügen allein sie über das Vorrecht, sein Schicksal zu bestimmen. Jede politische Lösung des gegenwärtigen Konflikts, selbst eine, die einen palästinensischen Staat hervorbringen würde, wird ausschließlich von den israelischen Juden bestimmt. Die Araber mögen konsultiert werden, aber echte Verhandlungen, die auf der Vorstellung beruhen, dass die Palästinenser im Land Israel ein Recht auf Selbstbestimmung haben, kommen nicht in Frage."

Das ist - so Halper - der Kern des Konflikts von Anfang an (der Beginn der zionistischen Besiedlung Palästinas begann um 1880) bis heute. Und wenn es eine Konstante in der Politik israelischer Regierungen gab, dann die der völligen Missachtung der Existenz und der Rechte der Palästinenser, zusammen mit den Bemühungen, diese zu umgehen und das Land Palästina allein für die Juden zu sichern. Die Vorstellung, dass es den Palästinensern gestattet sein sollte, auf dem gesamten besetzten Gebiet - gerade mal 22 Prozent des Landes - einen Staat zu gründen, sei nie ernsthaft von einem israelischen Politiker oder von irgendeiner Partei erwogen worden. Im Gegenteil, Israels offizielle und unzweideutige Politik der "Judaisierung", die der physische Ausdruck der "Exklusivität" sei, schreite rasch voran. Israels Kontrolle über "Judäa und Samaria" (so nennen die Israelis das von ihnen beanspruchte Westjordanland) einschließlich der sieben großen jüdischen Siedlungsblöcke würde immer mehr umfassend und permanent.

Ben Gurion hatte es ja deutlich gesagt: Es kann keine politische Lösung für den Konflikt geben: entweder gewinnen "wir oder sie". Halper sieht die Ursache für ein so starres ideologisches Festhalten in den unversöhnlichen politischen Positionen des "ethnokratischen" Denkens der Zionisten, also in einer Staatsform, die "exklusiv" für den privilegierten "Stamm" der Juden da ist, denn Israel versteht sich als "jüdischer Staat". Ein solcher - so Halper - kann aber nicht zugleich eine Demokratie sein, denn Israel schließt damit ein Fünftel seiner Bürger (die dort lebenden Palästinenser), die nicht zum "Stamm" gehören, von vollen Bürgerrechten aus. Der "Stamm" definiert sich nicht nach staatsbürgerlicher Gleichheit, sondern nach "Rasse, Abstammung, Religion, Sprache und nationaler Herkunft.

Der offiziellen israelischen Sichtweise zufolge tragen die Araber die Alleinschuld an dem Konflikt, weil sie den Zionismus von Anfang an zurückgewiesen und nie akzeptiert hätten. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass Israel das "Opfer" in dieser Auseinandersetzung ist, das nur den Frieden will. Die Araber sind in israelischen Augen "irrational", "fanatisch", "verschlagen" und "antijüdisch" - eigentlich gar keine Menschen. Sie können sich nur als "Terroristen" in "Banden" organisieren, um Israel das Land wieder wegzunehmen. Halper zitiert zum Beleg erschütternde Sätze von israelischen Politikern und Politikberatern. So äußerte Anon Sofer, ein Berater des früheren Regierungschefs Ariel Sharon 2004 über die Palästinenser in Gaza-Streifen, die Israel bedrohten: "Wenn wir am Leben bleiben wollen, werden wir töten und töten und töten müssen den ganzen Tag, jeden Tag". Aus der Verachtung der Araber ergibt sich automatisch, dass sie keine Partner für den Frieden sein können. Israel hat hier "keine Wahl".

Halper formuliert die israelische Sicht so: "Wenn wir Opfer sind, wovon der israelische Sicherheitsmythos ausgeht, dann sind 'sie' definitionsgemäß die Übeltäter. Alle unsere Aktionen sind defensiv. Wir haben nichts mit der Fortdauer des Konfliktes zu tun." Israel hat also nach eigener Auffassung keinerlei Verantwortung für den Konflikt - auch nicht für seine Vorgeschichte: Israels Kriege und Eroberungen, die ethnische Säuberung von 1948 und die Vertreibung von über einer Million Palästinensern und den Raub ihres Landes. Die Alleinschuldigen sind die Araber.

Halper belegt, dass die Wirklichkeit ganz anders aussah. Auf vielen Seiten listet er arabische Friedensinitiativen auf - Israel hat sie alle zurückgewiesen. Halper bietet einen unverdächtigen Zeugen auf, den israelischen Historiker Benny Morris, der seiner Position nach eher ins Lager der rechten "Falken" gehört. Er schreibt: "Jahrzehnte lang belogen Ben Gurion und die nachfolgenden Regierungen die israelische Öffentlichkeit über die Friedensangebote nach 1948 und über das arabische Interesse an einer Vereinbarung. Die arabischen Führer (mit der Ausnahme des jordanischen Königs Abdullah) wurden alle miteinander als Ansammlung unverbesserlicher Kriegstreiber präsentiert, die wild entschlossen Israel auslöschen wollten. Die kürzlich erfolgte Öffnung der Archive bietet ein sehr viel komplexeres Bild."

Das Festhalten an dieser Ideologie des "völkischen, ethnokratischen Nationalismus" ist die "Box", die "Blase" oder die "Festung", in der die israelische Führung festsitzt und die jede Friedenslösung unmöglich macht. Und jeder, der es wagt, diese Weltanschauung zu kritisieren, wird diskreditiert und als "Antisemit" angeprangert. Auch der Jude und israelische Staatsbürger Jeff Halper, der nur von seinem demokratischen Recht zur Kritik Gebrauch macht, wäre nach dieser Definition ein gefährlicher Antisemit, was die Absurdität dieser Argumentation belegt.

Und wie stehen die Israelis in ihrer Mehrheit zu dieser Ideologie ihrer politischen Elite? Die meisten akzeptieren die Vorgaben. Halper schreibt: "Israelische Juden leben hinter einer ideologischen Mauer, die nichts durchlässt, was nicht unmittelbar mit ihnen zu tun hat. Die Palästinenser Israels sind auf diese Weise unsichtbar wie die Palästinenser in den besetzten Gebieten." Die Israelis sind einzig und allein auf ihre persönliche Sicherheit bedacht, glauben in ihrer Mehrheit wirklich, dass man mit "Arabern" keinen Frieden schließen kann, weil sie eben die "ewigen Feinde" sind. Halper: "Das erklärt, warum die jüdischen Israelis nicht aus der Box hinausschauen können und warum sie politische Parteien unterstützen, die die Verstrickung in den Konflikt, dem sie verzweifelt zu entkommen suchen, nur vertiefen." Israelis wollen - so die Schlussfolgerung - in ihrer großen Mehrheit keinen Frieden, sie wollen Sicherheit und das heißt für sie: permanente Kontrolle über die Palästinenser.

Zu Ende gedacht hat eine solche Ideologie und ihre praktische Ausführung furchtbare Konsequenzen - vor allem für die Palästinenser, aber rückwirkend auch für Israel selbst. Denn die Lösung für den Konflikt, die Israel vorschwebt und die vom Westen (USA und EU) rückhaltlos unterstützt wird, ist die "Zwei-Staaten-Lösung". Das klingt zunächst gut, ist aber bei näherer Betrachtung nichts als ein fauler Trick. Denn Israel hat das Westjordanland längst durch seine strategische Besiedlung und den Ausbau seiner (nur für Juden bestimmten) Infrastruktur (Straßen, Autobahnen, Wasser- und Stromversorgung) so unter seine Kontrolle gebracht, dass für einen souveränen und zusammenhängenden palästinensischen Staat im wahrsten Sinne des Wortes kein Platz mehr bleibt. Die Palästinenser sollen bei dieser "Lösung" in kleinen und (zur besseren Kontrolle) auseinander gerissenen Enklaven, Bantustans oder Homelands (nach südafrikanischem Vorbild) eingesperrt werden, ohne ihnen wirkliche Selbstbestimmung zuzugestehen, wie es ihnen nach dem Völkerrecht zusteht.

Halper hält sich hier an die kanadisch-jüdische Ökonomin Naomi Klein, die dieses System des "Wegschließens" von Menschen hinter Mauern in ihrem Buch "Die Schock-Strategie" untersucht hat und zu dem Schluss kommt: "Was Israel aufgebaut hat, ist ein System, ein Netzwerk/Verbund von Freiluftgehegen für Millionen Menschen, die man als überflüssig eingestuft/taxiert hat. Die Palästinenser sind nicht die einzigen auf der Welt, die so kategorisiert worden sind. Das Ausrangieren von 25 bis 60 Prozent der Bevölkerung ist das Markenzeichen des Kreuzzuges der Chikagoer Schule [der neoliberalen Wirtschaftswissenschaften]. In Südafrika, in Russland und in New Orleans umgeben sich die Reichen mit Schutzmauern. Israel hat diesen Absonderungsprozess noch einen Schritt weiter getrieben: Es hat Mauern um die gefährlichen Armen errichtet." Naomi Klein nennt dieses System "warehousing", was so viel heißt wie "ablagern", "ausrangieren" und "einsperren", weil es Menschen, die weder für die Produktion noch für den Konsum der globalen Wirtschaft von Bedeutung sind, schlicht "wegschließt".

Dieses System hat für Israel viele Vorteile: es kann seine Kontrolle über die Palästinenser "entpolitisieren" und "normalisieren". Halper: "Dies erreicht Israel, indem es durch 'vollendete Tatsachen' eine physische Kontrolle schafft und gleichzeitig jeden Bezug auf die Besatzung oder den politischen Konflikt zu beseitigen versucht." An dieser Stelle fragt sich Halper, wieso es sein kann, dass der Westen (also im Wesentlichen die USA und die Staaten der EU), die doch die Monstranz der abendländischen Werte - also Menschenrechte und Völkerrecht - so demonstrativ vor sich hertragen, einer solch zynischen und menschenverachtenden "Lösung" zustimmen können. Halper sieht die Hauptgründe nicht vorrangig in der Schuld für den Holocaust in diesen Staaten und auch nicht in dem zweifellos großen Einfluss der jüdischen Lobby in den USA, sondern in gemeinsamen ökonomisch-militärischen Interessen mit Israel.

Denn der Westen - so der Autor - hat das Problem, sich überall auf dem Globus Rohstoffe sichern zu müssen, die sich aber zumeist dort befinden, wo die Armen der Welt leben. Das Bild des modernen Krieges hat sich insofern verändert, als sein Ziel nicht mehr die Niederlage eines feindlichen Staates ist, sondern die Gewinnung von Ressourcen - die bewaffneten Konflikte der Gegenwart sind deshalb sich lang hinziehende "Ressourcenkriege".

Zudem - so diese These - haben auch die westlichen Staaten das Problem, ihr eigenes "überflüssiges Menschenmaterial" ruhigzustellen und die Sicherheit der Mittelschichten vor denen, die ruhig zu stellen sind, zu gewährleisten. Dieser Pazifierungsprozess ähnelt aber der Kontrolle, die Israel den besetzten Gebieten dauerhaft auferlegt hat. Halper fragt deshalb: "Wenn also die kapitalistische Weltordnung Pazifierung erfordert, um sich die Peripherie mit all ihren Ressourcen, billigen Arbeitskräften und wehrlosen Märkten zu sichern, welch besserer Lehrmeister als Israel ließe sich da engagieren?"

Denn Israel - so die These weiter - reproduziert durch seinen permanenten Krieg gegen die unterdrückten Palästinenser im Kleinen die größeren Kriege zur Kontrolle und Ausbeutung der armen Völker der Welt, die die globalen Mächte angezettelt haben. Halper: "Die Waffen und Methoden der 'Aufstandsbekämpfung', die es in seinem palästinensischen Labor entwickelt hat, werden nur zu gern von US-amerikanischen und europäischen Militärs übernommen, genauso wie das Kontrollmodell selbst."

Israel besitzt die - aus seinen vielen Kriegen sehr erfahrene - viertstärkste Armee der Welt, ist der dritt- bzw. viertgrößte Waffenexporteur weltweit und ist global führend in der Herstellung von Ausspäh- und Sicherheitstechnik. Diese Industrie und das israelische Militär sind mit den militärisch-industriellen Komplexen des Westens durch Kooperation so eng miteinander verbunden, dass in der "Sicherheitszusammenarbeit" der wahre Grund für die gemeinsamen Interessen liegt, so Halper.

Nimmt man das alles zusammen, kann man sich angesichts der völlig asymmetrischen Situation zwischen Israel und den Palästinensern eine wirklich gerechte Lösung des Konfliktes nicht mehr vorstellen. Halper gibt denn auch zu, in Bezug auf eine Lösung ziemlich "ratlos" zu sein. Dennoch weigert er sich zu resignieren. Er setzt seine Hoffnung auf die jüdische Ethik, die Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit fordert. Außerdem setzt er auf die "besseren Traditionen" des Zionismus: auf den "Kulturzionismus". Dessen Vertreter hatten von Anfang an für einen friedlichen Ausgleich mit den Arabern plädiert und davor gewarnt, in Palästina als Eroberer und "neue Herren" aufzutreten, was nur einen ewigen Konflikt mit vielen Opfern hervorrufen würde. Sie haben Recht behalten.

Den heutigen Zionismus sieht Halper als gescheitert an. Denn selbst wenn Israel die ungleiche Auseinandersetzung mit den Palästinensern gewinnen würde, werde der Konflikt endlos weitergehen: "Israel wird dann zu einem Staat, der wie Achad Ha'am [ein zionistischer Schriftsteller, der 1880 nach Palästina kam] befürchtet hat, nichts 'Jüdisches' mehr an sich hat, ein Staat, der auf Unterdrückung beruht, auf Gewalt und Nishul [Vertreibung]. Der politische Zionismus musste moralisch und systemisch scheitern, da er sich nicht mit dem anderen im Land lebenden Volk auszusöhnen verstand. Er ist nicht in der Lage, einen Weg aus diesem Konflikt zu weisen."

Da Israel also friedensunfähig ist, fordert Halper die Palästinenser auf, die Initiative zu ergreifen und einen unabhängigen Staat in den Grenzen von 1967 [Waffenstillstandslinie von 1949] auszurufen. Ein solches Vorgehen, das die Zustimmung der meisten Staaten der Welt und der UNO-Vollversammlung fände, würde eine Lösung des Konflikts mit Israel erzwingen. Es wäre der Versuch der Palästinenser, die Besatzung zu beenden und Israels Rolle als Besatzungsmacht umzuwandeln in die eines Eindringlings, dessen einseitige Militär- und Siedlungsaktivitäten nichts anderes sind als die Verletzung der nationalen Souveränität des neuen palästinensischen Staates. Aber Halper ist Realist und nennt diese Lösung ein "unwahrscheinliches Szenario". Aber es wäre ein auf dem Völkerrecht beruhender Versuch, Israels "genozidale Besatzung" zu beenden. Und es wäre politisch für Israel brisant, sich gegen die Lösung zu stemmen, weil Israel selbst seine einzige völkerrechtliche Legitimation als Staat aus dem UNO-Teilungsbeschluss von 1947 bezieht.

Gegen diese Lösung spricht, dass die Palästinenser dann zwar die Selbstbestimmung hätten, aber nicht die Fähigkeit, ihre Grenzen zu kontrollieren. Zudem weiß Halper, er führt dieses Argument immer wieder an, dass Israel erst zum Frieden fähig sein wird, wenn es sich von seinem Kolonialismus, den es den Palästinensern auferlegt, gelöst hat. Ohne Israels "Entkolonialisierung", Halper nennt es die "Erlösung vom Kolonialismus", wird Israel nicht friedensfähig sein. Erst nach dieser Wandlung wird es in der Lage sein, Verantwortung für seine Geschichte und Politik zu übernehmen und eine Demokratie zu werden, die diesen Namen auch verdient, d.h. ein Staat aller seiner Bürger - wie es übrigens auch in der israelischen Unabhängigkeitserklärung von 1948 steht.

Erst wenn die Israelis also die ideologische "Box" verlassen haben, ist die Lösung möglich, die zugleich eine "Erlösung" von der verhängnisvollen Ideologie der Vergangenheit sein muss. Halper zieht an dieser Stelle eine Parallele zu Deutschland, die vielleicht etwas zu schmeichelhaft ausfällt: "Deutschland hat einen langen Weg zurückgelegt, um sich von seiner, nicht so weit zurück liegenden Vergangenheit zu 'erlösen'. Israel hat sich aber noch nicht einmal auf den Weg gemacht zur Anerkennung des Leids, das es den Palästinensern während der vergangenen 60 Jahre und auch schon zuvor angetan hat, auf den Weg zur Entkolonialisierung des Zionismus."

Die Deutschen sollten dieses Kompliment nicht zu hoch bewerten, denn die meisten Deutschen und vor allem ihre Regierungen stehen - ob aus mangelnder Information oder Schuldgefühlen - rückhaltlos hinter Israels Politik und verschlimmern so die Tragödie der Palästinenser. Damit laden sie neue Schuld auf sich. Der Nationalsozialismus lastet so auch indirekt immer noch schwer auf den Deutschen. Es ist das große Verdient von Halpers Buch, ohne Scheuklappen und Illusionen Israels Politik in ihrer ganzen realen Brutalität darzustellen und vielen vielleicht die Augen zu öffnen und Mut zu machen, sich gegen das Unrecht, das im Nahen Osten geschieht, aufzustehen. Denn wenn die Regierungen versagen, ist es die Aufgabe der Zivilgesellschaft, sich lautstark zu Wort zu melden und in Aktion zu treten. Das ist die vorrangige Botschaft von Halpers Buch. Dass er nicht die perfekte Lösung anbieten kann, ist nicht die Schuld dieses wahren Humanisten.


Jeff Halper: Ein Israeli in Palästina:
Widerstand gegen Vertreibung und Enteignung - Israel vom Kolonialismus erlösen
,
AphorismA Verlag Berlin 2010, 15 Euro


*


Quelle:
© 2011 Arn Strohmeyer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Januar 2011