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REZENSION/079: Effi Biedrzynski - Das große deutsche Novellenbuch (SB)


Effi Biedrzynski


Das große deutsche Novellenbuch



Seit dem PISA-Schock ist von einer Krise des Lesens die Rede. In Deutschland wachsen Projekte und Aktionsveranstaltungen zur Leseförderung wie Pilze aus dem Boden, von Veranstaltungen in Bibliotheken und Literaturhäusern und Empfehlungskatalogen in den Medien bis zu Netzwerken von Vorlesepaten und Arbeitskreisen "Freies lesen" in den Schulen. Ebenso vielfältig werden Argumente angeführt, die für das Lesen sprechen: Lesen fördere den Spracherwerb, biete Gesprächsanlaß, schaffe Vertrauen zu den Eltern, erweitere das Weltbild und rege schon Kinder dazu an, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, so Christoph Schäfer von der deutschen Stiftung Lesen.

Diese öffentliche Diskussion ist deshalb aktuell, weil sich durch Computer und Internet eine Verschiebung der Lesekompetenz eingestellt hat. Das belletristische bzw. literarische Lesen geht zugunsten des informativen Lesens zurück. Jugendliche widmen sich nicht mehr dem konzentrierten Lesen längerer Texte, dafür erfassen sie den Inhalt einer Webpage oft schneller als ihre Eltern. Wichtig ist nur noch die Information, nicht ihre Auswertung. Hypertexte verleiten im Vergleich zu linearen Texten (in Büchern) zu bloßem Konsum und zum Sammeln, statt zum Entwickeln einer Argumentation. Es fällt schwerer, die Aufmerksamkeit auf inhaltliche Probleme und größere Zusammenhänge zu legen, was nichts anderes heißt, als daß das Problembewußtsein abnimmt. Das wirkt sich auch auf das Lesen gedruckter Texte aus, die heute nicht mehr von vorne bis hinten durchgelesen, sondern nur noch überflogen werden. Dabei sind das Vor- und Rückblättern im Buch, sein Fassungsvermögen, die Möglichkeit, es zu transportieren, sein Vorteil, ohne Drähte, Schaltpläne, Stromkreise und Batterien zu funktionieren, nicht vernetzt oder angeschaltet werden zu müssen, nahezu unschlagbar.

Besonders ist die Literatur von den veränderten Lesegewohnheiten betroffen. Auf die Gefahr, daß die Klassiker der deutschen Literaturgeschichte im Internetzeitalter endgültig in Vergessenheit geraten könnten, wird mit einer umfangreichen, sortierten Nachlaßverwaltung reagiert. Heute liegen fast alle literarischen Texte deutscher Sprache in sorgfältig bearbeiteten Editionen vor, aber kaum einer bedient sich noch der literarischen Überlieferung, denn die Einsicht, warum man noch Goethe, Lessing, Schiller und Novalis lesen sollte, ist fast verlorengegangen.


Die Schwierigkeiten damit, den aus welchen Gründen auch immer unlustigen Konsumenten zum Lesen zu motivieren, sind allerdings viel älter. 1794 bittet Friedrich Schiller seinen Zeitgenossen Johann Wolfgang von Goethe, sich für seine Literaturzeitschrift "Die Horen" doch einmal als Unterhaltungsschriftsteller zu versuchen und kleine Erzählungen zu schreiben, die den aufgrund zu "abstrakter Materien" und aufgrund von zu viel Theorie stockenden Absatz des Journals wieder anheben sollen. Goethe gefällt die Idee, das Lesepublikum aufzumuntern und zu locken, und mit unbeirrbarer Leidenschaft (trotz anfänglichen Befremdlichkeiten bei den Lesern) entwickelt er in Anlehnung an Boccaccios "Decamerone" Wesen und Funktion der alteuropäischen Gattung "Novelle" für seine Zeitgenossen weiter. Damit beginnt er eine neue deutsche Kultur des Geschichtenschreibens, die dann besonders von jungen Schreibern aufgegriffen wird und zur Mode avanciert. Bis heute eignet sich die Novelle, dem Wandel von Epoche zu Epoche durch ihre Struktur zu entsprechen. Sie ist so attraktiv und aktuell wie zur Zeit ihrer Entstehung.

Wer sich die Freude machen will, diese Prosaerzählung mit allen ihren Möglichkeiten und literaturhistorischen Aspekten kennenzulernen und noch dazu in einem umfangreichen, der Gattung zugewandten und kundigen Vorwort von 1995 Definition und Entstehungsgeschichte der deutschen Novelle auf eine Weise präsentiert zu bekommen, die sich ebenfalls so spannend und erheiternd wie eine kleine Novelle liest, der sollte sich "Das große deutsche Novellenbuch" in der kompetenten Zusammenstellung von Effi Biedrzynski (1) nicht entgehen lassen. Und wer einen Beitrag zur Überwindung der oben angesprochenen Lesekrise leisten will, der kann mit der Weiterempfehlung dieses dicken "Leseschinkens", einer exzellenten Klassiker-Ausgabe, anfangen, denn schlägt man ihn auf und beginnt zu lesen, befindet man sich mitten in aufregenden, neuen Abenteuern und in den unendlichen Weiten von Zeit und Phantasie und wird hineingezogen und liest Wort für Wort ... Die Frage, warum denn noch "Klassiker" lesen, stellt sich überhaupt nicht mehr.

Denn die "Unterhaltungsliteratur" von einst ist "wie kaum eine andere Erzählform geeignet, [...] in Fabel, Figur und Konflikt die jeweilige Zeitstimmung, die veränderte Weltsicht aufzunehmen und darzustellen" (Vorwort, S. XVI). Kein Film mit noch so gut recherchierten Kulissen könnte dem entsprechen.

Diese Sammlung besteht aus den bekanntesten und typischsten Novellen, von Goethe bis zu Martin Walser, chronologisch geordnet. Was Novellen von anderen Erzählarten angenehm absetzt, ist der "allwissende Erzähler". Die Schriftstellerin Juli Zeh vergleicht zum Beispiel Robert Musils Darstellungsweise mit heutigen Erzählgewohnheiten. Er führe seine Figuren am langen Arm der epischen Distanz:

Das ist strenge und vielleicht manchmal schwer verdauliche Trennkost im Vergleich zum Kochtopfrezept der neuen ICH-Erzählung, die Autor, Erzähler, Figur und Leser auf kleiner Flamme zu einer geschmeidigen Masse verrührt.

(aus Süddeutsche Zeitung, 26.8.2002, Allwissender Märchenonkel - Über ein Unbehagen in der jungen deutschen Literatur) Tatsächlich setzt dieses stilistische Mittel der Erzählperspektive die Möglichkeiten der Novelle frei, wie man der folgenden Definition entnehmen kann:

"Novelle (zu lat. novus, "neu", dann ital. "Neuigkeit", seit der Renaissance lit. Begriff) kürzere Prosaerzählung einer neuen, unerhörten, doch im Gegensatz zum Märchen tatsächlichen oder möglichen Erzählbegebenheit mit einem einzigen, zentralen Konflikt in gedrängter, einsträngig-gradlinig auf ein Ziel hinführender und in sich geschlossener Form und nahezu objektivem Berichtstil ohne Einmischung des Erzählers, epische Breite der Schilderung und Charakterausmalung des Romans, dagegen häufig in Gestalt der Rahmen- oder chronikalischen Erzählung, die dem Dichter eine eigene Stellungnahme oder die Spiegelung des Erzählten bei den Aufnehmenden ermöglicht und den streng tektonischen Aufbau der Novelle, den sie mit dem Drama gemeinsam hat, betont. Die Verwandtschaft zum Drama ist größer als die zum Roman [...] Unterhaltungskunst [...], Goethe definiert die Novelle als 'eine sich ereignete, unerhörte Begebenheit' [...] und betont [...] den Wert des Neuen, Ungewöhnlichen 'weil es ohne Zusammenhang Verwunderung erregt und unsere Einbildungskraft einen Augenblick in Bewegung setzt, unser Gemüt nur leicht berührt und unseren Verstand völlig in Ruhe läßt.' [...] In neuester Zeit Übergang zur Kurzgeschichte." (aus Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, 8. Auflag., Stuttgart 2001, S. 566f)

Wie schon erwähnt, läßt sich die europäische Novelle auf Bocaccios "Decamerone" zurückführen, einer durch eine Rahmenhandlung verknüpfte Sammlung von 100 Erzählungen.

"Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickelt sich die gerahmte Einzelerzählung zu einer der bevorzugten Formen der Novelle: Beispiele dafür sind u.a. "Die schwarze Spinne" (1842) Jeremias Gotthelfs, "Der arme Spielmann" (1847) Franz Grillparzers oder - die Technik durch einen mehrfachen Rahmen gleich potenzierend - Theodor Storms "Schimmelreiter" (1888). Als einer der Meister dieses Novellentyps gilt Conrad Ferdinand Meyer, der den Rahmen als Mittel der Distanzierung und Objektivierung in seinen historischen Novellen nutzt [...] ("Die Hochzeit des Mönchs", 1883-84)." (aus Volker Meid: Das Reclam Buch der Deutschen Literatur, Stuttgart 2004, S. 360f)

Alle hier angeführten Titel bzw. Autoren sind im großen deutschen Novellenbuch von Effi Biedrzynski nachzulesen.

* Anmerkung: (1) Effi Biedrzynski ist die Herausgeberin des Goethe-Kalenders.


Effi Biedrzynski
Das große deutsche Novellenbuch
Patmos Verlag GmbH & Co. KG, 2004
Albatros Verlag, Düsseldorf
1085 Seiten, 30 Novellen
ISBN 3-491-96111-4