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REZENSION/097: Mary Shelley - Frankenstein (Englische Literatur) (SB)


Mary Shelley


Frankenstein oder der Moderne Prometheus

Die Urfassung



Bei den meisten Menschen findet die erste und häufig einzige Berührung mit "Frankenstein" nicht über den Roman, sondern die filmische Aufbereitung statt. Gebannt auf die Fernsehröhre starrend sieht man dann, wie ein mit Hilfe von Blitzen geschaffener, vierschrötiger Unhold durch die Landschaft stapft, gehetzt von einer Meute blindwütiger Bauern, bis ihn in einer lichterloh brennenden Windmühle ein tragisches Ende ereilt. Zu der Aufklärung, daß nicht das Monster, sondern dessen Schöpfer Frankenstein genannt wird, kommt es in der Regel nicht; ebensowenig wie gewöhnlich angesprochen wird, daß das Monster über eine gewandte Sprache verfügt, tiefe Empfindungen besitzt und von seiner Mitwelt allein aufgrund seines Äußeren zurückgewiesen wird, oder daß des Wesens Kern so lange gut ist, bis fortgesetzte Ablehnung und tiefe Ungerechtigkeit seitens der Menschen bei ihm die Schleusen der Rache weit aufstoßen.

Erst durch den Griff zum Buch, dessen vollständiger Titel "Frankenstein oder Der Moderne Prometheus" bereits die Ahnung aufkommen läßt, daß seine Autorin Mary Shelley die griechische Mythologie nicht fremd ist, erfährt man von der Vielschichtigkeit und erzählerischen Dichte des Romans. Jetzt hat Alexander Pechmann zeitgleich mit einer Biographie zu Mary Shelley eine Neuübersetzung der Urfassung dieses faszinierenden Werks vorgelegt. Bereits der Einband des in der "Blauen Reihe" bei Artemis & Winkler herausgegebenen Buchs weckt Appetit auf seinen Inhalt. Abgebildet ist das Gemälde "The Ghost of a Flea" des englischen Dichters und Malers William Blake, das dieser um 1819- 20 gefertigt hat, also kurz nach der Erstveröffentlichung des ursprünglich 1818 anonym und in drei Bänden herausgegebenen "Frankenstein, or the Modern Prometheus" und ausgesprochen passend zu dessen mystisch-düsterer Stimmung.

Diese und nicht jene 1831 von Mary Shelley überarbeitete Version diente Alexander Pechmann als Vorlage seiner Neuübersetzung. Für die Entscheidung, eine vollständige Version des "Frankenstein" herauszugeben, können sich die Leser nur bedanken, denn Shelley hatte unter anderem Textpassagen gestrichen, umgeschrieben oder ob ihres für die damalige Zeit allzu anstößigen Inhalts entschärft, für die sie von einigen Kritikern ziemlich heftig angegriffen worden war, wie durch eine Auswahl an Rezensionen im Anhang der Pechmann-Ausgabe nachzulesen ist.

Mit seinem dem Roman und seiner Autorin sehr zugewandten Nachwort, den zahlreichen Anmerkungen sowie den Angaben zur Neuübersetzung liefert der Übersetzer und Herausgeber anregende Hinweise auf das zeitgenössische Umfeld des "Frankenstein"-Romans, zu seiner auf einer frühen Bühnenfassung beruhenden Verbreitung und späteren Adaption durch die Popkultur. Was der Leserschaft in der gekürzten Version von 1831 entgangen ist, soll beispielhaft an einem Zitat verdeutlicht werden, das in der an ihr orientierten Übersetzung (Frankenstein, Heyne Verlag, 6. Aufl. München 1963) nicht auftaucht. In Pechmanns Übersetzung der Urfassung hingegen lesen wir über die Gedanken, die Frankenstein ereilen, als er einen Alpengipfel hinaufwandert:

Ach! Warum brüstet sich der Mensch damit, dem Tier gefühlsmäßig überlegen zu sein? Das macht uns nur zu bedürftigeren Wesen. Wenn unsere Triebe auf Hunger, Durst und Begierde beschränkt wären, dann könnten wir beinahe frei sein. So aber werden wir von jedem Windstoß umhergetrieben, von jedem zufälligen Wort oder jedem Bild, das uns dieses Wort vermittelt. (S. 101)

Unmittelbar hieran schließt Mary Shelley Verse aus dem Gedicht "On Mutability" (Über Unbeständigkeit) von ihrem Gatten Percy Bysshe Shelley an:

Wir ruhn; ein böser Traum kann uns erscheinen. Stehn auf; ein wandernder Gedanke und der Tag verdorben. Wir fühlen, sinnen, streiten; lachen oder weinen. Umarmen unsre Trauer, dann verwerfen wir die Sorgen; Alles ist eins, denn Glück und Kummer werden weichen, Der Weg für ihren Fortgang ist befreit. Des Menschen Gestern wird nicht seinem Morgen gleichen: Nichts bleibt, nur Unbeständigkeit! (S. 101/102)

Beide Zitate aus der Version von 1818 unterstreichen den sprachlich und inhaltlich üppigen Charakter des Romans und verdeutlichen noch klarer Mary Shelleys ursprüngliches Anliegen, aus ihrem gehobenen Bildungsstand keinen Hehl machend, nicht bloß eine Schauergeschichte schreiben zu wollen, sondern ein literarisches Kunstwerk zu erschaffen oder, mit den Worten der Autorin, um "die Schwächen gegenwärtiger Romanliteratur zu vermeiden" (S. 8). In "Frankenstein" werden grundlegende Menschheitsfragen angerissen: Was unterscheidet Mensch vom Tier? Worauf gründet er seine vermeintliche Überlegenheit? Was braucht ein Mensch, um zu leben? Oder es werden Thesen aufgestellt wie: Der Mensch ist mehr als eine von Hunger, Durst und Begierden, also gewöhnlich seinem Innern zugewiesenen Überlebensnöten, getriebene Existenz, aber er ist zugleich durch äußere Kräfte beherrscht, die die Chance, frei zu sein, verhindern.

An dem obigen Zitat soll nicht aufgezeigt werden, zu welchen inhaltlichen Aussagen die Autorin gelangt ist - in ihrem Vorwort macht sie ausdrücklich darauf aufmerksam, daß man "die Meinungen, die sich auf natürliche Weise aus dem Charakter oder der Situation des Helden ergeben (...) keinesfalls mit meinen eigenen Überzeugungen gleichstellen" (S. 8) dürfe -, sondern es soll ein Eindruck von der außergewöhnlichen Art und Weise verschaffen, in der das Buch verfaßt wurde. Hier werden nicht einfach nur allein auf kurzfristige Effekte abzielende Ereignisse aneinandergereiht, auf die sich viel zu häufig moderne Bücher aus den Genres Grusel, Fantasy und Science-fiction, zu deren Vorläufer Shelleys Roman gezählt werden kann, beschränken. Vielmehr ist "Frankenstein" gespickt mit Ideen aus zeitgenössischen und antiken Büchern, welche die des Französischen und Lateins mächtige Mary Shelley bereits mit 19 Jahren gelesen oder von denen sie wenigstens Kenntnis erhalten hatte. An prominenter Stelle sollen hier die sozialphilosophischen Schriften ihres Vaters William Godwin und die Dichtungen ihres Ehemanns Percy Bysshe Shelley, der ein Anhänger der anarchistischen Ansichten Godwins war, genannt werden - nicht zu vergessen John Miltons 1667 veröffentlichtes Versepos "Paradise Lost" und Johann Wolfgang von Goethes "Die Leiden des jungen Werther" (1774).

Sowohl Mary Shelleys zahlreiche literarische Anspielungen innerhalb der eigentlichen Romanhandlung als auch die eingefügten Verse ihres Mannes geben Zeugnis ab von einer Zeit, in der in avantgardistischen Kreisen der Literatur, Kunst, Philosophie und Wissenschaft mit weitreichenden moralischen und philosophischen Fragen gerungen wurde. Die Haltlosigkeit der menschlichen Existenz oder, wie Percy B. Shelley schreibt, die "Unbeständigkeit" als "das einzig Bleibende" wurden damals durchaus nicht als fatalistische Botschaft aufgefaßt, sondern als eine von vielen menschlichen Zwängen befreiende Erkenntnis. Aussagen wie, daß das Gestern nicht dem Morgen gleicht, lassen sich schwerlich mit einem durch vielerlei Versicherungsverträge und zeitlich streng geregelte Tagesabläufe abgestützten Leben in Einklang bringen. Wenngleich Percy B. Shelley, dessen Lebensweg sich als Inbegriff der von ihm beschriebenen "Unbeständigkeit" darstellt, als der unbändigere Geist galt, so sollte die Auflehnungsbereitschaft Mary Godwins, die im Alter von siebzehn Jahren gegen den ausdrücklichen Wunsch ihres Vaters mit dem bereits verheirateten Dichter durchbrennt, nicht geringgeschätzt werden.

Pechmanns Neuübersetzung des einst als gotteslästerlich empfundenen Romans aus der Feder der jungen Shelley macht allein deshalb Sinn, weil dadurch ursprüngliche Textpassagen, die nicht der Zensur der erwachsenen Autorin zum Opfer fielen, wieder den lesenden Blick erfreuen dürfen. Natürlich sollte die Frage, wie der Roman ins Deutsche übersetzt wurde, nicht ausgespart bleiben. Dazu ein Zitat aus einer anderen Übersetzungen des gleichen Handlungsabschnitts. Beschrieben wird hier der Beginn des Berichts, den der Unhold seinem Schöpfer über seine ersten Erfahrungen als soeben in die Welt geworfenes Wesen abgibt, um ihn davon zu überzeugen, daß er ihm eine Partnerin erschaffen müsse, da er von den Menschen keine Nähe zu erwarten habe:

Der Mond war vom Nachthimmel verschwunden und hatte sich in schwächerer Gestalt wieder gezeigt, als ich noch immer im Walde weilte. Mein Empfindungsvermögen war bereits zuverlässig geworden, mein Geist eignete sich täglich neue Vorstellungen an. Meine Augen gewöhnten sich ans Licht und erkannten nun Gegenstände in ihrer richtigen Gestalt. Ich unterschied das Insekt von der Pflanze, dann eine Pflanze von der anderen. Auch stellte ich fest, daß der Sperling nur kreischte, während Amsel und Drossel süß und verlockend flöteten. (Heyne, München 1963, S. 88/89; übersetzt von Christian Barth)

Der Mond war vom nächtlichen Firmament verschwunden und zeigte sich erneut in seiner schmaleren Gestalt, während ich weiterhin im Wald lebte. Meine Wahrnehmung hatte inzwischen an Klarheit gewonnen und mein Verstand empfing täglich neue Eingebungen. Meine Augen gewöhnten sich an das Licht und konnten inzwischen Dinge in ihrer wahren Form erkennen. Ich konnte das Insekt von der Pflanze unterscheiden und allmählich eine Pflanze von der anderen. Ich bemerkte, daß der Spatz nur schrille Töne von sich gab, während jene von Amsel und Drossel lieblich und bezaubernd waren. (Artemis & Winkler, Düsseldorf 2006, S. 108)

Pechmanns Übersetzung wirkt zeitgemäßer, und das nicht nur, weil er statt des "Sperlings" einen "Spatz" schrille Töne von sich geben läßt. Anstelle von "Empfindungsvermögen" wählte Pechmann das Wort "Wahrnehmung", das eher in die heutige Zeit mit dem stärkeren Einfluß der Neurowissenschaften und Psychologie zu passen scheint. Das trägt mit dazu bei, daß sich der Text den Lesegewohnheiten des 21. Jahrhunderts entsprechend ein wenig flüssiger liest. Dafür geht umgekehrt eine gewisse Holprigkeit, wie sie durchaus zu der Sprechweise eines Wesens paßt, das seine ersten Lebenserfahrungen schildert, verloren. Zudem wird mit "Wahrnehmung" eine stärkere Abstraktion ausgedrückt, während "Empfindungsvermögen" näher an der persönlichen und noch nicht voll ausgebildeten Fähigkeit des Berichterstatters, die Welt um sich herum einzuordnen, liegt.

Die ältere Übersetzung Barths, "mein Geist eignete sich täglich neue Vorstellungen an", wirkt ebenfalls weniger abstrakt als Pechmanns "mein Verstand empfing täglich neue Eingebungen". In der ersten Version erweckt das Geschöpf einen aktiveren Eindruck, sein "Geist" begegnet der Welt mit Wißbegierde, während hinter Pechmanns Übersetzung auch ein Apparat (Verstand) stecken könnte, der mit Daten (Eingebungen) gefüttert wird. Ähnlich wie bei dem Begriff "Wahrnehmung" wird auch hier von dem Subjekt abstrahiert. Dagegen wirkt Pechmanns "nächtliches Firmament" stimmungsvoller als Barths "Nachthimmel", ohne daß die Neuübersetzung in Schwülstigkeit abglitte.

Diese Vergleiche zeigen, daß beide Übersetzungen ihre Eigenarten haben, die zur jeweiligen Entstehungszeit passen und deshalb nicht austauschbar sind. Pechmanns Übersetzung ist modern, aber nicht verflacht; komplexere Satzkonstruktionen des Originals wurden behutsam behandelt, also nicht durch übermäßigen Einsatz von Punkten in vermeintlich verdaulichere Portionen zerhackt.

Wie in der Version Barths vermittelt auch die Neuübersetzung einen tiefen Eindruck von Mary Shelleys für die Kulturepoche der Romantik bezeichnenden Aufgeschlossenheit, ja, geradezu Erwartungsfreude gegenüber einer neuen, wissenschaftlichen Zeit (Chemie statt Alchimie; Einsatz der 1789 von Luigi Galvani entdeckten "tierischen Elektrizität"), ohne daß die Autorin deswegen die Achtung vor dem Alten (Fürsprache des Universalgelehrtentum, starker Bezug zu Mythen) preisgegeben hätte. Als verwerflich galt damals, daß Shelley den Schöpfungsakt sehr materialistisch schilderte. Das Wesen wurde aus Leichenteilen zusammengesetzt, nach chemischen Verfahren bearbeitet und anschließend nicht etwa durch göttlichen Impuls, sondern durch den zündenden Funken des Forscherwissens ins Leben gerufen.

Anders als in der bekannten Filmversion, in der der Schöpfungsakt dramatisiert wird, erschafft Victor Frankenstein in der Romanvorlage das Wesen überraschend unspektakulär. Die Schöpfung ist bei Shelley kein Mysterium, auf das die "Kamera" des Erzählers im besonderen Maß gerichtet werden müßte, sondern wirkt wie die logische Folge einer von Wissensdurst unnachgiebig vorangetriebenen Entschlossenheit des "modernen Prometheus", einen Menschen zu erschaffen. Die mythische Gestalt des Prometheus, die bereits bei Hesiod (um 6. Jh. v. Chr.) erwähnt wird, hatte die Menschen aus Lehm erschaffen und den Zorn des Göttervaters Zeus heraufbeschworen, weil er ihnen das Feuer brachte. Zur Strafe wurde Prometheus an einen Fels geschmiedet, und ein Adler hat Tag für Tag ein Stück seiner Leber gefressen, die immer wieder nachwuchs. Doch letztlich wurde der Frevler von Herakles erlöst, wohingegen Shelleys "moderner Prometheus" Frankenstein aufgrund seiner Hybris zugrundeging.

Mit ihrem bildreichen Werk hat Mary Shelley einen literarischen Meilenstein gesetzt, was die Aufnahme in die Reihe "Winkler Weltliteratur" uneingeschränkt rechtfertigt. Hatte die Lektüre des später überarbeiteten Romans "Frankenstein" schon Freude bereitet, so bietet Alexander Pechmanns Übersetzung und Herausgabe der Urfassung einen besonderen Lesegenuß, auf den niemand verzichten sollte, der sich für die Romantik oder die Wurzeln der Gothic- Szene, für englische Literatur oder Sprache allgemein interessiert.

04.10.2006


Mary Shelley
Frankenstein oder der Moderne Prometheus
Die Urfassung
Aus dem Englischen neu übersetzt und
herausgegeben von Alexander Pechmann
Artemis & Winkler, Düsseldorf, 2006
302 Seiten, Euro 24,90
ISBN: 3-538-06317-6