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REZENSION/109: Jürgen von Stackelberg, Hg. - Conteurs français (SB)


Jürgen von Stackelberg, Hg.


Conteurs français

Récits, contes et nouvelles du XVIIe au XXe siècle



Zwölf französische "Kurzgeschichten" aus dem 17. bis 20. Jahrhundert sind in diesem Band versammelt, ausgewählt und vorgestellt von einem Herausgeber, auf dessen Sachkenntnis und Engagement man sich zweifelsfrei verlassen kann. Es lohnt sich also - auch wenn es aufgrund von Lesegewohnheiten, die nicht denen vergangener Zeiten entsprechen, schonmal schwerfallen mag -, sich diesen Texten mit einiger Aufmerksamkeit zu widmen. Jedes dieser kleinen Erzählstücke ist mit einer kurzen Einleitung zu Autor und/oder Werk versehen, der mit Hintergrundinformationen eine Orientierung bietet, Lust auf's Lesen macht und darüber hinaus Hinweise für die weitere Beschäftigung (Literaturverweise) gibt.

Einen Ersatz für eine Literaturgeschichte bieten weder die Einführungen noch die Texte selbst. Mehr als gewisse epochentypische Aspekte anzusprechen, war hier nicht möglich. Aber die Zusammenhänge, die in Literaturgeschichten aufgedeckt werden, und alle Daten und Fakten, bleiben totes Wissen, wenn die Anschauung einzelner Dichtungen nicht hinzukommt. Lebendig wird die Literatur erst, wenn sie gelesen, nicht, wenn sie im Überblick zur Kenntnis genommen wird.
(aus der Vorbemerkung, S. 7)

Die vorliegenden Texte befassen sich mit Ereignissen, Überlegungen, Fantasien und Gefühlsregungen, die uns auch heute nicht wirklich fremd sind. Dazu hat man es hier mit Dichtern zu tun, die dem Leser die lästige Frage: Was will der Autor hier eigentlich sagen, ersparen. Sie mögen zum eigenen Vergnügen, zur Unterhaltung von Zuhörern und Lesern geschrieben haben oder zu dem Zweck, einen Gedanken durchzuspielen, einen Faden weiterzuspinnen - nie langweilen sie den Leser mit introvertiertem Genius oder eigensprachlicher Virtuosität.

Die Geschichte von Dornröschen zum Beispiel wirkt mit ihrem ironisierenden Unterton sehr modern und paßt in dieser Hinsicht zum aktuellen bissig schnoddrigen Erzählton. Dennoch stammt die vorliegende Fassung von Charles Perrault aus dem 17. Jahrhundert und ist, zu ihrer Ehrenrettung gesagt, um einiges unterhaltsamer. Darüber hinaus ist sie nicht durch die Grimm'sche Zensur gegangen und wartet für jene, die lediglich die bereinigte Fassung kennen, mit ein paar Überraschungen auf...

Nachdem unsere Prinzessin ihre 100 Jahre im Schlaf hinter sich gebracht und während dieser Zeit nicht um ein Minütchen gealtert, jedoch sehr viel weiser geworden ist, sinkt dann endlich der erlösende Prinz vor ihrem Himmelbett auf die Knie:

- Est-ce vous, mon Prince? lui dit-elle; vous vous êtes bien fait attendre.

Le Prince charmé de ces paroles, et plus encore de la manière dont elles étaient dites, ne savait comment lui témoigner sa joie et sa reconnaissance; il l'assura qu'il l'aimait plus que lui-même. Ses discours furent mal rangés, ils en plurent davantage: peu d'éloquence, beaucoup d'amour. Il était plus embarrassé qu'elle; et

l'on ne doit pas s'en étonner: elle avait eu le temps de songer à ce qu'elle aurait à lui dire; car il y a apparence (L'Histoire n'en dit pourtant rien) que la bonne Fée, pendant un si long sommeil, lui avait procuré le plaisir des songes agréables. Enfin il y avait quatre heures qu'ils se parlaient, et ils ne s'étaient pas encore dit la moitié des choses qu'ils avaient à se dire.
(Charles Perrault: La Belle au bois dormant, S. 59-60)

Sprachliche Reichhaltigkeit beschränkt sich nicht auf unterschiedliche Wortwahl und Redewendungen, sondern schließt (sprachliche) Erfindungen, neue Kombinationen und Inhalte ein, die manchmal auch für den Autoren sprachlich kaum zu fassen zu sein scheinen und auch aus diesem Grunde dem Leser ein wenig mehr Aufmerksamkeit abfordern. Nicht immer mögen die Vorbemerkungen und die Worterklärungen von Herausgeberseite ausreichen, denn der Kenntnisstand des Lesers in spe ist schwer vorherzusehen. Die Worterklärungen der Reclam-Ausgabe beziehen sich zudem üblicherweise eng auf den Kontext. Um einen Begriff in seiner ganzen Spannbreite zu erfassen, die immer mitschwingt, so sehr man sich auch bemüht, die passende direkte Übersetzung zu finden, ist es häufig ratsam, doch noch einmal ein - umfangreiches - Wörterbuch zu konsultieren. Dennoch bleibt es nicht aus, daß die eine oder andere Anspielung Rätsel aufgibt, die auch den Herausgeber im Dunklen läßt und somit eine stete Herausforderung bietet.

Reich an Bezugnahmen in diesem Sinne ist die satirische Schilderung der umfassenden kommerziellen wie politischen Verwertung des Nachthimmels in "L'affichage céleste" (Himmelsreklame oder "Himmlische Bekanntmachung") von Villiers de l'Isle-Adam (1838-1889): Ein Ingenieur entwickelt im Geiste, nicht zuletzt angeregt durch verschiedene Naturphänomene und den berühmten amerikanischen Erfinder Benjamin Franklin, ein technisches Verfahren - das Lampascope -, mit dem sich allerlei Werbesprüche sowie Steckbriefe mit Photografien und - welche Aussichten gar für eine Weltregierung, meint der Dichter - (Wahl)propaganda mit den entsprechenden je nach Bedarf im Ausdruck wandelbaren Konterfeis an das Himmelszelt projizieren lassen, das ansonsten so nutzlos über unseren Köpfen schwebt.

Il suffit de réfléchir, un tant soit peut, pour concevoir les résultats de cette ingénieuse invention. - Ne serait-ce pas de quoi étonner la Grande Ourse elle-même, si, soudainement, surgissait, entre ses pattes sublime, cette annonce inquiétante: Faut-il des corsets, oui, ou non? ... Quel émoi si, à propos de ces liqueurs de dessert dont on recommande l'usage a plus d'un titre, on apercevait, dans le sud de Régulus, ce chef-lieu du Lion, sur la pointe même de l'Épi de la Vierge, un Ange tenant un flacon à la main, tandis que sortirait de sa bouche un petit papier sur lequel on lirait ces mots: Dieu, que c'est bon!...
(Villiers de l'Isle-Adam: L'affichage céleste, S. 249 und 250)

Vielleicht sind diese kürzeren Texte ein knappes Zugeständnis an die heutzutage noch knappere Geduld vieler Leser, dennoch freut eine solche auf diese Weise durchdacht gestaltete Sammlung, weil sie eine Tradition des Lesens und Erzählens hochhält, die in Gemeinschaft mit dem Vermögen, mehr in Achtung zu nehmen als das eigene engste Umfeld, zunehmend verlorenzugehen droht. Daß dieser Trend als eine Begleiterscheinung der sich qualifizierenden gesellschaftlichen Raubverhältnisse gelten kann, die der Mehrzahl der Menschen kaum die Möglichkeit lassen, sich mit mehr als dem eigenen Überleben zu beschäftigen, soll hier einmal mehr nicht unerwähnt bleiben. Angesichts dieses Fortschritts ist jede, wenn auch noch so geringe Regung in die "rückwärtige" Richtung zu begrüßen, die zumindest die Erinnerung und damit den Wunsch wecken könnte, den feindlichen Verhältnissen etwas entgegenzusetzen. Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Wir haben es in diesen Texten, auch wenn der eine oder andere "Freigeist" darunter zu finden ist, nicht mit Rebellen gegen die herrschende Ordnung zu tun, sondern eher mit jenen, die sich aufgrund dieser Verhältnisse einen gewissen Freiraum bewahren konnten. Dennoch lohnt es sich um der Erweiterung des eigenen, nicht nur gedanklichen und sprachlichen Spielraums willen, sich diesem Widerspruch zu stellen. Nicht zuletzt treibt viele Leser noch immer der Wunsch, zumindest in Gedanken den Alltag zu verlassen, in dem man als Mensch zu funktionieren und kaum eine Möglichkeit Einfluß zu nehmen hat, auf der Suche, diesem etwas entgegenzusetzen.

Sie [Literatur] ist etwas Ernsteres. Sie ist eine echte Alternative, keine Flucht vor der Wirklichkeit, sondern eine Gegenwirklichkeit, mancher sagt: die eigentliche Wirklichkeit. Nur in großer Literatur sind vergangene Zeiten gegenwärtig, nur hier ist das Innere eines anderen für uns erfahrbar, nur hier können wir uns selbst als Fremde begegnen, nur hier sind Anarchie und Subjektivität wirklich zu Hause.
(aus: "Zeichen und Wunder, gute Bücher bilden nicht nur Herz und Verstand: Sie machen auch glücklich", von Iris Radisch, DIE ZEIT Nr. 51, 11.12.2003)


Die Texte im Überblick:

Charles de Marguetel de Saint-Denis, Seigneur de Saint-Évremond (1614-1708): Conversation du Maréchal d'Hocquincourt avec le Père Canaye
Marie-Madeleine Pioche de la Vergne, Comtesse le la Fayette (1634-1692): La Comtesse de Tende
Charles Perrault (1628-1703): La Belle au bois dormant
Charles-Louis de Secondat, Baron de Montesquieu (1689-1755): Histoire d'Ibrahim et d'Anaïs
Voltaire (d.i. François-Marie Arouet, 1694-1778): Micromégas
Denis Diderot (1713-1784): Ceci n'est pas un conte
Dominique Vivant Baron Denon (1747-1825): Point de lendemain
Alfred de Musset (1810-1857): Histoire d'un merle blanc
Philippe-Auguste Comte de Villiers de l'Isle-Adam (1838-1889): L'affichage céleste
André Gide (1869-1951): Le retour de l'enfant prodigue
Marcel Aymé (1902-1967): Le loup
Marcel Pagnol (1895-1974): Les amours de Lagneau

19. September 2008


Conteurs français
Récits, contes et nouvelles du XVIIe au XXe siècle
Ausgewählt und herausgegeben von Jürgen von Stackelberg
unter Mitwirkung von Thirza Albert
Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 2008
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 19745
349 Seiten, 7,80 Euro
ISBN 978-3-15-019745-5