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REZENSION/109: Noam Chomsky - Profit Over People (Neoliberalismus) (SB)


Noam Chomsky


Profit Over People

Neoliberalismus und Globale Weltordnung



Neoliberalismus und Globalisierung erfreuen sich gerade in bürgerlichen Medien großer Beachtung, denn inzwischen greift die ökonomische Verelendung auch nach wohlhabenderen, sich schon von ihrer Herkunft her vor dem Abgrund der Armut gefeit fühlenden Schichten der Gesellschaft. Insbesondere in der Bundesrepublik trauert man den Tagen relativen Wohlstands und vor allem sozialer Absicherung nach, die das bis 1973 kaum unterbrochene Wirtschaftswachstum im korporatistischen System des sogenannten rheinischen Kapitalismus zumindest im Vergleich zu heutigen Zuständen ermöglichte. Da der Schuldige einen Namen braucht, der die systemischen Grundlagen der privilegierten Stellung der potentiellen Leserschaft, die den positiven Besprechungen zufolge, die das Buch erhielt, dem Publikum zwischen Zeit und taz entspricht, nicht in Frage stellt, bietet sich der Neoliberalismus und das von seinen Verfechtern geforderte Niederreißen eines jeden gesetzlichen und nationalstaatlichen Hindernisses, das sich dem Kapitel in den Weg stellt, als geeignetes Objekt der Empörung an.

Noam Chomsky empfiehlt sich mit seinem 1999 auf englisch erschienenen und im Jahre 2000 ins Deutsche übersetzten Buch "Profit Over People" einer Klientel, die mit grundlegender Kapitalismuskritik nichts am Hut hat und auch nicht haben will. Sein Anliegen ist nicht das einer systematischen Aufarbeitung des Neoliberalismus als einer qualifizierten Form kapitalistischer Funktionslogik, sondern die Darstellung der Widersprüchlichkeit zwischen neoliberalem Anspruch und staatsinterventionistischer Praxis, wie man allerdings erst auf der letzten Seite des Buches erfährt:

In diesem Überblick habe ich den Versuch unternommen, einem nachvollziehbaren methodologischen Prinzip zu folgen: Ich wollte die so hoch gepriesenen 'politischen und ökonomischen Prinzipien' der vorherrschenden Weltmacht überprüfen, indem ich mich an die von den Vertretern dieser Prinzipien selbst gewählten Paradebeispiele hielt. Der Überblick ist kurz und unvollständig und beschäftigt sich mit Vorgängen, die undurchsichtig sind und nicht ohne weiteres verstanden werden können.

Dieses Eingeständnis tat not, denn der vielbeschäftigte 72jährige Sprachwissenschaftler, der seit Jahrzehnten am Massachusetts Institute of Technology (MIT) lehrt und in vielen Schriften und auf zahllosen Vorträgen seiner Kritik an der Außenpolitik der USA Ausdruck verleiht, hat das Buch offensichtlich mit heißer Nadel gestrickt und dabei zwar einen Abriß über besonders krasse Beispiele des amerikanischen Wirtschaftsimperialismus geschaffen, sich die Aufhebung seiner ideologischen Grundlegung jedoch erspart. So verdeckt die Indifferenz, mit der er den Neoliberalismus in Anlehnung an einen für den Faschismus verwendeten Begriff als "Kapitalismus ohne Maske" kennzeichnet, um ihn dann wiederum vom Faschismus abzugrenzen, da der Neoliberalismus am besten in einer formellen parlamentarischen Demokratie funktioniere, "in der die Bevölkerung systematisch davon abgehalten wird, sich an Entscheidungsprozessen sinnvoll beteiigen zu können", mehr, als sie enthüllt.

Warum sich überhaupt vom Faschismus abgrenzen, wenn die Unterschiede im Ergebnis die einer totalitären Verfügungsgewalt sind, deren Macht eben nicht auf Profit, sondern letztendlich immer auf den Läufen der Gewehre beruht? Schließlich zeigt sich gerade seit dem 11. September, daß die nationalistische und rassistische Qualität, die Chomsky zum wesentlichen Abgrenzungskriterium des neoliberalen zum faschistischen Kapitalismus erhebt, in heutigen westlichen Demokratien sich de facto nicht von den Ausschlußmechanismen unterscheidet, die etwa das Italien Mussolinis, auf das der Faschismusbegriff originär anzuwenden ist, etablierte.

Chomsky geht es mit solchen Definitionsmanövern darum, die parlamentarische Demokratie als wesentliches Standbein seiner linkslibertären Weltanschauung davor zu retten, als Träger kapitalistischer Vergesellschaftung disqualifiziert zu werden. Dabei hat sie bisher nicht den Beweis antreten können, daß es ihren Verfechtern um etwas anderes ginge, als ihre herrschaftssichernde, weil konträre gesellschaftliche Interessen harmonisierende Funktion auch unter den vermeintlich optimaleren Bedingungen eines weniger rücksichtlosen Ausbeutungssystems aufrechtzuerhalten. Chomskys prinzipielle Wertschätzung der amerikanischen Demokratie, deren partizipatorisches Potential lediglich durch Sonderinteressen überwuchert sei, und die monierte Nichteinhaltung wirtschaftsliberaler Prinzipien zugunsten einer kleinen Minderheit von Profiteuren läßt erkennen, daß es ihm um eine libertäre Version des von seiner sozialen Ungerechtigkeit bereinigten Kapitalismus geht, dem er mit der Erinnerung an die humanistischen Forderungen eines Adam Smith oder Wilhelm von Humboldt und an Staatskonzeptionen Rousseauscher Demokratietradition zur Geltung verhelfen will:

Ich verweise hier nur nebenbei auf sehr komplizierte und faszinierende Themen, die meiner Meinung nach den Schluß nahelegen, daß die Leitsätze des klassischen Liberalismus ihren natürlich modernen Ausdruck nicht in der neoliberalen 'Religion' finden, sondern in den unabhängigen Organisationen der arbeitenden Menschen und in den Ideen und Praktiken der libertär-sozialistischen Bewegungen, die im 20. Jahrhundert von so großartigen Denkern wie Bertrand Russell und John Dewey formuliert wurden.

So gerät die das Buch wie ein roter Faden durchziehende Bemängelung nichteingehaltener neoliberaler Ansprüche und die Tatsache, daß an keiner Stelle ein Gegenentwurf präsentiert wird, der mit dem Ideal des Marktes und des Freihandels bricht, zu einer Apodiktik marktradikaler Wirtschaft, zu deren wohltätigem Wirken es lediglich die Emanzipation der ihrer demokratischen Rechte beraubten Menschheit bedürfte. Eine Kritik an den konstituierenden Bedingungen der Marktwirtschaft, nämlich des kapitalistischen Akkumulationsinteresses und der daraus resultierenden gesellschaftlichen wie ökonomischen Widersprüche, wird nicht geleistet, sondern der Autor beschränkt sich auf die Einforderung einer gerechteren Verteilungspraxis vor dem Hintergrund rücksichtslosen Profitstrebens.

Daß dieser Mißstand durch einen allgemeinen Appell an die Verwirklichung von Freiheit und Gerechtigkeit auf globaler Ebene zu korrigieren sei, kann nur als frommer Glaube bezeichnet werden. Ausgerechnet der sich so nüchtern und aufgeklärt gebende Chomsky weckt bei seinen Lesern Erwartungen, mit denen er einer staatstragenden Propaganda zuarbeitet, die nicht von ungefähr dem gleichen moralischen Selbstverständnis entspringt, von dem aus ihre Kritiker agieren:

Viele sind der Ansicht, daß diese gesellschaftlichen Mißstände schon in naher Zukunft beseitigt werden können; eine Hoffnung, die nicht ganz unbegründet ist. In den letzten Jahren sind brutale Diktaturen in sich zusammengefallen, während die Wissenschaft vielversprechende Fortschritte gemacht hat - zwei Gründe unter anderen für die Annahme, daß wir einer besseren Zukunft entgegensehen.

Ob aus Zweckoptimismus oder ernsthafter Überzeugung getätigt, solche Aussagen können nur die relative Belanglosigkeit von Chomskys Kritik am Neoliberalismus unterstreichen. Während er dafür bekannt ist, die Lügen amerikanischer Regierungspolitik detailliert aufzudecken und vorbehaltlos anzuprangern, verkommt der Versuch, dem eine Grundlage in der Ökonomiekritik zu geben, zu einer Kurve, die geradewegs zurück ins Refugium des wohlbehüteten Akadamikerdaseins führt.

Chomsky rekurriert nicht umsonst auf ein ökonomisches Funktionsideal, dessen unerreichte Verwirklichung jedem ersichtlich ist, der so viel Interesse aufbringt, ein Buch diesen Titels zu erstehen. Indem er den Anspruch des Wirkens sogenannter Marktkräfte durch die Darstellung internationaler Kapitalkonzentration und staatlicher Eingriffe zu ihren Gunsten als solchen herausstellt, jedoch an keiner Stelle über das Marktaxiom hinausgeht, kultiviert er das Versprechen, man könne durch demokratische Regulation ein auf Angebot und Nachfrage basierendes System der Verteilungsgerechtigkeit schaffen, das gleich dem neoliberalen Anspruch jeden Anhaltspunkt auf seine Verwirklichung vermissen läßt.

Da der geldförmige Profit aufgrund der Akkumulationskrise des Kapitals eine höchst prekäre Angelegenheit und die Frage der Besitzstandsicherung für seine Nutznießer ein ungelöstes Problem ist, steht vielmehr eine Qualifizierung der Schaffung stabiler Verwertungsverhältnisse und Ressourcensicherung auf der Agenda herrschender Kräfte. Wenn sich das protektionistische Verhältnis von Staat und Wirtschaft durch ein libertäres Demokratiepostulat auseinanderdivideren ließe, dann hätte dies schon längst eine grundlegende Schwächung des Primats der Ökonomie einleiten müssen. Zwei Jahre nach dem ersten Erscheinen von "Profit Over People" zeigt sich jedoch, daß geradewegs das Gegenteil der Fall ist. Die Staatsgewalt sichert die Stabilität herrschender Verhältnisse durch dezisionistische Autokratie und denkt kaum daran, dem Anspruch der Bevölkerungen auf größere Partizipation zu entsprechen.

Schließlich bedingt gerade die systemische Unzulänglichkeit des Kapitalismus, daß er durch die militärische, administrative und währungspolitische Verfügungsgewalt des Staates gegen all diejenigen gesichert werden muß, deren Elend nicht etwa eine Folge bloßer Raffgier einiger weniger wäre, sondern der den Produktionsverhältnissen immanenten Zerstörungsqualität entspringt. Gerade der von Chomsky gelobte Fortschritt der Wissenschaft befördert als Auswuchs kapitalistischen Verwertungsinteresses die Erzeugung von Mangel, sei es durch die zunehmende Automatisierung der Fabriken und Büros, deren qualitatives Wirken allein am Maßstab der Produktivität und nicht ihres Nutzens für die Menschen bemessen wird, sei es durch die Ausbeutung humaner und natürlicher Ressourcen, der ohne die Mittel der Mikroelektronik und Biomedizin Grenzen gesetzt wären, hinter denen sich ihre Opfer vor dem Zugriff einer noch nicht alle biologischen und gesellschaftlichen Terrains okkupierenden Technokratie entziehen konnten, sei es durch Sozialwissenschaften, die die Verdinglichung des Menschen zum einzigen Maßstab seiner Existenzberechtigung erheben.

Chomskys Kritik am Neoliberalismus dient sich mithin dem Reformismus jener Globalisierungskritiker an, die meinen, etwa durch die Besteuerung von Spekulationsgewinnen und das Erlassen von Schulden ein globales Raubsystem zivilisieren zu können, dem es im Kern um den Ausbau der Herrschaft des Menschen über den Menschen geht. Wäre er dabei geblieben, den von ihm diagnostizierten Charakter des Neoliberalismus als eines "Kapitalismus ohne Maske" zur Frage nach dessen Voraussetzungen zu entwickeln, dann wäre ihm die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Kapital und Arbeit nicht erspart geblieben. Das wäre gerade vor dem Hintergrund des von ihm in Anspruch genommenen Liberalismus ein fruchtbares Unterfangen gewesen, um die "undurchsichtigen" Vorgänge der Wirtschaft und ihres Verhältnisses zum Staat wenn schon nicht zu erhellen, dann doch in den Stand einer Frage zu versetzen, die weiter führte und den Leser nicht mit dem Gefühl zurückließe, der Autor habe sich an zentralen Schlußfolgerungen zu den von ihm aufgeworfenen Widersprüchen vorbeigemogelt.


Noam Chomsky
Profit Over People
Neoliberalismus und Globale Weltordnung
Europa Verlag, Hamburg, 2000