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REZENSION/122: Müller-Heidelberg u.a. - Grundrechte-Report 2002 (SB)


Herausgeber: Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Elke Steven, Jens Neubert, Jürgen Miksch, Wolfgang Kaleck und Martin Kutscha


Grundrechte-Report 2002

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland



Ein Projekt der Humanistischen Union, der Gustav Heinemann-Initiative, des Komitees für Grundrechte und Demokratie, des Bundesarbeitskreises kritischer Juragruppen, von Pro Asyl, dem Republikanischen AnwältInnenverein und der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen
Redaktion: Katharina Ahrendts, Ulrich Finckh, Jens Neubert, Constanze Oehlrich, Marei Pelzer, Bela Rogalla, Jürgen Seifert, Stefan Soost, Eckart Spoo und Elke Steven

Am 25. Mai 2002 hat Bundesinnenminister Otto Schily in Berlin den "Verfassungsschutzbericht 2001" vorgestellt, in dem zur Rechtfertigung des weiteren Ausbaus des staatlichen Repressionsapparates zu Lasten verbriefter Menschen- und Bürgerrechte einmal mehr die "Gewaltbereitschaft von Extremisten aus allen Lagern" beschwört und insbesondere die "weltweite Bedrohung durch islamistischen Terror" als "größte Gefahr" auch für die innere Sicherheit Deutschland proklamiert wird. Daß aus der Feder des Polizeiministers auf der Basis geheimdienstlicher `Erkenntnisse' ein Werk erstellt wird, das sich nahtlos einreiht in das keineswegs erst nach den folgenschweren Ereignissen des 11. Septembers eingeleitete, jedoch mit ihnen scheinbar stichhaltig begründbare Aufblähen eines die Totalkontrolle des Menschen anstrebenden Sicherheitsstaates, kann nicht verwundern.

Einen bemerkenswerten Kontrapunkt zu diesen amtlichen Verlautbarungen bildet der im Juni in Hamburg vorgestellte und bei Rowohlt erschienene "Grundrechte-Report 2002", der sich als alternativer Verfassungsschutzbericht versteht und von einer Gruppe namhafter Bürgerrechtsorganisationen herausgegeben wurde. Die zahlreichen Autoren des Grundrechte-Reports setzen sich in ihren Beiträgen ebenfalls mit Verfassung und Verfassungsrealität in Deutschland auseinander und werden dabei dem Anspruch, die Verfassung eines demokratischen und sozialen Rechtsstaats, wie es die Bundesrepublik Deutschland zu sein behauptet, zu schützen, insofern gerecht, als sie mannigfaltige Verstöße und in allen Lebenslagen klaffende Widersprüche benennen und auflisten. Wie im "Vorwort der Herausgeber" ausgeführt wird, ist der bereits zum sechsten Mal erschienene Grundrechte-Report

... stark von der Auseinandersetzung mit den staatlichen Maßnahmen nach dem 11. September 2001 geprägt. Es geht um die Grundrechte als Schutzrechte der Menschen gegenüber der Staatsgewalt. Sie sollen die Würde der Menschen sichern, aller Menschen, nicht nur der Deutschen. Aber die Rechte der Nichtdeutschen werden in besonderer Weise immer mehr beschnitten, ihre Würde wird missachtet. Die Begründung mit Sicherheitsproblemen nach dem 11. September überzeugt uns nicht. Gerade in Krisensituationen ist die Beachtung der Grundrechte notwendig. Sie sind von zentraler Bedeutung für einen freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat und dürfen nicht panikartig aufgegeben werden. (...) Gemeinsam rufen wir dazu auf, unser Grundgesetz ernst zu nehmen und sich nicht durch noch so schwere Verbrechen irremachen zu lassen.

Das Polizeistaatsdenken, sprich das Beharren auf einer vermeintlichen Sicherheitsdoktrin, die mit der Begründung angeblich drohender Katastrophenszenarien, die in der Nachseptemberwelt von scheinbar unwiderlegbarer Plausibilität sind, hat mittlerweile auch in Deutschland so weitgehend durchgesetzt werden können, daß die im Grundrechte-Report vertretenden Rechtsstandpunkte demgegenüber als Bremsklötze allein deshalb zu begrüßen sind, weil sie auf den Status Quo grundrechtlich verankerter Freiheitsrechte pochen und nicht, jedenfalls nicht uneingeschränkt, bereit sind, den von den Mehrheitsparteien im deutschen Bundestag betriebenen Rechtsruck zu Lasten eben dieser Traditionen mitzuvollziehen.

"Gerade in Krisensituationen", so schreiben die Herausgeber, sei die "Beachtung der Grundrechte", die nicht "panikartig" aufgegeben werden würfen, notwendig. In Formulierungen dieser Art offenbart sich jedoch schon die Doppelzüngigkeit dieser Kritiker gesellschaftlicher Zuspitzungen, denn die Verwendung des Wortes "panikartig" deutet die Bereitschaft der Verfasser an, sich unter ganz bestimmten, dann selbstverständlich verfassungskonformen Umständen mit einer weiteren Einschränkung oder gar dem völligen Abbau bisheriger Grund- und Menschenrechte einverstanden zu erklären. Der Satz, "die Begründung mit Sicherheitsproblemen nach dem 11. September überzeugt uns nicht" ließe sich auch als Aufforderung verstehen, eine bessere Begründung für dieselben Maßnahmen zu liefern, die unter der Flagge des sogenannten "Antiterrorkampfes" bislang schon in die Wege geleitet worden sind. Ein klares und kompromißloses Nein zu einem modernen Polizeistaat, der die Orwell'schen Visionen vom gläsernen Menschen noch zu überholen imstande wäre, enthält er jedenfalls nicht.

Dies mag dem taktischen Zweck geschuldet sein, das eigene Gewicht, das die Herausgeber, zu denen sich in diesem Jahr neben der Humanistischen Union, der Gustav Heinemann-Initiative, dem Komitee für Grundrechte und Demokratie und dem Bundesarbeitskreis kritischer Juragruppen als neue Mitherausgeber auch Pro Asyl, der Republikanische AnwältInnenverein sowie die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen gesellt haben, dem "einzigen übergreifenden Jahrbuch zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland" verleihen wollen, nicht durch Positionen zu schmälern, die von ihren Kritikern als mit der politischen Mitte unvereinbar gegeißelt werden könnten.

Wie ein roter Faden zieht sich das Bestreben, eine klare und unmißverständliche Stellungnahme zu den beanstandeten Rechtsverstößen zu vermeiden, durch das gesamte Werk, dem schon ausgrund seiner Gliederung eine durchgängige Stringenz und inhaltliche Zuspitzung fehlt. Die einzelnen Autoren und Autorinnen widmen sich ihrer spezifischen Thematik mehr oder minder kritisch, ohne daß, etwa durch redaktionelle Begleit- oder Überleitungstexte, auch nur der Versuch unternommen wurde, eins und eins zusammenzuzählen und eine grundsätzlich kritische Bewertung dieser in so vielen Details festgemachten Gesamtentwicklung zu leisten. Dieses Manko schlägt sich inhaltlich auch auf die Einzelbeiträge nieder ungeachtet dessen, daß den zusammengetragenen Fakten und geleisteten Analysen ein gewisser Stellenwert in der von den Autoren eingeforderten öffentlichen Diskussion insbesondere über die vermeintlichen Sicherheitsmaßnahmen zukäme.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Katja Wiesbrock diskutiert in ihrem Beitrag "`Kreuzzug' gegen den Terror" den Einsatz deutscher Soldaten im Krieg gegen Al-Quaida und Taliban und kommt dabei zu dem Ergebnis, daß aufgrund des Nikaragua-Urteils des Internationalen Gerichtshofs von 1986 die "Entsendung privater bewaffneter Banden" einem Staat als "bewaffneter Angriff" nur zugerechnet werden könne, wenn dafür nachvollziehbare Anhaltspunkte vorlägen - was bei "Terroranschlägen" jedoch nicht der Fall sei. Eine Stellungnahme dahingehend, daß der Krieg der USA und ihrer Verbündeten somit ein Angriffskrieg ist und keineswegs völkerrechtlich als Selbstverteidigungsmaßnahme gerechtfertigt werden kann, ist sie zu ziehen allerdings nicht bereit; stattdessen beläßt sie es bei dem "prinzipiellen Problem der Zurechnung:

Eine Zurechnung durch den betroffenen Staat könnte sich daher regelmäßig nur auf vage Indizien stürzen, der Willkür wären Tür und Tor geöffnet. Allein der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wäre legitimiert, hier die erforderliche Zurechnung privaten Handelns zum Staat vorzunehmen. Militärische Anti-Terror- Maßnahmen sollten daher von einem Mandat nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen gedeckt sein. Kollektive Sicherheitsbündnisse wie die NATO sind von ureingensten Interessen geleitet. Dass die NATO nach dem 11. September den Bündnisfall nach Artikel 5 des Nato- Vertrags erklärt hat, ändert somit nichts an dem prinzipiellen Problem der Zurechnung. (S. 212)

Deutlicher wird demgegenüber schon Eckart Spoo, der Herausgeber der Zeitschrift Ossietzky, in seinem Beitrag "We made a good show", in dem er nachzeichnet, wie die in Artikel 5 des Grundgesetzes verankerte Meinungsfreiheit mit Füßen getreten wurde und wird, um den "Krieg gegen den Terror", dem sie geopfert wurde, auch in Deutschland konsensfähig zu machen. Doch nicht nur Spoo, auch weitere Autoren und Autorinnen liefern umfangreiche Informationen und Anhaltpunkte für jeden an den tatsächlichen politischen und sozialen Verhältnissen in Deutschland sowie den "Freiheiten", wie sie Verfassung und Rechtsstaat ihrem eigenen Anspruch nach garantieren, Interessierten.

Rasterfahndung, biometrische Daten, Terrorismusbekämpfungsgesetze, Gendatei, Brechmitteleinsatz und Fußfessel, Sonderbehandlung von Ausländern und Residenzpflicht für Asylbewerber, Videoüberwachung öffentlicher Räume und Wohnungsdurchsuchungen sind Stichworte, unter denen die Verfassungrealität gespiegelt wird. Zur Sprache gebracht wird aber auch die soziale Realität, sei es in bezug auf die Situation rechtlos gehaltener Menschen in Alten- und Pflegeheimen, die einem Bericht der Vereinten Nationen zufolge in deutschen Heimen nicht nur körperlicher Mißhandlung und Entwürdigung ausgesetzt sind, sondern zu 85 Prozent unterernährt und zu 36 Prozent von Austrocknung durch zuwenig Flüssigkeitsaufnahme betroffen sind.

Die naheliegende Schlußfolgerung, daß der strikte Glaube an die Idee des Rechtsstaats und das Insistieren auf Einhaltung oder Gewährung der versprochenen Rechte der Schmierseife gleichkommt, die den mehr oder minder klammheimlichen Aufbau eines Polizeistaats zwar begleiten, jedoch keineswegs zu verhindern imstande ist, wird von Autoren wie Herausgebern nicht gezogen. Der Grundrechte-Report 2002 ist deshalb keineswegs uneingeschränkt zu empfehlen, wenngleich ihm das Verdienst zukommt, über die in jüngster Vergangenheit und Gegenwart geradezu galoppierende Entwicklung zu einem Sicherheitsstaat, der den Menschen stets als potentielle Bedrohung auffaßt, gegen die er sich mit immer perfideren Mitteln zu erwehren habe, relativ ausführlich und umfangreich informiert zu haben

Doch geschieht dies stets in einer Weise, die die Kernproblematik des staatlicherseits beanspruchten Gewaltmonopols und dessen Einbindung in einer internationale imperialistische Ausbeutungsordnung unberührt läßt, was wiederum der Vermutung Vorschub leistet, mit diesem Werk solle keineswegs eine potentielle Opposition im Lande gestärkt oder mobilisiert, sondern lediglich etwaiger Unmut kanalisiert und eingebunden werden durch das vage Versprechen, politisch wie juristisch versierte Experten würden sich der Problematik bereits in ausreichender Weise widmen.


Grundrechte-Report 2002
Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland
Herausgeber: Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Elke Steven,
Jens Neubert, Jürgen Miksch, Wolfgang Kaleck und Martin Kutscha
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Juni 2002
ISBN 3 499 23058 5