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REZENSION/206: Beckmann, Bieling, Deppe, Hg. - Euro-Kapitalismus (SB)


Martin Beckmann, Hans-Jürgen Bieling, Frank Deppe (Hg.)


`Eurokapitalismus' und globale politische Ökonomie



Die seit kurzem auf 25 Mitgliedsstaaten angewachsene Europäische Union wird häufig von Vertretern des politisch linken Spektrums abgelehnt. Dabei kann die Ablehnung von prinzipieller Natur sein oder sich nur auf einzelne Aspekte und Entwicklungen innerhalb der EU beziehen. Zu letzterer Richtung ist das vorliegende Buch zu zählen. Es geht den acht Autoren und der Autorin nicht um eine grundlegende Hinterfragung dieses historisch einmaligen suprastaatlichen Modells, sondern um die Bewahrung bestimmter sozialer Standards innerhalb dessen.

Bereits der Titel läßt einige markante Rückschlüsse auf seinen Inhalt zu. Wer "`Euro-Kapitalismus' und globale politische Ökonomie" thematisiert, orientiert sich damit klar an den von Karl Marx aufgestellten Theorien und läßt einen kritischen Standpunkt gegenüber dem von ihm behandelten Sujet durchblicken. So kann der Leser von vornherein erwarten, daß hier kein hohes Lied auf einen vermeintlich gesunden Wettbewerb europäischer Staaten im Rahmen einer neoliberalen Wirtschaftsordnung gesungen wird. Darüber hinaus ist dem Titel zu entnehmen, daß sich das Buch um eine Differenzierung des Kapitalismus nach europäischer und angloamerikanischer Lesart bemüht (ansonsten das vorangestellte "Euro-" keinen Sinn ergäbe), und selbstverständlich auch, daß der europäische Kapitalismus vor dem Hintergrund globaler ökonomischer Entwicklungen beleuchtet werden wird.

Diese Erwartungen werden auf fundierte, hin und wieder allerdings zu lehrbuchhaft trockene Weise erfüllt. In neun Aufsätzen widmen sich die Autoren den verschiedenen Aspekten des europäischen Kapitalismus, wobei die drei Herausgeber in ihrer Einführung die Frage aufwerfen, ob es sich bei "Euro- Kapitalismus" um eine "begriffliche Provokation" oder eine "heuristische Analysekonzeption" handelt. Die Antwort darauf wird gegeben, wenngleich nicht plakativ, sondern der Komplexität des Themas gegenüber angemessen differenziert. Die Autoren verdeutlichen, daß der "Euro-Kapitalismus" als vielschichtige Parallelentwicklung ökonomischer Kernprojekte, territorialer Expansionen und regulativer supranationaler Administrationen in Erscheinung tritt; aber sie geben auch zu bedenken, daß Einwände gegen den Begriff "Euro-Kapitalismus" nicht unbeachtet bleiben sollten. Denn in der EU sei noch immer eine "Vielzahl spezifischer nationaler Reproduktionsmuster" zu erkennen. Darüber hinaus sei der europäische "in einen transatlantischen Kapitalismus unter Vorherrschaft der USA" eingebunden. Und als dritten Einwand führen die Autoren die "unzureichende interne Kohärenz des europäischen Kapitalismus" (S. 10) an.

Der Leser mag solche Erörterungen und Abwägungen getrost als Hinweis darauf verstehen, daß sich Europa zur Zeit in einer historisch einmaligen Wandlung befindet und daß die Frage, worauf die staatenübergreifende Ordnung namens Europäische Union hinausläuft, selbst profiliertesten Politikwissenschaftlern, wie sie in diesem Buch zu Wort kommen, Kopfzerbrechen bereitet. Das sollte die Leserschaft jedoch nicht zu der irrigen Annahme verleiten, daß die Autoren nicht wüßten, worüber sie schrieben.

Die Schwierigkeit, den europäischen Einigungsprozeß in seiner gesamten Vielgestaltigkeit auszuleuchten, spiegelt sich treffend in der breiten Themenpalette wider, die in diesem Buch von den mehrheitlich als Hochschullehrer in Marburg, Kassel und an ausländischen Institutionen tätigen Autoren sowie der Autorin (Dorothee Bohle - Osterweiterung der EU) bearbeitet wird. Sie verweisen auf Trends, greifen dabei gern schon mal in die Geschichte und holen weit aus, um daraus aktuelle Entwicklungen abzuleiten. Daß vier von insgesamt neun Kapitelüberschriften als Frage formuliert sind, ist kein Zeichen der Ratlosigkeit, sondern vielmehr der Bereitschaft, sich der Diskussion zu stellen. Mehr noch, in gewisser Weise fordert das Buch die Leser heraus, sich ebenfalls "einen eigenen Kopf zu machen" über das, was zur Zeit in der Europäischen Union entsteht.

Denn in ihr kommt es Zug um Zug zu einem massiven Souveränitätsverlust der Nationalstaaten allgemein sowie der kleineren Staaten im Verhältnis zu den größeren, die sich einem "Kerneuropa" zuordnen, während umgekehrt die Brüsseler EU- Administration einen stetigen Kontrollzuwachs über sämtliche Verwaltungsebenen ihrer Mitglieder gewinnt. Vor diesem Hintergrund wird die Frage aufgeworfen, über welchen Einfluß Konzerne, Banken und andere Finanzinstitutionen verfügen und auf welche Produktions- und Verwertungsformen die europäische Gesellschaft zusteuert.

So vertritt John Grahl in "Finanzintegration und europäische Gesellschaft" die Ansicht, daß die im "Euro-Kapitalismus" zu beobachtenden Entwicklungen keineswegs auf Ideologien des Marktes zurückgehen, sondern auf das Wirken von Marktkräften. Diese Unterscheidung ist ihm wichtig, da für ihn "eine Überbetonung des neoliberalen Einflusses zu einer vereinfachten Deutung der Rolle des Staates im Globalisierungsprozeß" (S. 39) führt. Eher orientiere sich der Staat "unter den Bedingungen globaler Finanzbeziehungen um", schreibt der Professor für Global Business Mangagement an der London Metropolitan University. Die gegenwärtige Wirtschaftspolitik in Europa könne "kaum als Ausdruck neoliberaler Hegemonie gelten", und die historischen Finanzsysteme Kontinentaleuropas ließen sich "in der Konfrontation mit dem umfassenden und kraftvollen Dollar- basierten System nicht verteidigen". So kommt der Autor zu dem Schluß, daß die "akuten sozialen Probleme" der Europäischen Union daraus entstehen, daß sich die verschiedenen nationalen Kräfte mit einer Welt konfrontiert sehen, "in der zentrale Aspekte der wirtschaftlichen Entwicklung den nationalen Kontrollraum überschreiten" (S. 40).

Im Gegensatz zu Grahl ist für Dorothee Bohle die europäische Integration sehr wohl "wesentlich durch einen Prozeß neoliberaler Restrukturierung gekennzeichnet" (S. 163). Die EU habe ihren Einfluß in den mittelosteuropäischen Ländern genutzt, "um die institutionellen Grundlagen ihrer regulatorischen Reformen zu exportieren", und habe "erheblich dazu beigetragen, daß die osteuropäischen Transformationsprozesse einem neoliberalen Modell folgen". Solche Widersprüche in der Analyse, wie sie hier zwischen Grahl und Bohle auftreten, sind Ausdruck der verschiedenen Strömungen innerhalb der Linken. Indem Grahl leugnet, daß hinter den "Marktkräften" konkrete Interessen stecken, die einer bestimmten Ideologie folgen, akzeptiert er die vorherrschende Marktwirtschaft und erklärt sie zum unumstößlichen Schicksal. An Beispielen wie diesem wird deutlich, daß der "Euro- Kapitalismus" kein leicht verdauliches Thema ist, für das die Linke, ob reformistisch oder radikal, den Antwortkatalog bereits in der Schublade hätte.

Ergänzend zu Bohle und Grahl fragen die anderen Autoren, ob die europäische Hegemonie mit der US-amerikanischen verschränkt ist (Christoph Scherrer), welche Rolle die Gewerkschaften im Rahmen des Euro-Kapitalismus spielen (Frank Deppe) und welche Entwicklung die "Privatisierung der Rentensysteme und die Finanzmarktentwicklung" (Martin Beckmann) nehmen. Leo Panitcha und Sam Gindin wiederum vergleichen den Euro-Kapitalismus mit dem amerikanischen Imperialismus, und Klaus Dräger gibt in "Eine Heilige Allianz der Modernisierer?" einen Ausblick auf "die EU nach dem Scheitern des Mitte-Links-Projekts". Dabei stellt er fest, daß sowohl die außerparlamentarischen Akteure als auch ihre möglichen Ansprechpartner im politischen Raum für ein alternatives gesellschaftspolitisches Europa-Projekt derzeit noch schlecht aufgestellt sind (S. 214).

Der Marburger Hochschuldozent Hans-Jürgen Bieling, der in seinem Aufsatz "Transnationale Machtstrukturen und Regulationsformen" der "neuen europäischen Ökonomie" durchleuchtet, sieht wie Grahl in dem "Dollar Wall Street Regime" die treibende Kraft der globalen politischen Ökonomie. Dem werde die EU mit ihrer im Jahre 2000 in Lissabon formulierten Strategie zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit nicht gewachsen sein. Das Ziel, die "US-Ökonomie zu überholen, ohne mit ihr gleichzuziehen, scheint (...) zum Scheitern verurteilt" (S. 63/64), resümiert der Autor und fügt ernüchternd an, daß bislang nicht zu erkennen ist, wie eine weitere Demontage des europäischen Sozialmodells zu vermeiden sei.

Bieling stellt die EU nicht als solche in Frage, sondern er befürchtet lediglich, daß ihr finanzgetriebenes Akkumulationsregime zu sehr den Vorgaben des Dollar Wall Street Regimes folgt, anstatt einen alternativen, sozial orientierten und stärker selbstbestimmten Pfad der europäischen Integration und nationalen Entwicklung zu gehen. Mit dieser Einschätzung bewegt sich der Autor im linken Spektrum der Sozialdemokratie, was durch Verbesserungsvorschläge wie die Einrichtung von Wechselkurszielzonen und Kapitalverkehrskontrollen, Reformen von WTO, IWF und Weltbank, dem Wunsch nach einem "erweiterten Spielraum für eine expansive Wirtschaftspolitik in der EU" und "eine beschäftigungsfreundliche Revitalisierung der europäischen Ökonomie" (S. 64) bestätigt wird.

Der Autor fordert nicht die Abschaffung des, verglichen mit den nationalen Ökonomien, höherqualifizierten Akkumulationsregimes der EU, in der die Menschen mehr als je zuvor auf reine Verwertungssubjekte herunterdefiniert und entsprechend behandelt werden, sondern für ihn ist die EU offensichtlich im Prinzip eine gute Sache, nur daß die "Parameter" in die von ihm angedeutete Richtung verschoben werden sollten. Erst dadurch verbesserten sich "für die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen letztlich auch die Möglichkeiten, im Sinne einer strategischen Machtausübung auf eine sozial orientierte Modernisierung der wohlfahrtstaatlichen Strukturen und industriellen Beziehungen hinzuwirken" (S. 64), hofft Bieling.

Nicht in allen Beiträgen wird eine so reformistische Position bezogen wie hier. Dennoch bestimmt der Modernisierungsgedanke den Gesamtcharakter des vorliegenden Buchs. Wenn aber der "Euro- Kapitalismus" tatsächlich eine neue Erscheinungsform ist, wie die Autoren schreiben, mit der die Politische Ökonomie bislang nicht konfrontiert war, dann stellt sich natürlich die Frage, ob die bisherigen Analysen der treibenden Kräfte überhaupt ausreichen, um auch künftige Entwicklungen voraussagen zu können. Die EU ist sicherlich nur ein Zwischenschritt hin zu einer Neuen Weltordnung, die durch eine qualifiziertere Form der Herrschaft des Menschen über den Menschen und die Beteiligung jedes einzelnen charakterisiert sein dürfte.

Das Buch "`Euro-Kapitalismus' und globale politische Ökonomie" bietet einen Einblick in Inhalte und Methodik einer kritischen Politikwissenschaft, die dem rigiden Sozialabbau in der EU etwas entgegensetzen will. Darüber hinaus regt es die Leser dazu an, sich ernsthafte Sorgen über die kommende politische Entwicklung zu machen. Dazu ist die theoretische Analyse der (euro)- kapitalistischen Verwertungszwänge sicherlich nicht das schlechteste Mittel.


Martin Beckmann, Hans-Jürgen Bieling, Frank Deppe (Hg.)
`Eurokapitalismus' und globale politische Ökonomie
VSA Verlag, Hamburg 2003
219 Seiten
ISBN 3-89965-048-4