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REZENSION/207: John Pilger - Verdeckte Ziele (Neo-Imperialismus) (SB)


John Pilger


Verdeckte Ziele

Über den modernen Imperialismus



Endlich hat jemand - in diesem Fall der Frankfurter Verlag Zweitausendeins - publizistische Weitsicht bewiesen und dem deutschen Leserpublikum die Schriften des australischen Journalisten John Pilger zugänglich gemacht. Der 1939 in Sydney geborene, in London lebende Pilger gilt in der englischsprachigen Welt seit langem als einer der mutigsten und unerschrockensten Journalisten überhaupt. Bereits in den sechziger Jahren berichtete er als junger Reporter für die britische Tageszeitung Daily Mirror über den Vietnamkrieg. Pilgers Dokumentationen aus Indochina in den siebziger Jahren für das ITV-Fernsehmagazin World in Action machten ihn weltberühmt. Als erster Fernsehjournalist überhaupt lieferte er Bilder des zerstörten und verwahrlosten Phnom Penh nach dem Abzug der Roten Khmer Pol Pots.

Seit Jahren sorgt Pilger mit kritischen Fernsehbeiträgen, einer regelmäßigen Kolumne für die linke Politzeitschrift New Statesman sowie Sachbüchern wie "Heroes", "A Secret Country", "Distant Voices", "Hidden Agenda" und "The New Rulers of the World" immer wieder für heftige Diskussionen. Er ist in Großbritannien mehrfach als Journalist des Jahres ausgezeichnet worden und hat für seine Fernsehfilme über das Leid der Armen und Entrechteten dieser Welt in Frankreich den Reporter sans Frontières, in den USA den Emmy und sogar zweimal den Media Peace Prize der Vereinten Nationen verliehen bekommen. In "Verdeckte Ziele - Über den modernen Imperialismus" hat Zweitausendeins verschiedene Kapitel aus dem 1998 erschienenen "Hidden Agenda" und dem 2002 erschienenen "New Rulers of the World" zu einer gelungenen Mischung zusammengestellt. Das vorliegende Buch bietet dem deutschen Leser einen spannenden Einblick in die journalistische Karriere Pilgers, die diesen an die meisten wichtigen Kriegsschauplätze der letzten 40 Jahre geführt hat.

Wegen Pilgers Reportagen über die militärischen Interventionen des Westens in Afrika, Indochina, Mittelamerika und im Nahen Osten und wegen seines ungebrochenen Einsatzes für die davon Betroffenen ist es in weiten Teilen der zumeist konservativen britischen Presse Mode geworden, den Exil-Australier als uneinsichtigen Altlinken zu belächeln. Doch der (Anti-)Kriegskorrespondent, dessen Arbeit in Großbritannien und darüber hinaus ein Millionenpublikum findet, läßt sich hiervon nicht irritieren. Pilgers im März 2000 im britischen Channel 4 ausgestrahlter, eineinhalbstündiger Dokumentarfilm mit dem Titel "Paying the Price - Killing the Children of Iraq" über die Reise, die er kurz zuvor zusammen mit Dennis Halliday, dem 1998 aus Protest gegen die UN-Sanktionen zurückgetretenen Chef des "Öl-für- Nahrungsmittel"-Programms, in dem ausgehungerten Zweistromland unternommen hat, löste in Großbritannien eine Welle der Empörung über die Rolle der Regierung Tony Blairs bei der Aufrechterhaltung des Embargos gegen Bagdad aus.

Allein 2002 sorgte Pilger mit Fernseh- und Zeitungsbeiträgen mehrmals für Zündstoff. Anfang des Jahres wurden Pilger und Robert Fisk, der renommierte Nahost-Korrespondent des Londoner Independent, wegen ihrer Infragestellung der wahren Motive hinter dem von US-Präsident George W. Bush ausgerufenen "globalen Antiterrorkrieg" von der Blair- Regierung in aller Öffentlichkeit als Wehrkraftzersetzer angeprangert. Als Pilger im Juli desselben Jahres im Massenblatt Daily Mirror, wo er seit einiger Zeit wieder eine Kolumne schrieb, die USA als "Schurkenstaat" bezeichnete, der das Völkerrecht torpediere, und die Regierung Bush als "kriminelle Bande", deren Luftangriffe in Afghanistan bereits doppelt so vielen unschuldigen Zivilisten wie die Flugzeuganschläge auf das World Trade Center das Leben gekostet hätten, protestierten aufgebrachte Großaktionäre von der Wall Street bei der britischen Trinity-Mirror-Verlagsgruppe.

Im September 2002 kam es nach der Ausstrahlung von Pilgers Videodokumentation "Palestine Is Still The Issue" - einer beeindruckenden Reportage über den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern - im britischen Privatfernsehen zum Eklat. Der Film wurde von der israelischen Botschaft in London, dem Board of Deputies of British Jews - vergleichbar dem Zentralrat der Juden in Deutschland - und den Conservative Friends of Israel als tendenziös und einseitig angegriffen. Pilger selbst wurde öffentlich des Antisemitismus bezichtigt. Michael Green, Vorsitzender der Fernsehgesellschaft Carlton, die den Film produziert hatte, kritisierte in einer übereilten Stellungnahme gegenüber der Zeitschrift Jewish Chronicle das Werk als "inakkurat", "historisch inkorrekt" und als "eine Tragödie für Israel". Bezeichnenderweise hat Green die Dokumentation zum Zeitpunkt seiner um Schadensbegrenzung bemühten Äußerungen selbst nicht gesehen. Es wurde jedenfalls prompt eine Untersuchung der britischen Independent Television Commission eingeleitet, die im Januar 2003 mit einem grandiosen Sieg für den zu Unrecht gescholtenen Pilger endete. Die ITC sprach den Regisseur der umstrittenen Palästina-Dokumentation von jeglichem Vorwurf der Einseitigkeit frei.

Die öffentliche Aufregung kam Pilger jedoch zugute. Sein im Herbst 2002 erschienenes Buch "The New Rulers of the World" über den angloamerikanischen Neoimperialismus wurde in Australien, Großbritannien, Irland und Neuseeland zum Bestseller. In diesem Buch, das sich zum Teil in "Verdeckte Ziele" von Zweitausendeins wiederfindet, setzt sich der streitbare Australier kritisch mit der unheilvollen Entwicklung seit den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 in den USA auseinander. Die Veränderungen, welche die Welt an jenem denkwürdigen Tag erfahren hat, entlarvt Pilger als lediglich dramatische Zuspitzung jener nach innen wie nach außen gleichermaßen aggressiven Tendenzen, welche der Supermacht USA seit langem innewohnen. Zusammen mit ihren treuen Vasallen in Großbritannien, Israel, Australien und den anderen westlichen Industriestaaten geht es der politischen Elite in Washington und London um einen neuen Imperialismus, der unter den Schlagworten "Terrorismus" und "Nicht-Verbreitung von Massenvernichtungswaffen" künftig nach Belieben Interventionsanlässe schafft, Widerstand gegen die Globalisierung bricht und mögliche Konkurrenten - wie etwa die Volksrepublik China - niederringt, so Pilger.

Einen eindeutigen Hinweis darauf, daß Bush und seine neokonservative Clique unter Größenwahn leiden, liefern folgende haarsträubende Äußerungen aus "New Rulers of the World", zu denen sich Richard "Fürst der Finsternis" Perle, bekanntlich Amerikas oberster Säbelraßler, bezüglich des von ihm schon lange konzipierten und herbeigesehnten Kreuzzuges gegen die Feinde der USA und Israels in der islamischen Welt im Interview mit Pilger im Herbst 2001 hat hinreißen lassen:

Keine Etappen. Dies ist der totale Krieg. Wir kämpfen gegen diverse Feinde. Dort draußen gibt es viele von ihnen. All dieses Gerede von 'zuerst erledigen wir Afghanistan, danach nehmen wir uns den Irak vor...', das ist eine völlig falsche Vorgehensweise. Wenn wir einfach unsere Vision in die Welt hinaustragen, sie uns vollkommen zu eigen machen und nicht versuchen, clevere Diplomatie zu betreiben, sondern statt dessen den totalen Krieg führen ... werden unsere Kinder in künftigen Jahren großartige Lieder über uns singen.

Unter anderem Pilgers jahrelangen Aufklärungsbemühungen und seinem hohen Ansehen ist es zu verdanken, daß die Demonstration in London am 15. Februar 2003 gegen den sich anbahnenden Irakkrieg - auf deren Schlußkundgebung im Hyde Park er selbst als Redner aufgetreten ist - mit rund zwei Millionen Teilnehmern zur größten politischen Kundgebung in der Geschichte Großbritanniens wurde. Zur Würdigung seines über 30jährigen Einsatzes um die Enthüllung unhaltbarer politischer Zustände wurde Pilger im Mai 2003 mit dem mit 100.000 Dollar dotierten, norwegischen Sophie Prize for Human Rights ausgezeichnet.

Mit seiner jüngsten Dokumentation - "Breaking The Silence: Truth And Lies In The War On Terror" -, die aus "New Rulers of the World" hervorging und am Abend des 22. September 2003 im britischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, hat Pilger wieder einmal für Furore gesorgt. In dem Film verurteilte er nicht nur den Überfall auf den Irak, sondern den ganzen "globalen Antiterrorkrieg" als ausgemachten Betrug und Teil eines neoimperialistischen Raubzugs. Damit sorgte Pilger weltweit für Schlagzeilen. Für die Dreharbeiten zu dem Film über den seines Erachtens verbrecherischen Antiterrorkrieg war Pilger nach Afghanistan, in den Irak und in die USA gereist und hatte mit Überlebenden amerikanischer Luftangriffe, ehemaligen CIA-Mitarbeitern sowie mit namhaften Vertretern der Bush-Regierung gesprochen. Entstanden ist so eine Dokumentation, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigläßt. Nicht umsonst stellte gleich am 23. September 2003 der Sydney Morning Herald, die führende Zeitung Australiens, erschrocken fest, daß, wenn alles in dem Film stimmte, Bush, Blair und der australische Premierminister John Howard eigentlich zurücktreten müßten.

Zwei Höhepunkte des Films verdienen besondere Erwähnung, weil sie zwei hervorragende Aspekte der Arbeit Pilgers widerspiegeln, die auch in "Verdeckte Ziele" zur Geltung kommen: erstens die fundierte Recherche; zweitens die Distanzlosigkeit, mit der es ihm gelingt, hinter die Fassade seiner Gesprächspartner zu blicken. Für die eine Szene hatte Pilger Bilder einer Pressekonferenz von US-Außenminister Colin Powell und seinem ägyptischen Amtskollegen Amr Moussa vom 24. Februar 2001 in den Archiven ausgegraben. Auf die Frage eines Journalisten nach der von den Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins ausgehenden Bedrohung antwortete der damals frischgebackene US-Außenminister der neuen Bush-Regierung, es bestünde keine Gefahr, durch das UN-Inspektionsregime habe man den Irak erfolgreich entwaffnet, die Containment-Strategie funktioniere. Durch die Ausstrahlung des entlarvenden Powell-Auftritts in Kairo konnte Pilger die Diskussion um die Behauptungen Washingtons im Vorfeld des Irakkriegs zusätzlich anheizen und die Bush-Regierung schwer belasten.

In der zweiten Szene wird der Fernsehzuschauer Zeuge des Interviews mit John Bolton, dem im US-Außenministerium für internationale Rüstungskontrolle zuständigen Staatssekretär, der sich in den letzten drei Jahren einen Ruf als neokonservativer Hardliner und Feind multilateraler Abkommen erworben hat. Auf den Einwand Pilgers, 10.000 tote, irakische Zivilisten seien ein hoher Preis gewesen, um Saddam Hussein zu stürzen, erwiderte Bolton, für eine Militäroperation wie dem jüngsten Irakfeldzug sei die Zahl der zivilen Opfer "ziemlich niedrig" gewesen. Als Pilger dagegenhielt, die Iraker sähen das vielleicht anders, platzte Bolton der Kragen. "Sie müssen ein Mitglied der Kommunistischen Partei sein!" so der ehemalige Mitarbeiter von Jesse Helms, dem einstigen Rechtsaußen im US-Senat. Völlig verdient hat deshalb in diesem Mai "Breaking the Silence: Truth and Lies in the War on Terror" auf dem angesehenen WorldMedia Festival in Hamburg die Goldmedaille in der Kategorie politische Dokumentation gewonnen. Pilger selbst wurde als Media Personality of the Year ausgezeichnet.

Vor dem Hintergrund jenes "Schmierentheaters" Antiterrorkrieg, welches nach Meinung des Autors "die Vereinigten Staaten gemeinsam mit Großbritannien und ein paar bestochenen Lakaien" inszenieren, um "in Piratenmanier über andere Länder herzufallen, während über 400 UN- Resolutionen zur Lage der Palästinenser das Papier nicht wert" seien, "auf das sie geschrieben" seien, schreibt Pilger: "Was wir dringend brauchen, ist ein Gegengewicht zu einer Propaganda, die Gefahren an die Wand malt, wie sie zu Zeiten des Kalten Krieges nicht größer waren." Mit "Verdeckte Ziele" hat Pilger selbst einen grandiosen Beitrag zu diesem von ihm formulierten Vorhaben geleistet.

6. Juli 2004


John Pilger
Verdeckte Ziele
Über den modernen Imperialismus
Aus dem Englischen von Waltraud Götting
Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2004
348 Seiten
ISBN 3-86150-632-7