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REZENSION/219: Van Rossum - Meine Sonntage mit "Sabine Christiansen" (SB)


Walter van Rossum


Meine Sonntage mit "Sabine Christiansen"

Wie das Palaver uns regiert



Man muß seine Sonntage nicht mit "Sabine Christiansen" verbringen, wie es der Publizist Walter van Rossum getan hat, um dessen Überlegungen zur Bedeutung der Talkshows für die deutsche Demokratie mitzuvollziehen. Man muß ihre Sendung nicht einmal gesehen haben, um sein Buch mit Genuß und Gewinn zu lesen, wird darin doch nicht nur die mediale Vermittlung von Politik seziert, sondern das in die Wohnstuben der Nation flimmernde Produkt in einer Ausführlichkeit an seinen Inhalten bemessen, die man in den Talkshows selbst vergeblich sucht. "Wie das Palaver uns regiert", erklärt der Autor anhand der populärsten Sendung dieses Genres, der er dennoch eine eher exemplarische denn einzigartige Stellung zuweist.

"Meine Sonntage mit 'Sabine Christiansen'" ist auch ein Erlebnis-, um nicht zu sagen Leidensbericht. Der Autor macht kein Hehl daraus, daß das allsonntägliche Studium dieser ARD-Sendung eine unausweichliche Voraussetzung zur Analyse der dort verübten Indoktrination und die Unterschreitung intellektueller Mindestanforderungen nicht unbedingt leicht zu ertragen war. Dennoch hat sich die Mühe gelohnt, die Gesprächsführung der Moderatorin und die Wortbeiträge diverser Politiker, von denen einige geradezu den Status von Stammgästen dieser illustren Runde innehaben, über einen längeren Zeitraum zu verfolgen und detailliert unter die Lupe zu nehmen. Die daraus gewonnene Erkenntnis, bei Christiansen zelebriere eine von dem Autoren in Anlehnung an ein bourgeoises Hybrid des revolutionären Frankreichs "Juste-milieu" genannte Elite die "Produktion des pragmatischen Realismus" (S. 9), der die gesellschaftliche Wirklichkeit in den engen Grenzen sehr spezieller Interessen inszeniert und dabei meist auf den Kopf stellt, läßt ahnen, welch verheerenden Einfluß ein von Millionen Menschen jede Woche in Augenschein genommener Bilderbogen dieser Art auf die politische Kultur im Lande nimmt.

Der demokratische Anspruch der Sendung, die den Eindruck vermittele, "als sei die Gestaltung der Welt Verhandlungssache - und wir werden aufgefordert, uns durch Abstimmung daran zu beteiligen" (S. 11), wird von dem Autoren gründlich anhand der Analyse der dort verwendeten sprachlichen Mittel wie propagierten politischen Inhalte demontiert. Dabei warnt er davor, auf Verschwörungstheorien zu verfallen, um die "Routine permanenter Gleichschaltung" zu erklären. Den orchestriert wirkenden Wandel in der Darstellung der kosovoalbanischen UCK, die Anfang 1998 eine Kehrtwende in der öffentlichen Wahrnehmung dieser für den Angriff der NATO auf Jugoslawien so wichtigen separatistischen Miliz in fast allen Medien um 180 Grad nahm, führt er als Beispiel für seine These an, daß es seiner Ansicht nach keine Medientheorie gebe, "die in der Lage wäre zu erklären, wie Öffentlichkeit in der Mediengesellschaft wirklich funktioniert" (S. 12).

Auch van Rossum liefert eine solche Theorie nicht, doch das Studium dieser Fernsehsendung erbringt zumindest das Resultat, daß im seichten Aufguß des Polittalks knallharte Machtinteressen verfolgt werden, deren Durchsetzung durch die mediale Kollaboration mit herrschenden Kräften protegiert wird. Der stromlinienförmige Opportunismus einer Sabine Christiansen ist keineswegs die Ausnahme von der Regel und demonstriert die Rationalität herrschaftsförmiger Berichterstattung und Kommentierung gerade am Beispiel der irrationalen Behandlung drängender gesellschaftlicher Probleme.

Daß das Gros der Medienarbeiter entscheidende politische Kursänderungen mit der Gleichzeitigkeit eines Schwarms Fische vollzieht oder durch pseudokritische Einwände affirmativ aufarbeitet, erklärt sich schon aus der ökonomischen Abhängigkeit der meisten Journalisten. Darüber hinaus sind sie Mitglieder einer Glaubensgemeinschaft, die das Geviert aus repräsentativer Demokratie, kapitalistischer Marktwirtschaft, europäisch- christlicher Kultur und pluralistischer Gesellschaft nur um den Preis der eigenen Seele verließen. Die Gewißheit, auf der Seite der Starken und Erfolgreichen, der Satten und Zufriedenen zu stehen, wird aus gutem Grund nicht nur ideologisch, sondern mit Fleisch und Blut verteidigt. Daß man in einer solchen Position lange vor der trägen Öffentlichkeit Witterung aufnimmt von feinen Veränderungen im System der politökonomischen Stellschrauben und Regelkreise, kann eigentlich nicht besonders verwundern.

Schließlich verfügt die Individuation in der ausdifferenzierten Gesellschaft über eine Unterseite, die in ihrer Vermassung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung eines Höchstmaßes an Vereinzelung den Charakter atomisierter Kollektivität aufweist und dementsprechend leicht durch die hochentwickelten Techniken moderner Indoktrination zu erreichen ist. Van Rossum urteilt zu Recht, daß die bei Christiansen propagierte Freiheit darin besteht, "dass das Individuum seine Individualität persönlich an der Garderobe abgibt. Genau in dem Maße, wie wir die Codierungen und Zwänge zu unseren Wünschen machen, entgeht uns, wie wir bis in die intimsten Regung vergesellschaftet sind. Kurz, in unserer Gesellschaft kann sich nur der 'sicher' bewegen, der permanent verkabelt ist, angeschlossen an die Sprachregelungen und ihre fließenden Umcodierungen" (S. 10f.). Diese mediale Konstruktion des sozialen Biotops steht unter der Definitionsgewalt des Juste-milieu und erbringt so das zuverlässige Resultat eines "tückischen Totalitarismus der Postmoderne: Dabeibleiben ist alles" (S. 11).

Van Rossum bringt die Dauerbezichtigung der Bundesbürger, auf diese oder jene Weise unzulänglich zu sein oder sich gar dem Ratschluß der Eliten in Politik und Wirtschaft zu verweigern, auf den Punkt der infamen Absicht, die Bevölkerung zwecks willfähriger Unterwerfung unter eine sie benachteiligende Politik einzuschüchtern. Er tut dies durchaus mit dem Charme des versierten Essayisten, ist in der Sache jedoch streitbar genug, um sein Werk nicht im Mittelmaß eines primär auf Konformität geeichten politischen Journalismus untergehen zu lassen. Dabei ist der Gegenstand seiner Untersuchung das beste Beispiel für die Gehaltlosigkeit einer medialen Buchstabensuppe, die der schlankheitsbewußte Bürger aufgrund ihres kalorienreduzierten Brennwerts weit lieber zu sich nimmt, als wenn ihm die in diesem Staat fungierenden Gewalten so unvermittelt gegenüberträten, wie man es nur außerhalb des Fernsehens erleben kann.

Transkribierte man die Palavermasse im Schrifttext ohne Quellenangabe - 98 % des Wortumsatzes bei Sabine Christiansen ließen sich keiner Person, keiner Richtung, keinem Programm, keinem Konzept und keinem Sprecher zuordnen. Es ist nicht neu, doch wenn man sich damit näher beschäftigt, immer noch erschütternd: Der vordringliche Sanierungsfall im angeblichen Sanierungsgebiet Deutschland ist die intellektuelle Verfassung der Sanierer selbst. (S. 22)

Dieses Urteil belegt van Rossum im Verlaufe seines Buches mit so eklatanten Beispielen, daß der Lesespaß für Fernsehzuschauer, die die von Christiansen feilgebotene Posse bislang als ernsthaft gemeinte Vermittlung politischer Inhalte verstanden haben, hart an der Grenze zum gruseligen Erschauern angesiedelt ist. Den meisten Raum gibt der Autor der Widerlegung der neoliberalen Reformpropaganda, die in ihrer Verordnung von Lösungen für eine Krise, die sich ganz den Maßgaben ihrer Manager unterwirft, exemplarisch für die Kernthese des Buches ist. "Leitmotivisch geht es jeden Sonntag darum, Deutschland erst in Gefahr zu wiegen, um es anschließend zu retten", teilt schon der Klappentext mit, der nicht zu viel verspricht hinsichtlich der Ausführung dieser These:

Das heroische Moment in der Politik ist heute die Krise. Und so erklärt sich vielleicht auch, warum unsere Politiker so leidenschaftlich alarmistisch bei Sabine Christiansen auftreten. Die Krise verschafft ihnen den Auftritt als Hochspannungselektriker, der genau weiß, wo die Gesellschaftsleitung verläuft und wo die Sicherungen erneuert werden müssen. Allenfalls gibt es ein wenig Expertendissens - wie unter guten Ärzten üblich. Allerdings nehmen Politiker nur die Krisen wahr, die sie glauben lösen zu können. (S. 31)

Was den Schluß zuläßt, daß so manches krisenhafte Szenario in seiner Brisanz weit übertrieben oder gar erfunden werden muß, um es zum Vorwand einer Intervention zu machen, die ganz anderen Zwecken dient, wie es etwa beim Überfall der NATO auf Jugoslawien der Fall war. An die Adresse der neoliberalen Reformprotagonisten richtet van Rossum eine regelrechte Philippika, in der er sie bezichtigt, "die totale Anpassung an die Bedürfnisse 'der' Wirtschaft" (S. 36) zu verlangen und dies nur deshalb durchsetzen zu können, weil man die Bürger jahrelang mit der Alternativlosigkeit einer Politik vorgeblicher Staatsferne bei gleichzeitiger Ausbeutung öffentlicher Ressourcen zulasten der Lohnabhängigen und Bedürftigen indoktriniert habe. Immer wieder streicht van Rossum die Kontingenz der demokratischen Wahlmöglichkeiten bei Aufrechterhaltung der neoliberalen Hegemonie hervor, während Sendungen wie die von ihm untersuchte den Eindruck erwecken, als könne die Bevölkerung echte Alternativen aus den ihnen vorgeführten Scheindebatten ziehen.

Ein besonders bizarres Szenario der Verkommenheit politischer Sitten entwirft van Rossum am Beispiel des Todes des FDP- Politikers Jürgen W. Möllemann, der häufiger zu Gast bei Sabine Christiansen war. Wo Heuchelei so unverhohlen feilgeboten wird wie in diesem Fall, bleibt die Verläßlichkeit der propagierten politischen Moral allemal auf der Strecke. Solange die ökonomischen Verhältnisse noch so sind, daß man nicht bis aufs Messer ums Überleben kämpfen muß, tun sich die Abgründe gutbürgerlicher Wohlanständigkeit lediglich hinter dem Vorhang des Politspektakels auf. Man möchte nicht unbedingt erleben, was geschieht, wenn er gelüftet wird und die bereits in Stellung gebrachten Instrumente staatlicher Ermächtigung aktiviert werden.

Leider hat van Rossum die Affäre, die es erforderlich gemacht hat, Möllemann aus der Kumpanei des alltäglichen Schreckens korrupter Honoratioren und Entscheidungsträger zu verstoßen, kaum gestreift. Da der FDP-Politiker nicht davon lassen konnte, die israelische Besatzungspolitik in ihrer Brutalität anzuprangern, und sich darüber mit Michel Friedman vom Zentralrat der Juden in Deutschland anlegte, war er für das selbstgerechte Milieu untragbar geworden. Selbst wenn die Unterstellung, Möllemann habe sich damit einer rechtsextremen Klientel andienen wollen, zugetroffen hätte, änderte das nichts an der landläufigen Praxis, vorurteilsfreie Kritik an der israelischen Politik wie ihrem Zusammenspiel mit der von den USA geplanten Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens unter Gesinnungsverdacht zu stellen. Es gibt für deutsche Politiker durchaus valide Gründe, im Umgang mit Israel mehr Besonnenheit zu üben als mit anderen Ländern, doch wenn die Schuld der Judenvernichtung zum Schild kolonialistischer Gewalt wird, dann tritt man das Gedenken an die Opfer des Holocaust mit Füßen.

Wie wenig dieser untadelige Vorkämpfer für den neoliberalen Umbau der Gesellschaft von dem ihm angelasteten Antisemitismus profitieren konnte, ist wohl der beste Beweis dafür, daß sich hierzulande mit der Klage über das Versäumnis der deutschen Außenpolitik, sich für die Belange der Palästinenser einzusetzen, kein Blumentopf gewinnen läßt. Sich dieses Themas abweichend von der gültigen Sprachregelung, derzufolge Möllemann über seine dubiosen finanziellen Machenschaften gestolpert und nicht aufgrund seiner unüblichen Parteinahme für die Palästinenser untragbar geworden wäre, anzunehmen ist seinerseits so prekär, daß man es wohl außer in einer umfassenden Darlegung, die ein eigenes Buch füllen würde, nicht tun kann, ohne in den arrivierten Kreisen der Talkshowrepublik zur persona non grata zu werden.

Sehr viel schlauer beim Umschiffen politischer Untiefen und Stromschnellen hat sich da der im August verstorbene Schatzmeister der FDP, Günter Rexrodt, angestellt. Bei ihm darf man getrost davon ausgehen, daß Bestürzung und Trauer über seinen Tod weder in den Reihen der Partei noch den Zentralen des Kapitals geheuchelt waren. Wo man dem unter maßgeblicher Beteiligung Rexrodts geschaßten Möllemann bestenfalls Krokodilstränen nachweinte, wird, wie Kondolenzschreiben und Beileidsadressen belegen, der Schatzmeister der FDP als schwerer Verlust für das harmonische Miteinander von Politik und Wirtschaft verbucht. Warum es in den Nachrufen auf den ehemaligen Wirtschaftsminister bestenfalls verschämt heißt, er sei auch als Manager in der Wirtschaft erfolgreich gewesen, läßt sich bei van Rossum im Detail nachlesen.

Rexrodt verkörperte die perfekte Symbiose aus öffentlich- rechtlichem Amtsträger und Gewährsmann finanzstarker Sonderinteressen. Der Wirtschaftsliberalismus der FDP fand in ihm seinen überzeugendsten Ausdruck, wie van Rossum etwa mit der Aufzählung der zahllosen Ämter und Posten dokumentiert, die Rexrodt innehatte und die ihm nach normalem Verständnis eine übermenschliche Leistungsfähigkeit abverlangten. Insbesondere seine dominante Stellung in der Public-Affairs-Agentur WMP gibt Aufschluß darüber, wie in diesem Land erfolgreich Politik zulasten der Mehrheit der Bevölkerung betrieben wird:

Denn die Prosperität von WMP und Rexrodt beruht auf nichts anderem als darauf, die zentralen Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats systematisch zu unterwandern. Dazu gehören Ämtertrennung, Gewaltenteilung und die konsequente Entflechtung von Wirtschaft, Medien und Politik. Mit einem Wort: WMP funktioniert als eine Art Kommunikationskartell innerhalb des Juste-milieu. Es stellt Öffentlichkeit her, wo die Durchsetzung seiner Interessen es verlangt, und es entzieht der Öffentlichkeit die Vorgänge, die man nicht öffentlich diskutieren möchte. (S. 169)

Ausgerechnet Rexrodt hat sich bei den parteiinternen Ermittlungen gegen Jürgen Möllemann als honoriger Sachwalter der Parteifinanzen und Ausbund an rechtsstaatlicher Korrektheit präsentiert. Die persönliche Tragödie seines Todes nimmt dem Urteil van Rossums nichts, denn Rexrodt war vor allem Sachwalter eines Herrschaftsprinzips, das die Menschen ungeachtet dessen, ob sie ihm nun dienen oder sich ihm in den Weg stellen, stets überlebt.

Die in diesem Buch geleistete Kritik an der Kollaboration von Medien, Politik und Kapital wäre eine gute Lektüre für den Gemeinschaftskundeunterricht an deutschen Schulen. Wer gerne über Medienkompetenz doziert und die Erziehung zum mündigen Demokraten als pädagogisches Kernanliegen versteht, dürfte an einer Aufklärung, wie sie van Rossum durchaus im Einklang mit den politischen Idealen der Bundesrepublik leistet, eigentlich nicht vorbeigehen.


Walter van Rossum
Meine Sonntage mit "Sabine Christiansen"
Wie das Palaver uns regiert
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004
185 Seiten, 8,90 Euro
ISBN 3-462-03394-8