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REZENSION/249: Bernd Hamm, Hg. - Gesellschaft zerstören (Bush & Co.) (SB)


Herausgeber: Bernd Hamm


Gesellschaft zerstören

Der neoliberale Anschlag auf Demokratie und Gerechtigkeit



Angesichts des von den Fernsehanstalten in der ganzen Welt live ausgestrahlten Schreckens der Flugzeuganschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center und das Pentagon waren es - und sind es bis heute geblieben - die wenigsten, die dieses Datum mit einem zwar einige Jahre zurückliegenden, jedoch für die Menschheitsgeschichte fast ebenso verhängnisvollen, politischen Ereignis in Verbindung brachten. Genau 28 Jahre vor dem "Tag, der die Welt veränderte", war in Chile die erste freigewählte kommunistische Regierung der Welt mit Salvador Allende an der Spitze von rechtsgerichteten Militärs unter Generalissimus Augusto Pinochet weggeputscht worden. Der blutige Staatsstreich von Santiago, der ebenso wie der berühmtere "11. September" rund 3000 Zivilisten das Leben kosten sollte, fand nicht zuletzt auf Druck der USA und mit deren finanzieller, geheimdienstlicher und militärischer Unterstützung statt. Nicht umsonst hatte am 27. Juni 1970, also drei Jahre zuvor, Dr. Henry Kissinger, damals nationaler Sicherheitsberater von US-Präsident Richard Nixon, mit Blick auf die zunehmende Popularität von Allendes sozialgerechter Umverteilungspolitik unmißverständlich mit dem berühmt-berüchtigten Satz "Ich sehe nicht ein, warum wir nur wegen der Verantwortungslosigkeit seines eigenen Volkes zusehen sollen, wie ein Land kommunistisch wird" die Grenzen von "Freiheit" und "Demokratie" nach Washingtoner Leseart gezogen.

Seit dem Sturz und der Ermordung Allendes überrollt die Welt das, was die Autoren des vorliegenden Buchs "Gesellschaft zerstören" zurecht als "den neoliberalen Anschlag auf Demokratie und Gerechtigkeit" bezeichnen. Welche große historische Bedeutung dem 11. September 1973 und seinen Folgen beizumessen ist, zeigen zwei jüngst in den USA aufgekommene Diskussionen. Aufgrund von Äußerungen, die Verteidigungsminister Donald Rumsfeld Ende 2004 auf einer Lateinamerikareise von sich gab, sowie anhand eines entsprechenden Berichts des Nachrichtenmagazins Newsweek im Januar wurde vor kurzem in den US-Medien das Für und Wider der Anwendung der sogenannten "Salvador-Option" im Irak abgewogen. Angelehnt an diejenigen Praktiken, mit denen ab 1973 die von den USA unterstützten Diktaturen in Mittel- und Südamerika rund zwanzig Jahre lang oppositionelle Kräfte erfolgreich bekämpften, ist mit der "Salvador-Option" die unter der Regie des US-Militärs zu erfolgende Aufstellung, Ausbildung und Bewaffnung von einheimischen Todesschwadronen gemeint, welche die irakische Bevölkerung mit brutalen Aktionen terrorisieren und Zivilisten in großer Zahl ermorden sollen, um den Rückhalt des Widerstands bei den einfachen Menschen zu brechen. Bei der zweiten Diskussion der letzten Wochen ging es um die von US-Präsident Bush angestrebte Privatisierung des amerikanischen Rentensystems. Nicht wenige Kritiker sehen in diesem risikoreichen Vorhaben à la Enron, das zwecks Bereicherung des Wall-Street-Finanzkapitals aller Wahrscheinlichkeit nach Abermillionen Durchschnittsamerikaner um ein würdiges Leben im Rentalter bringen wird, eine Wiederauflage einer der umstrittensten "Reform"-Maßnahmen, welche die Regierung Pinochets unter der Regie neoliberaler Wirtschaftsexperten der Universität Chicago in den siebziger und achtziger Jahren in Chile durchführte.

Vor diesem Hintergrund zeugt die Veröffentlichung des Buchs "Gesellschaft zerstören" durch den Berliner Kai Homilius Verlag von höchster Aktualität und Relevanz, denn auch hier in Deutschland reißen die selbsternannten "Reformer" um Gerhard Schröder, Wolfgang Clement, Angela Merkel, Edmund Stoiber und Guido Westerwelle mit armutsfördernden Maßnahmen wie "Hartz IV" immer größere Löcher ins bisherige soziale Netz, um angeblich neue Arbeitsplätze zu schaffen, doch in Wirklichkeit um ihren Vorgesetzten bei der Großindustrie höhere Gewinnmargen zu bescheren. Welche verheerenden, gesellschaftlich zersetzenden Auswirkungen von dem seitens der im deutschen Bundestag vertretenen Parteien eingeschlagenen "Reformkurs" zu erwarten sind, läßt sich anhand jüngster Äußerungen des CSU- Sozialexperten Horst Seehofer erahnen, der wahrlich kein Revolutionär ist und dennoch vor wenigen Tagen Alarm geschlagen und die bestimmenden Kräfte in Berlin öffentlich bezichtigt hat, von dem "neoliberalen Irrglauben" befallen zu sein.

Doch auch ganz konkret werden in "Gesellschaft zerstören" die wichtigsten Aspekte, Daten und Persönlichkeiten der inzwischen bereits dreißig Jahre anhaltenden "neoliberalen Offensive" nachgezeichnet, welche die Regierung von George Bush jun. erheblich vorangetrieben hat. Im ersten Teil des Buchs werden nach einer furiosen Einleitung des Soziologieprofessors Bernd Hamm die "Machtkader" Amerikas unter die Lupe genommen. Der aus Berlin stammende Wirtschaftsprofessor Andre Gunder Frank analysiert die Präsidentschaftswahl 2000, die er offen als "faktischen Staatsstreich" bezeichnet, und warnt vor den Plänen der Bush- Regierung, die gemäß den Schriften der tonangebenden, neokonservativen Denkfabrik "Project for a New American Century" auf einen Polizeistaat USA und eine Pax Pentagon für die übrige Welt abzielen. Zu diesem wahnwitzigen Streben nach der globalen Militärherrschaft gehören sowohl das anvisierte nationale Raketenabwehrsystem als auch die nach dem 11. September durchgeführte Stationierung von US-Streitkräften auf Militäreinrichtungen in Afghanistan, im Irak sowie in den Ländern Zentralasiens zwecks Umzingelung von Rußland und China.

Der im London lebende Autor und Künstler William Bowles geht mit seiner "Bush-Familiensaga" der unglaublich erfolgreichen Kriminalgeschichte des mächtigsten Klans Amerikas nach, angefangen bei den umfangreichen Geschäften Prescott Bushs mit Nazi-Deutschland bis in den Zweiten Weltkrieg hinein, über die Rolle von George Bush sen. in der Affäre um die BCCI sowie in dem Iran-Contra-Skandal, die Verwicklung Neal Bushs in den Savings-and-Loan-Bankenkonkurs der achtziger Jahre sowie die Kontakte Jeb Bushs zur kubanischen Mafia in Florida bis hin zu den dubiosen Geschäftspraktiken von George Bush jun. während seiner Zeit in der texanischen Ölindustrie. Auch wenn Bowles nicht vergißt, die höchst verdächtige Tatsache zu erwähnen, daß mit Marvin ein Präsidentenbruder im Vorstand jener Firma saß, die am 11. September für die Sicherheit der WTC-Zwillingstürme verantwortlich war, so fehlt leider der Hinweis auf die nachgewiesenen Verbindungen von George Bush sen. zum koreanischen Sektenführer Reverend Sun Myung Moon, dessen von ihm hochsubventionierte Zeitung, die Washington Times, seit mehr als zwanzig Jahren als Sprachrohr der neoimperialistischen Fraktion im Pentagon gilt.

In seinem Beitrag über die "Kriegsfalken" beleuchtet Andrew Austin, Soziologiedozent an der Universität Green Bay im US-Bundesstaat Wisconsin, unter anderem die unheilvolle Verbindung zwischen "Arik's America Front", gemeint sind die dem israelischen Likud Ariel Scharons nahestehenden Neokonservativen um Paul Wolfowitz und Richard Perle, und den religiösen Fundamentalisten in den USA um den sich als wiedergeborenen Christen gebenden Ex-Alkoholiker Bush. Gerade diese unsägliche Allianz liefert die aktuelle Begründung für die unilateralistische, sich über das bisherige Völkerrecht hinwegsetzende Außen- und Sicherheitspolitik der USA einschließlich Präemptivkriegs- und Konterproliferationsdoktrin, von Bush unter Berufung auf die moralische Führungsrolle Amerikas euphemistisch "Vorwärtsstrategie der Freiheit" genannt. Zum Abschluß des ersten Teils präsentiert Walter E. Davis, außerordentlicher Professor an der School of Exercise, Leisure and Sport der Kent State University im US- Bundesstaat Indiana, eine beeindruckende Zusammenfassung der wichtigsten Fakten, die nach Meinung vieler kritischer Geister als "zwingende Beweise für eine Mittäterschaft" der Bush-Regierung bei den Anschlägen vom 11. September gelten.

Im zweiten Teil des Buchs wird detailliert auf die "neoliberale Zerstörung der amerikanischen Gesellschaft" eingegangen. Mit "Über dem Gesetz: Der Einfluss der Exekutive nach den Anschlägen des 11. September" setzen sich Alison Parker und Jamie Fellner von der New Yorker Organisation Human Rights Watch kritisch mit den Auswirkungen des drakonischen USA-PATRIOT-Act sowie der Präsidentenerlasse Bushs auseinander, aufgrund derer sich CIA und Pentagon im "Antiterrorkrieg" nicht mehr an die Genfer Konventionen gebunden fühlen und die bekanntlich zu den unsäglichen Folterskandalen von Guantánamo Bay und Abu Ghraib geführt haben. Parker und Fellmer stellen einen mit "fadenscheinigen Gründen" ausgelösten "Angriff auf den Rechtsstaat" fest, infolge dessen "die Welt zum Schlachtfeld" wird.

In dem Beitrag "Verwundbarkeit eines Wirtschaftsriesen" veranschaulicht der englische Ökonom Trevor Evans anhand zahlreicher Statistiken die wirtschaftlichen Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte in den USA, darunter die erstarkte Position des Finanzsektors auf Kosten der verarbeitenden Industrie, die sich enorm vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich, die Schwächung der Mittelschicht u. v. m. In dem Kapitel "Der Weg zur Wirtschaftskriminalität" läßt der aus North Dakota stammende Bürgerrechtler und Verleger Ted Nace die großen Finanzskandale der letzten Jahre in den USA Revue passieren und führt diese auf die zunehmende Abhängigkeit der amerikanischen Volksvertreter - zum Beispiel über die Wahlkampfspenden - vom Großkapital zurück. In seinem Bericht zur "tatsächlichen Lage der Nation", zeichnet Jay Shaft, der selbst ein Gemeindezentrum für Obdachlose in St. Petersburg, Florida, leitet, ein erschütterndes Bild der um sich greifenden Armut im "Land der unbegrenzten Möglichkeiten".

Unter der Überschrift "Der politische Aufstieg der Umweltgegner" beleuchten der bereits erwähnte Andrew Austin und seine Kollegin Dr. Lorel Phoenix, Dozentin für Public and Enviromental Affairs an der University of Wisconsin in Green Bay, die "gewaltige Gegenbewegung", welche die US-Großindustrie und ihre bezahlten Handlanger bei diversen konservativen Denkfabriken - an prominenter Stelle natürlich Richard Perles American Enterprise Institute - in den letzten drei Jahrzehnten für das "freie Unternehmertum" und gegen die Bürgerinitiativen und Umweltschützer entfacht haben. Als wichtiger Teil dieser Gegenbewegung darf die Wahl George W. Bushs zum Präsidenten im Jahre 2000 angesehen werden, nachdem dieser sich während seiner Zeit als Gouverneur in Austin durch großzügige Deregulierung der Umweltbestimmungen den Spitznamen des "toxischen Texaners" hart erarbeitet hatte. Folglich war es höchstens für die Menschen in Übersee eine Überraschung, für die Amerikaner selbst aber keine, als Bush kurz nach seinem Amtsantritt im Frühjahr 2001 den Ausstieg der USA aus dem Kyoto-Protokoll verkündete.

Im dritten Teil - "Die Weltherrschaft" - geht es um das selbsterklärte Ziel der Neokonservativen in der Bush-Regierung nach "full spectrum dominance", das heißt der langfristigen Installierung der militärischen Vorherrschaft der USA auf dem Land, in der Luft, zur See, im erdnahen Weltraum sowie auf der Informationsebene. Amerikas berühmtester Intellektueller, der MIT-Linguistikprofessor Noam Chomsky, weist nach, daß der sogenannte "Antiterrorkrieg" bereits vor einem Vierteljahrhundert von Ronald Reagan ausgerufen wurde, und warnt, daß er, wenn es nach den Befürwortern dieses manichäischen Kampfes zwischen Gut und Böse geht, aller Wahrscheinlichkeit nach niemals enden wird. Bezeichnenderweise hat der ehemalige CIA-Chef R. James Woolsey, ein führendes Mitglied der Stahlhelmfraktion in Washington, den 11. September 2001 zum Auftakt des "Vierten Weltkriegs" erklärt (der neokonservativen Mythologie zufolge war der angeblich durch die "moralische Klarheit" Ronald Reagans gewonnene Kalte Krieg, die von einer gigantischen Aufrüstung des US-Militärs in den achtziger Jahren bekräftigt wurde, der Dritte Weltkrieg). In seinem Kapitel "Kurze Geschichte der internationalen Interventionen der USA, 1945 bis heute" listet der renommierte US- Historiker William Blum dezidiert die vielen zum Teil geheimen und zum Teil offenen Einmischungen Washingtons in die Angelegenheiten anderer Länder auf. Zu dieser "umfangreichsten Zusammenstellung" gehören die staatsterroristischen Umtriebe Gladios in Italien in den siebziger und achtziger genauso wie die Zerschlagung des sozialistischen Vielvölkerstaats Jugoslawien in den neunziger Jahren.

In dem Kapitel "Globale Armut im späten 20. Jahrhundert" erläutert der kanadische Wirtschaftsprofessor Michel Chossudovsky vom Centre for Research on Globalisation die katastrophalen Folgen der neoliberalen Politik von Weltbank und Internationalem Währungsfonds, die nicht zufällig beide ihren Sitz in Washington haben. In einem zweiten Beitrag mit dem Titel "Papiertiger, Feuerdrache" geht Andre Gunder Frank recht gründlich der Frage nach, inwieweit das explodierende Handels- und Haushaltsdefizit der USA die eine Säule der amerikanischen Macht, den Dollar, unterminiert und ob die wirtschaftliche Schwäche Amerikas der eigentliche Grund dafür ist, daß sich Washington zunehmend auf die zweite Säule, die rüstungstechnologische Überlegenheit der amerikanischen Streitkräfte, setzt. Mit Blick auf das Abenteurertum der Bush-Regierung spricht Frank unumwunden von einer "Politik der Erpressung". Ob es den USA damit gelingen wird, die Verbündeten gefügig zu halten, den verbliebenen "Schurkenstaaten" den Garaus zu machen und den aufsteigenden, "strategischen Konkurrenten" China in Schach zu halten, wird sich erst in den kommenden Jahren zeigen.

Zum Schluß bietet Laurel Phoenix einen, wie sie selbst sagt, "kurzen und unvollständigen" Überblick über "Das andere Amerika" einschließlich Beschreibungen und Kontaktadressen einiger der wichtigsten oppositionellen Gruppen und Redaktionen der USA wie beispielsweise der American Civil Liberties Union oder der altehrwürdigen, linken Wochenzeitschrift The Nation. Für alle, die sich in Zeiten des "globalen Antiterrorkriegs" für beide Amerikas interessieren und die sich über die sich verschärfenden, politisch- ökonomischen Widersprüche der einzig - noch - verbliebenen Supermacht informieren wollen, bietet "Gesellschaft zerstören" eine gleichermaßen aufschlußreiche wie beunruhigende Lektüre.

3. März 2005


Herausgeber Bernd Hamm
Gesellschaft zerstören
Der neoliberale Anschlag auf Demokratie und Gerechtigkeit
Kai Homilius Verlag, Berlin 2004
446 Seiten
ISBN 3-89706-600-9