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REZENSION/251: Dammbeck - Das Netz · Die Konstruktion des Unabombers (SB)


Lutz Dammbeck


Das Netz

Die Konstruktion des Unabombers



Seit der Dot.com-Blase in den neunziger Jahren und den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 in den USA gibt es vor dem hyperinflationären Gebrauch des Begriffs "Netz" und seiner zahlreichen Variationen kein Entkommen. Gestützt auf den alles- und zugleich nichtssagenden Terminus "Netzwerk" malen seit dreieinhalb Jahren Politiker wie George W. Bush, Tony Blair und Otto Schily sowie ihre Stichwortlieferanten, die selbsternannten "Sicherheitsexperten", die Gefahren des "transnationalen Terrorismus" hauptsächlich muslimischer Prägung in grellen Farben an die Wand und rechtfertigen somit einen angeblichen Verteidigungskampf des Westens gegen den sogenannten Islamismus sowie die Einführung drakonischer Überwachungsmaßnahmen in den Industriestaaten selbst. Nicht weniger überzogen muten die Bemühungen des Kunst- und Medienanalytikers Lutz Dammbeck an, mit der Schreckensvision vom "Netz" die Risiken des schon länger entstehenden, globalen Verbunds aus Computern, Menschen und Institutionen zu thematisieren.

Im Klappentext zum Buch "Das Netz - die Konstruktion des Unabombers" werden als "Teile des Netzes" unter anderem ARPANET, Bewußtseinskontrolle, John Cage, cognitive science, Buckminster Fuller, der CIA-Vorgänger OSS, Gestaltpsychologie, Kunst, Ken Kesey und die Merry Prankster, LSD, Militär, MK ULTRA, Multimedia, Neo- Ludditen, Träume von ONE WORLD und dem Cyberspace, Virtualität, Wissenschaft, Ludwig Wittgenstein und nicht zuletzt das gute, alte Sex, Drugs und Rock & Roll angeführt. Doch damit nicht genug. Am Ende dieser Auflistung bekannter (Gegen-)Kulturgrößen wird dem Leser folgendes eröffnet: "Dein Computer und dein Gehirn sind Teile des Netzes. Du selbst bis Teil des Netzes."

Wer sich von dieser vorgeblichen Erkenntnis in die Reaktion bringen läßt, hat selbst schuld. Dammbecks Beweihräucherung des "Netzes" macht in etwa soviel Sinn wie die Neuerfindung des Rades. Schon lange vor Computern, Mobiltelefonen, Systemtheorie und sonstigen Symbolen des postmodernen Zeitgeistes hat es Netze und Netzwerke in der Menschheitsgeschichte, man bedenke das umfassende Straßensystem des römischen Reiches, wie auch in der Natur - Hallo Spinne! -, gegeben. Dammbecks ontologische Metapher taugt nicht mehr oder minder zur Erhellung des aktuellen Stands der gesellschaftlichen Entwicklung als des Komikers Hape Kerkeling einstige Satirenummer auf das deutsche Fernsehen: "Das ganze Leben ist ein Quiz".

Bei dem Buch "Das Netz" handelt es sich in erster Linie um ein Begleitheft zur gleichnamigen, von Südwestrundfunk und Arte produzierten Dokumentation, für die Dammbeck 2004 auf dem European Media Art Festival den EMAF Award erhielt. Der Film "Das Netz" wurde im Januar im Rahmen des Filmfestivals Globale 05 im Deutschen Filmmuseum Frankfurt prämiert, läuft seitdem in den Programmkinos und soll demnächst von Arte ausgestrahlt werden. Nach Angaben des Verlegers gelten Buch und Film als "Teil der künstlerischen Auseinandersetzung", mit der Dammbeck seit 1983 in Bildern, Collagen, Filmen und Installationen unter dem Titel "Herakles Konzept" Zusammenhänge von Kunst, Macht, Wissenschaft und Philosophie reflektiert.

Den Ausgangspunkt für "Das Netz" beschreibt der 1948 geborene Maler und Filmemacher, der seit 1999 eine Medienklasse an der Hochschule für Bildende Künste Dresden leitet, wie folgt:

Mir war aufgefallen, dass es im Umfeld meines neuen Computers von Begriffen wimmelte, die ich schon aus anderen Zusammenhängen kannte: 'Multimedia', 'Virtualität', Grenzüberschreitungen und Revolutionen aller Art, das gehörte auch zum Programm einer in den 60er Jahren revoltierenden Kunst-Avantgarde, die alle Grenzen zwischen Kunst und Leben auflösen wollte: CHANGE NOW!
Pop- und Op-Art, Situationismus, Happenings, Künstler wie John Cage, Nam June Paik oder Andy Warhol, Bands wie Grateful Dead und Velvet Underground - das war ein Cocktail aus Revolte, Rock und Pop, der mich faszinierte. Die Botschaft war: Alles ist möglich, Realität ist beliebig veränderbar, du bist, was du sein willst! Merkwürdig, wie sich diese beiden Welten berührten, Computer und Kunst. Wieso verwendeten Künstler und Wissenschaftler beim Bau ihrer Maschinen anscheinend ähnliche Muster und Begriffe? Gab es ein geheimes Grundmuster oder System? (S. 7-8)

Von solchen Fragen beseelt, reist Dammbeck nach Amerika, um Interviews mit einigen der wichtigsten Pioniere und Vordenker unserer computervernetzten Industriegesellschaft zu führen, die vielfach von den Eine-Welt-Ideen der "Flower-Power-Generation" inspiriert gewesen zu sein scheinen. Im Laufe dieser Arbeit stößt Dammbeck - so jedenfalls behauptet er - auf eine der "spektakulärsten Kriminalgeschichten der USA", nämlich den Fall des UNA-Bombers Theodore J. Kaczynski. Der hochbegabte Akademiker und Harvard- Absolvent wurde im April 1996 in einer abgelegenen Holzhütte im Bundesstaat Montana, wo er seit mehr als einem Vierteljahrhundert ohne Strom und ohne fließendes Wasser das Leben eines Einsiedlers geführt hatte, verhaftet. Zwischen Mai 1978 und April 1995 hatte der ehemalige Mathematikprofessor an der Universität Berkeley Paketbomben in Hochschulgebäuden und auf Firmengeländen deponiert sowie Briefbomben an hochrangige Konzernmanager und Wissenschaftler, darunter auch an den Vorstandsvorsitzenden der Fluggesellschaft United Airlines, verschickt. Bei den insgesamt 16 Anschlägen wurden drei Menschen getötet und 23 weitere zum Teil schwer verletzt. 1980 richtete die Bundespolizei FBI die Sonderkommission UNABOM, abgeleitet von Universities and Airlines, den bevorzugten Anschlagszielen des Attentäters, ein, woraus später die Presse die Figur des UNA-Bombers machte.

Am 2. August 1995 erschien bei der New York Times und der Washington Post das Manifest "Industrial Society and its Future". Zuvor hatte der UNA-Bomber gegenüber den Strafverfolgungsbehörden schriftlich versprochen, im Gegenzug keine Anschläge mehr durchzuführen. Kurze Zeit danach wurde Ted Kaczynski verhaftet, denn sein Bruder Michael hatte im Manifest einige Zitate erkannt und das FBI alarmiert. 1998 wurde Kaczynski ohne Beweisaufnahme und Gerichtsverhandlung zu einer Freiheitsstrafe von viermal lebenslänglich plus 30 Jahren verurteilt. Dem Urteil ging ein in der amerikanischen Prozeßordnung übliches Plea Bargain voraus. Die Staatsanwaltschaft ließ ihre Forderung nach einem Todesurteil fallen, dafür mußte Kaczynski auf einen Prozeß, bei dem er sich eventuell selbst hätte verteidigen und die Gründe seiner Handlungen erklären können, verzichten.

Dammbeck, der seit 2001 mit Kaczynski in brieflichem Kontakt steht, scheint in diesem eine Art Johannes der Täufer der Anti- Globalisierungsbewegung gefunden zu haben. Wie man der Pressemitteilung des "Netz"-Herausgebers Edition Nautilus entnehmen kann, gehört zur bereits erwähnten dammbeckschen Installation "Herakles Konzept" in der Tat ein - sicherlich detailgetreuer - Nachbau des früheren Kaczynski-Walddomizils. Das in der deutschen Übersetzung erstmals vollständig erscheinende Manifest des UNA- Bombers macht den größten Teil - 118 von 186 Seiten - des Buchs "Das Netz" aus. Dessen Autor stellt die nicht von der Hand zu weisende These auf, daß die Bombenkampagne Kaczynskis politisch motiviert war und als gewaltsame Reaktion auf die hochtechnisierte Industriegesellschaft zu verstehen sei. Er fragt: "Warum verwandelt sich ein Musterschüler mit einem IQ von 170 zu einem 'most wanted' Terroristen?" (S. 9) Von denjenigen, die Kaczynski am liebsten als geisteskranken Spinner abtun würden, ist Dammbeck hierfür in den letzten Wochen zum Teil heftig kritisiert worden. So hat beispielsweise Hermann-Christoph Müller seine Rezension des "Netzes" für die am 21. Februar vom Deutschlandfunk ausgestrahlte Sendung Politische Literatur mit einer bemerkenswert drastischen wie selbstgerechten Empfehlung an die Adresse der Bundesanstalt für Politische Bildung abgeschlossen:

Sie täte gut daran, den Film samt Begleitheft im Interesse der Schüler so bald wie möglich aus dem Verkehr zu ziehen. Für die Medienerziehung bietet 'Das Netz. Unabomber, LSD und Internet' ein denkbar schlechtes Anschauungsmaterial und taugt allenfalls als Negativbeispiel.

Ohne sich dieser hysterischen Überreaktion, die in erster Linie vom mangelhaften Vertrauen in das Urteilsvermögen der heutigen Schüler und ihrer Lehrer zeugt, anschließen zu wollen, gibt es sicherlich vieles, das man am Buch Dammbecks aussetzen könnte. So wirkt es nicht wie ein eigenständiges Sachbuch, sondern eher wie ein Abfallprodukt der Fernsehdokumentation. Zwar schneidet der Autor zahlreiche interessante Themen an und weist auf nicht wenige einem breiten Publikum eher unbekannte Zusammenhänge hin - wie beispielsweise die Teilnahme Kaczynskis an frühen Psychologieexperimenten an der Harvard- Universität, die in Zusammenhang mit den Bemühungen der CIA und des US-Verteidigungsministeriums um bessere Verhör- und Beeinflussungsmethoden, Stichwort MK Ultra und Operation Artichoke, standen -, doch leider kann die etwas oberflächliche Abhandlung nicht befriedigen. Wenn Dammbeck beispielsweise unter Verweis auf den Unvollständigkeitssatz des Mathematikers Kurt Gödel erklärt, "Die Wahrheit ist der Beweisbarkeit überlegen", so ist das wohl kaum etwas anderes als ein sinnentleerter Spruch, der über das Niveau chinesischer Glückskekse nicht hinauskommt.

Nichtsdestotrotz sind die von Dammbeck aufgeworfenen Fragen, im besonderen, ob Kaczynski vielleicht nicht selbst ein Spätopfer jener bereits erwähnten Experimente gewesen ist - worauf die Formulierung "Die Konstruktion des Unabombers" im Titel des Buchs aller Wahrscheinlichkeit nach anspielt -, sowie im allgemeinen, inwieweit sich die Menschen von der modernen Informationstechnologie versklaven und sich damit um die eigenen Entwicklungsmöglichkeiten bringen lassen, von existentieller Bedeutung. Sie überhaupt zu stellen ist schon ein positiver, gesellschaftlicher Beitrag - von der allzu künstlerischen, an Analyse zu wünschen übriglassenden Verpackung einmal abgesehen. Das UNA-Bombermanifest selbst ist nicht ganz uninteressant, wiewohl sein etwas dröger Inhalt als ein Gebräu aus Isaac Asimovs Science-Fiction-Romanserie "Foundation", Abraham Maslow's Selbstverwirklichungsmodell "Hierarchy of Needs", der Blockhüttenromantik à la Henry David Thoreaus "Walden", Neil Postmans "Entertaining Ourselves to Death" und Stanley Kubricks und Anthony Burgess' "Uhrwerk Orange" daherkommt.

Spannend sind dagegen die Interviews Dammbecks, vor allem das mit dem 1911 geborenen Physiker und Philosophen Heinz von Foerster. In den sechziger Jahren leitete Foerster das Biological Computer Laboratory an der Universität von Illinois, wo er im Auftrag von US-Luftwaffe und -Marine unter anderem die Möglichkeiten der Verschmelzung von biologischen und digitalen Systemen erforschte. Mit von Foerster spricht Dammbeck über Logik und den Unvollständigkeitssatz Gödels und fragt, ob dieser damit eine Lücke in der Theorie der Mathematik gefunden habe. Der darauf einsetzende Dialog - Seite 43 und 44 - zwischen Künstler und Wissenschaftler zählt, was den Unterhaltungswert und die gedankliche Anregung betrifft, zu den Höhepunkten des Buchs und soll deshalb zum Schluß kurz zitiert werden.

Foerster: Nein, es ist nicht die Lücke im Theoriegebäude der Mathematik, es ist eine Lücke in der Geschichte, die ich erfunden hab, um das Entstehen des Weltalls zu erklären...
Dammbeck: Das heißt, der Gödelsche Unvollständigkeitssatz ist auch bloß eine 'schöne Geschichte', eine Erfindung?
Foerster: Ja, natürlich.
Dammbeck: Und diese Erfindung stellt andere Erfindungen in Frage?
Foerster: Genau. Der Big Bang ist ja auch eine Erfindung, nicht. Da kann man immer fragen: Woher kommt dieser Big Bang, und da können die natürlich sagen, da gibt es Teilchen, die, wenn man genügend viele zusammensetzt, machen sie einen Big Bang ... oder so ... na jetzt mache ich Blödel, aber so entsteht dann die Erfindung des Weltalls.
Dammbeck: Also uns Laien wird das als die 'heilige Schrift' erklärt ...
Foerster: Ja natürlich, die heilige Schrift muss das werden, was ich schreibe, denn sonst glaubt's mir niemand.

10. März 2005


Lutz Dammbeck
Das Netz - Die Konstruktion des Unabombers
Edition Nautilus, Hamburg 2005
192 Seiten, 13,90 Euro
ISBN 3-89401-453-9