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REZENSION/255: Moshe Zuckermann - Wohin Israel? (Nahost) (SB)


Moshe Zuckermann


Wohin Israel?



Die historische Lüge des Zionismus, wonach das "Volk ohne Land" in Palästina ein "Land ohne Volk" vorgefunden und kultiviert habe, ist programmatischer Natur. Daß es sich bei dieser plakativen These um eine fundamentale ideologische Position und nicht etwa um ein aus Unkenntnis oder Fehleinschätzung geborenes Mißverständnis gehandelt hat, dokumentieren geschichtliche Quellen. Theodor Herzl war bekanntlich selbst nach Jerusalem gereist, um dessen arabischen Bürgermeister für den Landverkauf an einwanderungsbereite Juden aus Osteuropa zu erwärmen. "Wohin sollen die Menschen gehen, wenn sie ihr Land verkauft haben?", fragte der Bürgermeister und lehnte das Ansinnen ab.

Von Beginn an waren die Zionisten nicht bereit, den Palästinensern auf Augenhöhe zu begegnen und sie als Volk mit allen damit verbundenen Rechten und kulturellen Leistungen anzuerkennen. Der Terminus "Land ohne Volk" schreibt die Nichtexistenz der Palästinenser als rechtmäßige Bewohner der Region und demzufolge Verhandlungspartner beim Einwanderungsplan aus Sicht des konzipierten Staates Israel vorab fest. Diese explizite Überhöhung des eigenen Volkes und aller daraus resultierenden Forderungen war unabdingbar, um uralte Ansprüche auf das "gelobte Land" geltend zu machen.

Als die damalige Kolonialmacht Großbritannien mit der ihr eigenen Arroganz vorschlug, die in Osteuropa verfolgten Juden in Uganda anzusiedeln, lehnte eine empörte Mehrheit des zionistischen Weltkongresses dies vehement ab. Daß eine Minderheit der Delegierten diese aus heutige Sicht abstrus anmutende Option immerhin in Erwägung zog, zeugt vom tendenziell areligiösen Charakter des frühen Zionismus, der von der Durchsetzung eines modernistischen Gesellschaftsmodells beseelt war. Dennoch blieb die Inbesitznahme des als historisches Erbe, wenn nicht gar gottgewollte Zuteilung reklamierten Landstrichs samt der zwangsläufigen Verdrängung seiner aktuellen Bewohner die optimale Maxime, da sie dem Raub dessen Rechtfertigung hinzufügte.

Wie jede andere Staatsgründung war auch die israelische ein Akt der Herrschaftssicherung nach innen und außen, der akute und künftige Opfer militärischer Aggression und administrativer Verfügung produzierte. Was die zionistische Position in all ihren Facetten auszeichnet, ist indessen ihr impliziter Drang, die eigene Überlegenheit und den absoluten Vorrang ihrer Interessen a priori zu postulieren und in die Tat umzusetzen. So wenig die Pälestinenser aus dieser Perspektive seinerzeit als Volk vorkamen, so sehr entzieht sich der Staat Israel heute jeder Beurteilung seiner Handlungen, selbst wenn diese im Falle anderer Länder als Kriegsverbrechen oder eklatante Menschenrechtsverletzungen gebrandmarkt würden.

In Waffenbrüderschaft mit den USA, die Jahr für Jahr 40 Prozent ihrer weltweiten Rüstungshilfe und damit mehr als 3 Milliarden Dollar nach Israel pumpen, das ohne diesen finanziellen Zustrom als hochaggressive Militärmacht nicht überlebensfähig wäre, fungiert das vergleichsweise junge und der arabischen Welt gewissermaßen aufgepfropfte Staatsgebilde als unverzichtbarer Handlanger in Nahost, um der neuen globalen Ordnung zur Durchsetzung zu verhelfen.

Wenn Prof. Dr. Moshe Zuckermann seinen Essay über die aktuelle politische Situation und Perspektiven des Staates Israel unter die Frage "Wohin Israel?" subsumiert, kann die Antwort nur erschreckend düster ausfallen. Nichts spricht dafür, daß die Palästinenser oder die Nachbarländer Milde und Versöhnungswillen zu erwarten hätten. Frieden mit den Palästinensern, der diesen Namen verdient, kann es im Grunde nicht geben, da Israel die ursprüngliche Okkupation niemals rückgängig machen wird. Selbst die im Zuge der Expansion einverleibten besetzten Gebiete wird keine israelische Regierung vollständig zurückgeben. So geht der Rückzug aus dem Gazastreifen mit einem um so massiveren Zugriff auf das Westjordanland einher, das im Kontext knapper Ressourcen wie Siedlungsraum, Ackerland und Wasser für das Überleben zu Lasten anderer wichtiger denn je ist. Bei der Debatte um eine Wiederaufnahme des von israelischer Seite immer wieder abgebrochenen Friedensprozesses kann es daher allenfalls um das Ausmaß an Ausplünderung, Verelendung und Erniedrigung gehen, mit dem die Palästinenser sich abzufinden bereit sind.

Zuckermann enthält sich letzten Endes einer Antwort auf die titelgebende Frage. Er zitiert in seinen Schlußzeilen vom Juni 2003 aus einem Beitrag von "Gush Shalom", der Friedensorganisation des altgedienten Friedensaktivisten und Publizisten Uri Avnery, in der Tageszeitung "Ha'aretz":

Einladung zum Terror: Fünf Generäle haben entschieden, einen Anschlag auf Abd-el-Aziz-el-Rantisi zu verüben: Der Regierungschef, der Verteidigungsminister, der Generalstabschef und die Führer des Mossad und des Inneren Nachrichtendienstes. Das ist die Militärjunta, die den Staat faktisch beherrscht - über den Kopf der Bande von Zwergen, die sich Regierung nennt, und über den Kopf der Bande von Ignoranten und Kriminellen, die sich der Knesseth bemächtigt hat, hinweg. Das Ziel: die road map in ihrer Frühphase zu drosseln, Abu Mazen zu zerstören und die 'Hudna' [den palästinensischen Waffenstillstand] zu verhindern, um die Siedlungen zu retten, die Besatzung fortzusetzen und die Errichtung des Staates Palästina zu verhindern. Sharon und seine Partner haben die Gewalt bestellt - und nun feiert die Gewalt. Nur ein Tor konnte glauben, daß Sharon Frieden stiften würde. Sharon ist ein Kriegsmensch, und der Krieg wird ihn begleiten, wohin er sich auch immer wenden wird.

Und Moshe Zuckermann fährt fort:

Das sind harte Worte, die aber ganz gewiß einen harten Wahrheitskern bergen. Warum der aufkommende Zweifel hinsichtlich der neuen Verhandlungsinitiative über die Person Sharons hinausgeht, sollte im vorliegenden Text erörtert werden. "Wohin Israel?" bleibt vorerst eine unbeantwortete Frage. Es ist eine Zeit des Umbruchs, die gewisse neue Hoffnung weckt. Solche Zeiten sind aber im Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts allzu oft in den Zusammenbruch gemündet. Eine real besorgte Naiverwartung scheint zur Zeit die wohl angemessenste Haltung zu sein.

Man kann Moshe Zuckerman, der zu den prominentesten israelischen Kritikern der Verhältnisse in seinem Land zählt, gewiß nicht verdenken, daß er sich zuletzt einen Hoffnungsfunken gönnt, zu dem freilich wenig Anlaß besteht. Beim Schreiben dieses Essays wurde er immer wieder von den politischen Ereignissen eingeholt, so daß sich der Text in mehrere Teile gliedert, deren Entstehungszeit jeweils angegeben ist. Daß jüngste Entwicklungen darin noch nicht berücksichtigt sind, tut der thematischen Aktualität jedoch keinen Abbruch, da der Autor nicht nur auf die jeweils tagespolitischen Kernfragen eingeht, sondern seinem Stoff mit grundsätzlichen und übergreifenden Analysen und Bewertungen zu Leibe rückt.

Moshe Zuckermann wurde 1949 in Tel Aviv geboren und hat zwischen 1960 und 1970 in Frankfurt am Main gelebt. Nach seiner Rückkehr nach Israel studierte er Soziologie, Politologie und Geschichte in Tel Aviv. Er promovierte 1987 in deutscher Geschichte und lehrt seit 1990 an der Universität Tel Aviv Geschichte und Philosophie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Seit 2000 leitet er das Institut für deutsche Geschichte in Tel Aviv. Aufgrund seiner Herkunft und seines Werdegangs braucht er sich zumindest den Vorwurf des "Antisemitismus" nicht gefallen zu lassen, den man ausländischen Kritikern von Staat und Gesellschaft Israels gern um die Ohren schlägt.

Was "richtige Juden" zu denken haben, beschäftigt hierzulande unter anderem die Fraktion der sogenannten Antideutschen, die seit etlichen Jahren eine Hetzkampagne gegen Moshe Zuckermann betreiben. Der jüdische Denker in der Tradition der Kritischen Theorie Adornos begeht in ihren Augen die unverzeihliche Schandtat, ihre von Faktenkenntnis oftmals unberührte Interpretation der Weltlage und insbesondere ihre borniert positive Auslegung israelischer Politik selbst unter der rechtsgerichteten Likud-Regierung nicht zu teilen.

Dauerhafter Frieden ist nach Auffassung Zuckermanns nur zu erreichen, wenn die israelische Politik bereit ist, vier Bedingungen zu akzeptieren, nämlich Abzug aus den besetzten Gebieten, Räumung der Siedlungen, die Lösung der Jerusalem-Frage im Sinne einer Zwei-Staatenlösung und eine zumindest prinzipielle Anerkennung des Rückkehrrechts der Palästinenser. Bei letzterem gehe es vor allem um eine symbolische Anerkennung dieses Rückkehrrechts, da es sich unterhalb dieser Schwelle auf palästinensischer Seite niemand leisten könne, einen Frieden mit Israel zu schließen. Daß die Palästinenser mehrheitlich eine Zwei- Staaten-Lösung wünschen, während nur etwa ein Viertel in der Gründung eines binationalen Staates eine Lösung sieht und lediglich ein Achtel die Schaffung eines islamischen Staates begrüßen würde, ist seit längerem bekannt. Es stellt sich nach den Worten Zuckermanns jedoch die Frage, ob Israel ebenfalls an einer Zwei-Staaten-Lösung interessiert ist und wie diese gegebenenfalls auszusehen hätte.

Würde sich Israel aus dem Gazastreifen und der Westbank zurückziehen, wäre der Frieden von palästinensischer Seite höchstwahrscheinlich schon morgen zu haben. Es darf jedoch bezweifelt werden, daß die derzeitige oder eine künftige israelische Regierung bereit ist, die Westbank oder deren größten Teil zurückzugeben. Selbst die Scharon-Regierung kann die Räumung der Siedlungen im Gazastreifen nach Meinung Zuckermanns innenpolitisch durchhalten, denn dort leben nur 6.000 bis 7.000 jüdische Siedler. Der neuralgische Punkt sei vielmehr die Westbank mit ihren 220.000 Siedlern. Wollte man diese Siedlungen räumen, käme es aller Voraussicht nach zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Schon bei der Diskussion um den Gazastreifen gab es in Israel heftige Proteste vom rechten Flügel. Ein Rückzug aus der Westbank wäre für national-religiöse Juden eine nahezu endzeitliche Forderung, die sie niemals hinnehmen könnten.

Viele Siedler würden sich mit Gewalt gegen einen Abzug wehren, wie nicht zuletzt die von Tausenden Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren unterstützte Petition, sich in einem solchen Fall Befehlen zu verweigern, belegte. Faßt Israel aber keinen solchen Beschluß, verfestigt sich die Situation der Apartheid oder es bilden sich de facto binationale Strukturen heraus, die aus zionistischer Sicht als verwerflich gelten. Die große Mehrheit der Menschen wünsche sich Frieden, doch seien in Israel nur die wenigsten bereit, dessen Preis zu zahlen.

Brisant bleibt auch die Frage des Rückkehrrechts. Die Flüchtlinge stammen ja aus dem israelischen Kernland, aus dem sie 1948 vertrieben worden oder geflüchtet sind. Eine umfassende Rückkehr dorthin wird es nicht geben, da Israel den jüdischen Charakter seines Staates wahren will und allenfalls eine begrenzte Marge aufnehmen würde. Im Rahmen einer Zwei-Staaten-Lösung wäre die Einwanderung in den palästinensischen Nationalstaat möglich, wofür jedoch dessen Ökonomie und Infrastruktur massiv ausgebaut werden müßten. Somit ist die Frage des Rückkehrrechts untrennbar mit der Bildung zweier Staaten verknüpft.

Unterdessen schließt der israelisch-palästinensische Konflikt einen Wirtschaftsaufschwung auch auf israelischer Seite aus. Ein wesentlicher Grund der ökonomische Krise ist die Intifada, so daß die israelische Führung ihren permanenten Krieg nicht zuletzt auf Kosten einer zusehends zerrissenen Gesellschaft betreibt. Etwa 20 Prozent der Bevölkerung leben inzwischen offiziellen Angaben zufolge unterhalb der Armutsgrenze, darunter viele der über eine Million in den neunziger Jahren ins Land gekommenen russischen Einwanderer, aber auch orthodoxe Juden, Araber und Äthiopier. Wie Zuckermann darlegt, sei die Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft seit vielen Jahren durch mehrere Konfliktachsen gekennzeichnet: die jüdisch-arabische, sowohl in Israel als auch in den besetzten Gebieten; die Konfliktachse zwischen orientalischen und aschkenasischen Juden; der Konflikt zwischen religiösen und säkularen Juden. Hinzu kämen Klassendiskrepanzen, wobei sich aber ethnische und klassenmäßige Widersprüche überlappten. Aschkenasische Juden machten weitgehend die oberen Schichten der Gesellschaft aus, während in den unteren Schichten orientalische Juden dominierten. Darunter stünden die Araber und noch tiefer die 350.000 Gastarbeiter aus Thailand, den Philippinen, Rumänien oder Schwarzafrika. So sei die Kluft zwischen Arm und Reich die größte in der westlichen Welt.

Angesichts dieser Zerrissenheit der realen Lebenswelten war die geschlossene Gesellschaft in Israel seit jeher ein bloßer Mythos, der durch den Zionismus und die Sicherheitsfrage zusammengehalten wurde. Als in den neunziger Jahren eine Friedenslösung näherzurücken schien und die Bedrohung ihre Funktion als Bindemittel vorübergehend einzubüßen begann, erreichten bezeichnenderweise die Probleme zwischen europäischen (aschkenasischen) und orientalischen (sephardischen) Juden einen vorläufigen Höhepunkt. Das Gleiche galt für die Kluft zwischen religiösen und weltlichen Juden, wie sie so in keinem anderen westlichen Land existiert. Auch zeichnete sich damals der Konflikt mit der palästinensischen Minderheit in Israel immer deutlicher ab. Und schließlich war die russische Zuwanderung zu 30 bis 40 Prozent gar keine jüdische, so daß in relativ kurzen Fristen mehr Nichtjuden nach Israel emigrierten als in den 50 Jahren davor. Viele dieser Einwanderer lehnten es ab, sich zu assimilieren, was die Fragmentierung der Gesellschaft nur noch verstärkte.

Der permanente Krieg gegen die Palästinenser und die damit verzahnte innere Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft entfesseln eine außerordentliche Brutalität und Skrupellosigkeit. So spricht man heute erstaunlich selbstverständlich von Vertreibung und Tötung der Palästinenser wie auch vom Recht der Armee, israelische Friedensdemonstranten niederzuschießen. Die zunehmende Gleichschaltung der öffentlichen Meinung, so Zuckermann, sei nicht mehr weit von einer faschistoiden Denkstruktur entfernt.

Seiner Auffassung nach steht Israel vor einer irritierenden historischen Weggabelung, wobei einer breiten Mehrheit im Land beide Optionen überaus suspekt seien. Räumt man die besetzten Gebiete, kommt es zum Bürgerkrieg. Setzt man die Okkupation dauerhaft fort, werden die Palästinenser früher oder später die Mehrheit im Land stellen, womit Israel als jüdischer Staat aufhören würde zu existieren. Aus dieser Situation resultiere eine tiefe Stagnation, die nur mit ausländischer Hilfe zu überwinden sei. Intervention von außen sei die einzig verbliebene Möglichkeit, den Friedensprozeß durchzusetzen und zu verhindern, daß die Gesellschaft zugrundegeht.

Moshe Zuckermann plädiert so für eine Lösung der Konflikte in zwei Phasen. Während eine Zwei-Staaten-Lösung zum Frieden mit den Palästinensern führen könne, müßten in der folgenden Etappe mit einer föderativen Struktur in der gesamten Region jene Probleme angegangen werden, die ein Staat allein nicht lösen könne. So wenig wahrscheinlich eine derartige Entwicklung auch anmuten mag, bedient sie doch immerhin das menschliche Bedürfnis nach Hoffnung und Sinnstiftung. Unerträglich wäre vielen hingegen die Vorstellung, daß die israelischen Eliten ihren Entwurf der Zukunft längst mit Blut geschrieben haben könnten: Nach außen ein Angriffskrieg gegen Syrien oder den Iran, die nach der Okkupation des Irak durch die US-geführte Koalition systematisch als nächste Monster aufgebaut werden, die es präventiv auszuräuchern gilt. Verstärkte Repression und administrative Verfügung im Innern, wo eine um sich greifende Denkkontrolle jede verbliebene kontroverse Gesinnung verschlingt.


Moshe Zuckermann
Wohin Israel?
Wallstein Verlag, Göttingen 2003
48 Seiten, 14,- Euro
ISBN 3-89244-669-5