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REZENSION/260: Volker Meid - Das Reclam Buch der deutschen Literatur (SB)


Volker Meid


Das Reclam Buch der deutschen Literatur

Literaturgeschichte



"Das Reclam Buch der deutschen Literatur" ist eine weitere von zahlreichen Literaturgeschichten für den deutschsprachigen Raum. Welchen anderen oder neuen Aspekt zum Thema hat sie also beizutragen, fragt man sich, wenn man das solide gebundene Buch mit dem Hochglanzumschlag in die Hand nimmt, auf dem - klassisch - das Goethe-Porträt von J.C. Stieler abgebildet ist. Der Buchrücken verrät es: "... eine neue Literaturgeschichte, die die Vorzüge von Sachbuch, Bildband und Nachschlagewerk vereint."

Diese werbewirksame Kombination reicht denn auch für den in unserer schnellebigen Zeit immer gehetzten Betrachter aus, sich einen Moment länger als ursprünglich beabsichtigt zum Durchblättern und Verweilen verführen zu lassen. Durch die zuerst ins Auge fallenden Bilder (606 Abbildungen auf 497 Seiten) entstehen Fragen, die dann durch übersichtlich gestaltete Überschriften und Gliederungspunkte neben den Bildern zum Lesen verführen und durch kurz gefaßte Texte zum Beispiel zu Epoche, Gattung oder Autor eine erste Informationsbefriedigung verschaffen.

Das 'Reclam Buch der deutschen Literatur' ist eine Geschichte der deutschen Literatur in einer neuen Form. Sie verbindet historische und systematische Sichtweisen und lässt durch die eng auf den Text bezogene reichhaltige Bebilderung und vielfältige, den jeweiligen Kontext erhellende Zusatzinformationen in den Randspalten - Zeittafeln, Biografien, Begriffserläuterungen, Zitate - ein facettenreiches und auch im wörtlichen Sinn farbiges Bild der Geschichte der Literatur im deutschen Sprachgebiet entstehen. Den Rahmen bildet die durchaus traditionelle Gliederung des chronologischen Verlaufs in neun literaturgeschichtliche Epochen ... (Vorwort)

Innerhalb der Systematik gibt es eine Menge zu entdecken. Die Auswahl vermittelt zunächst das Standardallgemeinwissen, besonders für Schulen geeignet, wo Literaturunterricht fast in Vergessenheit geraten ist. Von beispielsweise der "Heldenepik" (S. 72) und dem "Minnesang" (S. 58) über den "Bildungsroman" (S. 266), die "Novelle" (S. 360), die "Kurzgeschichte" (S. 422) bis zum "Politischen Theater" (S. 474) kann man sich jeweils einen kurzen Überblick verschaffen. Die Texte sind zwar nur als Einführung in die Themenbereiche zu nutzen, es werden aber genug Stichworte oder Andeutungen zum Weiterforschen gegeben.

Zugleich entsteht allerdings durch das "durchgängig formale Prinzip" von inhaltlichen Doppelseiten (Vorwort) der gewöhnungsbedürftige Eindruck einer Art Instant- oder Pocket- Version der Literaturwissenschaft, wenn zum Beispiel die umfangreichen Bereiche "Romantik" (S. 288), "Expressionismus" (S. 402) oder "DDR-Literatur" (S. 466) neben ebenfalls zweiseitigen Texten zu "Autobiografisches Erzählen" (S. 486) oder "Hörspiel" (S. 446) stehen.

Der Blick richtet sich so auf die verschiedenen Epochen und Strömungen, auf ausgewählte Autorinnen und Autoren, auf Fragen der Poetik und Ästhetik, auf die Entwicklung der literarischen Gattungen, auf literatur- und sozialgeschichtlich bedeutsame Stoffe und Themen, aber auch auf Aspekte der Wirkungsgeschichte und die grundlegenden gesellschaftlichen und institutionellen Bedingungen von Literatur, zusammengefaßt in den Komplexen Literaturbetrieb (Literarisches Leben, Literaturzentren, Institutionen, Literaturbeziehungen) und Medien. (Vorwort)

Diese umfangreiche Aspekteauswahl läßt den Eindruck entstehen, daß die Begriffe inhaltlich weitgehend gleichwertig nebeneinanderstehen, was eine Beliebigkeit oder Zerstreuung bewirkt und das Entwickeln eines eigenen Standpunktes zu dem einen oder anderen Thema erschwert. Eine Orientierung ist jedoch auch schwer zu bieten in einer Zeit, in der das Fach Literaturwissenschaft sich weit in die Philosophie, Kultur- und Medienwissenschaft erstreckt und Interdiziplinarität auf der einen sowie bloße Faktenanhäufung auf der anderen Seite die Zukunft zu sein scheinen.

Es bliebe zu klären, was eigentlich die Disziplin "Literaturwissenschaft" ausmacht, ohne die es eine Interdisziplinarität nicht geben kann. Volker Meid gibt ihr in seinem Werk einen historischen und sozialkritischen Bezug und präsentiert einen kleinen Traditionsbestand. Sein Augenmerk liegt auf der Darstellung der literarischen Wiedergabe gesellschaftlicher Mißstände, Veränderungen und politischer Auseinandersetzungen, was bei der Fülle des Materials nur eine kleine Auswahl der bekanntesten Ereignisse, Werke und Autoren sein kann und nur einen ersten Eindruck der Intensität des öffentlichen Disputes gibt. Mit anderen Worten: Das eigene Lesen, das Auffrischen geschichtlicher Grundkenntnisse und die Arbeit mit Primärtexten als Voraussetzung kann "Das Reclam Buch der deutschen Literatur" nicht ersetzen. Es gibt Anregung und ist ein gutes Nachschlagewerk für den ersten Bedarf.

Die grundsätzliche Debatte, warum das Schreiben überhaupt und die Auseinandersetzung mit Literatur einen Sinn oder eine Bedeutung für die Gesellschaft haben könnte, findet sich indirekt in den Autorenporträts angesprochen. Welcher Theorie Volker Meid zugewandt sein könnte, erkennt man an dem Zitat von Jean Paul Sartre, dem er ein besonderes Gewicht verleiht, indem er es neben das Vorwort stellt:

"Schreiben ist meine Gewohnheit, und außerdem ist es mein Beruf. Lange hielt ich meine Feder für ein Schwert: nunmehr kenne ich unsere Ohnmacht. Trotzdem schreibe ich Bücher und werde ich Bücher schreiben; das ist nötig; das ist trotz allem nützlich. Die Kultur vermag nichts und niemanden zu erretten, sie rechtfertigt auch nicht. Aber sie ist ein Erzeugnis des Menschen, worin er sich projiziert und wiedererkennt; allein dieser kritische Spiegel gibt ihm sein eigenes Bild." (Vorwort, J.P. Sartre, Die Wörter, übers. von Hans Mayer, 1965)
"Das Reclam Buch der deutschen Literatur" hat den Inhalt des Zitats zeitgemäß umgesetzt. Volker Meid kann die Literaturgeschichte in anderen als den herkömmlichen Konfigurationen schreiben, weil Widerspiegeln und Projizieren unter jedem der aufgeführten Aspekte wie Epoche, Gattung, Autor usw. stattfindet. Das Buch ermöglicht dem Leser nicht mehr und nicht weniger als methodisch unkonventionell vorzugehen und dadurch Neues zu entdecken - oder einfach nur, neugierig zu werden.

Volker Meid, geb. 1940, lehrte von 1970 bis 1982 als Professor für deutsche Literatur an der University of Massachusetts in Amherst/USA, an den Universitäten Freiburg und Bielefeld. Seither arbeitet er als freier wissenschaftlicher Schriftsteller. (Klappentext)


Volker Meid
Das Reclam Buch der deutschen Literatur
Literaturgeschichte
Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 2004
606 ein- und mehrfarbige Abbildungen
526 Seiten
ISBN 3-15-010521-8