Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/277: Jason Burke - Al-Qaida (Terrorismusforschung) (SB)


Jason Burke


Al-Qaida: Wurzeln, Geschichte, Organisation



Es dürfte kaum ein Buch geben, bei dem der Widerspruch zwischen dem, was es verspricht, und dem, was es hält, so groß ausfällt wie bei Jason Burkes "Al-Qaida - Wurzeln, Geschichte, Organisation". Der Chefreporter der liberalen britischen Sonntagszeitung Observer, der auch als Korrespondent für dessen Schwesterblatt Guardian schreibt, gilt als einer der führenden "Terrorismusexperten" Großbritanniens. Burke hat sich dieses Prädikat verdient, indem er sich in seinen zahlreichen Artikeln und Aufsätzen auf recht seriöse und differenzierte Weise um das Phänomen "islamischer Terrorismus" bemüht. Doch leider muß man bei Burke, der neben seiner englischen Muttersprache auch Arabisch und Urdu beherrscht und seit mehr als zehn Jahren aus dem Nahen Osten und Vorderasien berichtet, bemängeln, daß er trotz seiner nicht zu bestreitenden, großen Sympathien für die Völker dieser Weltregion unreflektiert eine subtile Version der scheinbar unausrottbaren, altbekannten Herrenmenschenmentalität des Westens an den Tag legt, wie auch viel zu unkritisch die Erkenntnisse der westlichen Geheimdienste zum Thema "globaler Antiterrorkrieg" wiedergibt.

Eigentlich müßte man Burke als postmodernen Kriegskorrespondenten bezeichnen, dem - wie dieser Tage allen sogenannten "Terrorismus-" und "Sicherheitsexperten" - die wichtige propagandistische Aufgabe zufällt, seinem Publikum in der industrialisierten Staatenwelt eine ihr schmeichelnde Interpretation dessen zu präsentieren, was die Regierung von US-Präsident George W. Bush nach den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 als "globalen Antiterrorkrieg" ausgerufen hat. Wie beschränkt diese Sichtweise ist, zeigt die Auswahl der von Burke zitierten Autoren. Zum besseren Verständnis des "Antiterrorkrieges" kommt man sicherlich nicht um die Schriften solcher den Neoimperialisten auf beiden Seiten des Atlantiks stichwortliefernden Autoren wie Peter Bergen, Bruce Hoffman, Samuel Huntington, Bernard Lewis, Loretta Napoleoni und Bob Woodward herum. Gleichzeitig aber fehlt, was eine ausgewogene Themenbehandlung ausgezeichnet hätte, in der Bibliographie, den Fußnoten wie im gesamten vorliegenden Buch, jeder Hinweis auf die Veröffentlichungen von Autoren wie Michel Chossudovsky, Daniel Hopsicker und Gerhard Wisnewski, die im "Kampf gegen Terrorismus" in erster Linie ein Konstrukt westlicher Geheimdienste nicht nur vermuten, sondern für diese These in den letzten Jahren eine ganze Reihe stichhaltiger Belege zutage gefördert haben.

Wer sich ernsthaft für das Thema des Al-Kaida-"Netzwerkes" interessiert und bereits John Cooleys "Unholy Wars: Afghanistan, America and International Terrorism", Ahmed Rashids "Taliban: Afghanistans Krieger und der Dschihad" und den Abschlußbericht der von der Bush-Regierung widerwillig eingesetzten, "unabhängigen" Sonderuntersuchungskommission zu den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 gelesen hat, wird leider feststellen müssen, daß Jason Burke, außer von den eigenen Begegnungen und Erlebnissen auf seinen vielen Reisen in der islamischen Welt zu berichten, kaum irgendwelche Erkenntnisse vorweist, die über die herkömmliche Geschichte um die Islamistentruppe Bin Ladens hinausgehen.

Das enttäuschende Ausmaß, in dem Burke an der konventionellen, neokonservativen Erklärung des Phänomens "islamischer Terrorismus" festhält, zeigt sich an unzähligen Stellen. Das Buch wird mit einer Seite einstimmender Zitate eingeleitet: zwei kurze jeweils von Osama Bin Laden und dem römischen Meisterdichter Horaz wie auch ein vergleichsweise längeres aus dem Buch "Der Geheimagent" von Joseph Conrad. Letzterer, bereits 1907 erschienener Roman über eine Gruppe Anarchisten im viktorianischen England soll den sogenannten UNA- Bomber Ted Kaczynski wesentlich beeinflußt haben und wird immer wieder von westlichen Kommentatoren gern zitiert, wenn es darum geht, der These, wonach diejenigen, die zu "terroristischen" Mitteln gegen die herrschenden Verhältnisse greifen, irgendwie krank im Kopf seien und im Grunde genommen nur Chaos, Leid und Zerstörung verursachen wollen.

Auch die vor dem eigentlichen Text auf den Seiten 14 und 15 präsentierte Landkarte über den Aktionsradius Al Kaidas spricht Bände über die verkürzte Sicht Burkes. Die gezeigte Region erstreckt sich von Rußland, dem Kaukasus und Kasachstan im Norden bis hinunter nach Kenia - Nairobi, wo die US-Botschaft 1998 Ziel einer Lastwagenbombe war, ist auch eingetragen - im Süden und von Indien und Westchina im Osten bis nach Ägypten und der Türkei im Westen. Interessanterweise verläuft die Westgrenze der Karte quer durch den Balkan. Rumänien und Bulgarien werden gezeigt, die Länder des ehemaligen Jugoslawiens jedoch nicht. Bedenkt man die wortwörtlich zu verstehende Schützenhilfe, welche Tausende ausländischer, muslimischer Söldner der NATO bei der Zerschlagung des sozialistischen Vielvölkerstaats geleistet haben, so handelt es sich bei dieser kartographischen Auslassung um einen gravierenden und unentschuldbaren Lapsus, der sich auch noch durch das ganze Buch zieht. Im Personen- und Sachregister von "Al-Qaida" beispielsweise sucht man vergeblich nach Eintragungen für Albanien, Bosnien-Herzegowina und den Kosovo.

Nur beiläufig erwähnt Burke die Tatsache, daß mehrere mutmaßliche Beteiligte des Komplotts um den 11. September 2001 wie Chalid Al Midhar, Nawaz Al Hasmi und Chalid Scheich Mohammed in den neunziger Jahren in Bosnien auf seiten der Anhänger des bekennenden Moslem- Fundamentalisten Alija Itzetbegovic, dessen Regierung damals ausgerechnet von den beiden notorischen US-Neokonservativen Richard Perle und Douglas Feith beraten wurde, gekämpft haben. Bin Laden und sein wichtigster Mitstreiter Aiman Al Zawahiri vom Ägyptischen Islamischen Dschihad waren in den neunziger Jahren nachweislich mehrfach auf dem Balkan. Wegen seiner Verdienste um die muslimische Sache soll der Al-Kaida-Chef 1993 sogar von der Regierung in Sarajewo einen bosnischen Reisepaß erhalten haben. [1] Das gigantische Ausmaß der wegen des UN-Waffenembargos illegalen Zusammenarbeit zwischen den Geheimdiensten und Militärs der USA, Großbritanniens, des Irans, Saudi-Arabiens und der Türkei mit Itzetbegovic' islamischen Glaubenskriegern dürfte Burke kein Geheimnis sein, schließlich sind viele präzise Einzelheiten dazu in dem auf den 16. Januar 1997 datierten Bericht der republikanischen Fraktion im US-Kongreß mit Namen "Clinton-Approved Iranian Arms Transfers Help Turn Bosnia into Militant Islamic Base" nachzulesen.

Mit Sätzen wie "In den Balkan-Kriegen wurden Anfang der 90er-Jahre Tausende Muslime auf brutale Weise ermordet" diskreditiert sich Burke. Und was ist mit den Tausenden gewaltsam ums Leben gekommenen Kroaten und Serben? Soll deren Tod weniger brutal gewesen sein? Dem, der schon damals die von den westlichen Medien unterdrückten Bilder zu sehen bekommen hat, wie grinsende muslimische Freiwillige die abgeschlagenen Köpfe ihrer getöteten Feinde in die Kameras halten, oder der auch nur die laufenden Nachrichten sorgsam verfolgt hat, dürfte klar sein, daß es bei den Sezessionskriegen in Jugoslawien auf allen Seiten zu Greueltaten gekommen ist. Und was ist mit der Vertreibung sämtlicher Nicht-Albaner aus dem Kosovo durch die UCK ab 1999 oder deren Destabilisierungsaktivitäten in den letzten Jahren im benachbarten Mazedonien? Sollen die blutigen Methoden dieser bis heute im kontinentübergreifenden Drogen- und Frauenhandel tief verstrickten, inoffiziellen Todesschwadrone der NATO kein "Terrorismus" sein?

Welche zentrale, leider von Jason Burke viel zu wenig berücksichtigte Rolle die muslimischen Balkanveteranen und deren Kontakte zu westlichen Geheimdiensten beim Phänomen "islamischer Terrorismus" spielen, zeigen zwei denkwürdige Begebenheiten der letzten Wochen. Im ersten Fall geht es um die für Washington hochpeinliche Affäre um die Verschleppung des mutmaßlichen Al-Kaida-Mitgliedes Hassan Mustafa Osama Nasr, auch Abu Omar genannt, von Italien über Deutschland nach Ägypten im Frühjahr 2003. Die völkerrechtlich illegale Entführung von Abu Omar hat weltweit für Schlagzeilen gesorgt, nachdem am 24. Juni in Mailand die Justizbehörden Anklage gegen 13 der 19 an der Operation beteiligten CIA-Mitglieder und US-Militärs erhoben. [2] Im April 2004 erhielt Nasrs Frau in Italien einen verzweifelten Anruf von ihrem Mann aus Ägypten, der berichtete, er sei brutal gefoltert worden, unter anderem mit Stromschlägen. Seitdem hat man von ihm nichts mehr gehört. Heute ist unklar, wo sich Abu Omar befindet, geschweige denn, ob er überhaupt noch lebt.

Hinsichtlich des Motivs für die Entführung von Nasr verweigert die US- Regierung jede Aussage. Aus gutem Grund vermutlich, denn laut einem ausführlichen Bericht des Chicago Tribune [3] war Abu Omar ab August 1995, während seines Exils in Albanien, ein Informant der CIA und des albanischen ShIK, der die Geheimdienstler in Langley und Tirana über die Aktivitäten von Aiman Al Zawahiris Jamaat-al-Islamiya auf dem Balkan auf dem laufenden hielt. 1997 zog Nasr nach sechs Jahren in Albanien mit seiner Familie nach Italien und beantragte dort Asyl. Es besteht der Verdacht, daß er danach weiter als CIA-Informant tätig war. Bezeichnenderweise geht nach Angaben des Chicago Tribune aus den Protokollen der abgehörten Gespräche des italienischen Geheimdienstes hervor, daß Nasr innerhalb der islamistischen Kreise, in denen er sich bewegte, als "mäßigende Kraft" agierte. Ob er vielleicht gerade deshalb aus dem Verkehr gezogen wurde? Jedenfalls wecken die undurchsichtigen Vorgänge um Abu Omar die Erinnerung an die beunruhigenden Angaben, die der angesehene US-Militärexperte William Arkin am 26. Oktober 2002 in der Los Angeles Times zu der vom Pentagon ins Leben gerufenen "Proactive, Preemptive Operations Group (P2OG)" machte. [4] Die Hauptaufgabe der 100 Mann starken, mit einem Jahresetat von rund 100 Millionen Dollar ausgestatteten Sondereinheit Donald Rumsfelds ist laut Arkin, "terroristische Gruppen" zu Anschlägen zu provozieren, angeblich um sie besser bekämpfen zu können.

Beim zweiten Fall möglicher Verstrickungen von ehemaligen Balkan- Mudschaheddin und westlichen Geheimdiensten geht es um die Hintergründe der Bombenanschläge auf drei U-Bahnzüge und einen Linienbus am 7. Juli in London. Bekanntlich hat Premierminister Tony Blair allen Forderungen nach Einberufung einer unabhängigen Kommission, welche die Umstände der Explosionen, die 56 Menschen töteten und mehr als 700 verletzten, untersuchen sollte, eine kategorische Absage erteilt. In den ersten Tagen nach den Anschlägen hatte die britische Presse Haroon Rashid Aswat als eigentlichen Drahtzieher gehandelt. Wegen des versuchten Aufbaus eines "terroristischen" Ausbildungslagers 1999/2000 in den USA stand er auf einer "Terrorliste" des britischen Zolls, und trotzdem soll der britische Bürger indischer Abstammung einige Wochen vor den Anschlägen problemlos nach Großbritannien eingereist und wenige Tage vor den Ereignissen wieder abgereist sein. Nachdem Aswat aufgrund einer internationalen Fahndung am 14. Juli in Sambia festgenommen werden konnte, stritten sich die amerikanischen und britischen Behörden tagelang darüber, wer ihn zu fassen bekommen sollte. Schließlich wurde Aswat am 7. August an London ausgeliefert - und das, obwohl zu diesem Zeitpunkt gegen ihn in den USA bereits eine formelle Anklage anhängig war.

Seitdem gibt sich Scotland Yard sichtlich Mühe, die frühere Identifizierung Aswats als mutmaßlichen "Mastermind" der Londoner Anschläge herunterzuspielen. Eine Erklärung für dieses Verhalten lieferte am 29. Juli bei einem Interview mit dem US-Nachrichtensender Fox News der ehemalige US-Staatsanwalt John Loftus. Nach Angaben des erfahrenen Terroristenfahnders handelt es sich bei Aswat um einen Doppelagenten, der seit den Kriegen in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo sowohl mit dem britischen Auslandsgeheimdienst MI6 arbeitet als auch tief in die Aktivitäten des in Großbritannien verrufenen Islamistenvereins Al-Muhajiroun verwickelt ist.

Die Behauptungen von John Loftus bringen uns zur schwerwiegendsten Auslassung in Jason Burkes "Al-Qaida", nämlich dem völligen Fehlen der zahlreichen Hinweise auf schon länger bestehende Kontakte zwischen dem britischen Sicherheitsapparat und "islamistischen Terroristen". 1997 hat David Shayler mit Enthüllungen in der Presse über Mißstände bei den britischen Geheimdiensten für eine heftige und jahrelange Kontroverse gesorgt. Shayler, der zuletzt auf der mittleren Ebene beim britischen Inlandsgeheimdienst MI5 gearbeitet hatte, warf den Behörden vor, 1993 einen Anschlag der Irisch- Republikanischen Armee (IRA) im Londoner Bishopsgate und 1994 einen Bombenanschlag auf die israelische Botschaft in London trotz rechtzeitig vorliegender Erkenntnisse nicht verhindert zu haben. Wegen letzteren Vorfalls sitzen vermutlich zwei zu Unrecht verurteilte, palästinensische Studenten bis heute in Großbritannien hinter Gittern. Darüber hinaus bezichtigte Shayler den MI6, 1996 mit rund 100.000 Pfund ein gescheitertes Attentat durch "islamistische" Freischärler auf den libyschen Revolutionsführer Muammar Gaddhafi finanziert zu haben, das schließlich die Angreifer, einige Wachleute und mehrere Zivilisten das Leben kostete.

Nach einem kurzen Exil in Frankreich, wohin er 1998 geflohen war, ließ sich Shayler im Jahre 2000 aufgrund eines Deals mit dem britischen Innenministerium zur Rückkehr in die Heimat überreden. Vor dem Londoner High Court wurde ihm im Herbst 2002 unter außergewöhnlicher Geheimhaltung der Prozeß gemacht. Weite Teile der Verhandlung fanden hinter verschlossenen Türen statt, während über die Tatsache des mißlungenen Gaddhafi-Attentats sowie über die damit belegten Verbindungen Londons zur Szene um den vermeintlichen Erzfeind Bin Laden ein drakonisches Berichtsverbot, eine sogenannte "D Notice", verhängt wurde. Nicht einmal das Verbot oder die Tatsache seiner Verhängung durften in der britischen Presse erwähnt werden. Das Verfahren gegen Shayler endete mit einem Schuldspruch wegen Verstoßes gegen das britische Staatsgeheimnisschutzgesetz, das berüchtigte Official Secrets Act, und einer Freiheitsstrafe von lediglich sechs Monaten.

In dem 2002 erschienenen, weltweit für Furore sorgenden Enthüllungsbuch "Die verbotene Wahrheit: Die Verstrickungen der USA mit Osama bin Laden" [5] haben die beiden französischen Geheimdienstexperten Jean-Charles Brisard und Guillaume Dasquié die Richtigkeit der Behauptungen Shaylers bestätigt, wonach 1996 der MI6 Bin Ladens Gesinnungsgenossen bei der islamischen Kampfgruppe (IFG), auch al-Muqatila genannt, der mit Duldung der britischen Regierung von London aus operierenden, größten "islamistischen" Exilgruppierung Libyens, mit der Ausschaltung Gaddhafis anläßlich eines öffentlichen Umzuges beauftragt hatte. Nach Angaben der beiden Franzosen ist die entlarvende, nicht zu bestreitende Tatsache des in diesem Falle prowestlichen "Terroranschlags" auf Gaddhafi der Grund, warum Interpol den ersten internationalen Haftbefehl gegen Bin Laden, einen sogenannten "roten Vermerk" mit der Aktennummer A-268/5-1998, niemals veröffentlicht hat.

Vergeblich sucht man in dem Buch Jason Burkes nach Hinweisen auf die lang gehegte Vermutung zum Beispiel des französischen Geheimdienstes hinsichtlich einer Unterwanderung und Manipulation islamistischer Kreise in Großbritannien durch die dortigen Geheimdienste. Für diese Vermutung spricht die Tatsache, daß drei der schillerndsten Figuren des sogenannten "Antiterrorkrieges" - nämlich der "Schuhbomber" Richard Reid, der sogenannte "20. Luftpirat" und einzige Angeklagte in den USA in Verbindung mit den Flugzeuganschlägen vom 11. September, Zacarias Moussaoui, und der wegen der Anfang 2002 in Karatschi erfolgten Ermordung des Wall-Street-Journal-Korrespondenten Daniel Pearl von einem pakistanischen Gericht zum Tode verurteilte, britische Islamist Sayeed Omar Scheich - aus der Szene um die Finsbury Moschee und den "Haßprediger" und mutmaßlichen MI5- Informanten Abu Qatada stammen.

Gerade am Beispiel des in privilegierte Verhältnissen aufgewachsenen, zuletzt an der London School of Economics ausgebildeten Omar Scheich versucht Burke seine Theorie der Verbreitung von einem "entgleisten, chiliastischen, nihilistischen Strang des radikalen Islamismus" (S. 124) unter den angeblich entwurzelten Kindern muslimischer Einwanderer in Westeuropa festzumachen. Auffallend an der ausführlichen Behandlung der Geschichte von Omar Scheich ist jedoch das, was Burke dabei nicht erwähnt, nämlich die Tatsache, daß nach Ermittlungserkenntnissen des FBI der britische Dschihadist im Sommer 2001 aus Dubai 100.000 Dollar an den bereits in den USA weilenden Mohammed Atta, den Kopf der mutmaßlichen Flugzeugattentäter vom 11. September, überwiesen hat - und zwar im Auftrag von Generalleutnant Mahmud Ahmed, dem damaligen Leiter des pakistanischen Militärgeheimdienstes Inter-Services Intelligence Directorate (ISI). Kurz vor den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon überwies Atta 25.000 Dollar über eine Bank in Dubai an Omar Scheich zurück - eine Transaktion, die das FBI ebenfalls offiziell bestätigt hat. Kurz bevor die Verbindung zwischen Scheich und Ahmed bekannt wurde, trat letzterer am 8. Oktober 2001 überraschend als ISI-Chef zurück. Zwei Tage später wartete die Times of India, die führende englischsprachige Tageszeitung des Subkontinents, mit den für das Ansehen Islamabads verheerenden Details des Finanztransfers zwischen Atta, dem ISI und seinem Handlanger Scheich auf. [6]

Das absolut Explosive an jener Episode ist die ebenfalls von Burke verschwiegene Tatsache, daß sich derselbe Generalleutnant Ahmed in den Tagen vor und nach den Flugzeuganschlägen zu Gesprächen mit führenden Vertretern des US-Sicherheitsapparats in Washington aufhielt. Am schicksalhaften Vormittag des 11. September 2001 frühstückte der ISI-Chef und Atta-Sponsor zusammen mit den beiden damaligen Vorsitzenden der Geheimdienstausschüsse von Senat und Repräsentantenhaus, Bob Graham, und dem späteren CIA-Chef, Porter Goss. Ausgerechnet diese beiden hohen Herren durften sich den Vorsitz der Untersuchungskommission des gemeinsamen Geheimdienstausschusses von Repräsentantenhaus und Senat zum 11. September teilen. Womöglich wurde Daniel Pearl der Versuch, mehr über die Rolle der CIA-Partner beim ISI in die Flugzeuganschläge herauszufinden, zum Verhängnis. Nach dem Fund der enthaupteten Leiche Pearls machte bekanntlich der pakistanische Diktator und große Washington-Freund Pervez Musharraf den WSJ-Reporter für den eigenen Tod verantwortlich, indem er öffentlich erklärte, dieser hätte die Nase in Dinge gesteckt, die ihn nichts angingen.

Vor diesem Hintergrund überrascht die von Burke zu den Flugzeuganschlägen vom 11. September gemachte Feststellung "Die technischen Abläufe der Verschwörung wurden bis ins winzigste Detail untersucht" (S. 285) wenig - nur überzeugt sie keineswegs. Wie wenig wir eigentlich wissen über den tatsächlichen Hintergrund und den Ablauf jenes "Tages, der die Welt veränderte", zeigt nicht nur das inzwischen aufgetürmte Gebirge an Widersprüchen und Unzulänglichkeiten in der offiziellen Verschwörungstheorie, sondern auch die jüngste Affäre um die Sondereinheit Able Danger beim US- Militärgeheimdienst. [7]

Wie vor wenigen Tagen bekannt wurde, haben die Spezialisten dieser Einheit bereits im Jahre 2000 vier der 19 mutmaßlichen Flugzeugattentäter, nämlich die sich bereits zu jenem Zeitpunkt in den USA aufhaltenden Männer Mohammed Atta, Marwan al-Shehhi, Chalid Al Mihdar und Nawaf Al Hasmi, als Mitglieder einer terroristischen Zelle identifiziert. Angeblich wollte man bei der Einheit Able Danger das FBI über die von dieser Personengruppe ausgehende Gefahr informieren, doch wurde die Ausführung des Ansinnens ausgerechnet vom Special Operations Command, dem Kommando der US-Spezialstreitkräfte in Florida, blockiert. Darüber hinaus soll die von Präsident Bush ins Leben gerufene, "unabhängige" 9/11-Kommission von Able-Danger- Mitgliedern über die sonderbaren Vorgänge in Kenntnis gesetzt worden sein und sich dennoch entschieden haben, in dem 2004 veröffentlichten Abschlußbericht nichts darüber verlauten zu lassen. Der Grund für diese krasse Unterlassung liegt auf der Hand. Hätte die 9/11- Kommission die Informationen des Able-Danger-Teams berücksichtigt, hätte sie im Abschlußbericht nicht die staatstragende Schlußfolgerung, die Flugzeuganschläge seien wegen fehlender Früherkenntnisse nicht verhinderbar gewesen, vertreten können.

Mit seiner Beschwörung eines "kosmischen Religionskampfes" (S. 325) gehört Jason Burke bei aller zu würdigenden Bemühung um ein besseres Verständnis der Unterschiede zwischen den diversen islamischen Radikalgruppierungen eindeutig zu denjenigen, welche die Freiwilligenarmee Osama Bin Ladens, die zum Teil aus solchen gescheiterten Existenzen wie Richard Reid und Zacarias Moussaoui besteht, zu einer quasi existentiellen Bedrohung für die Industriestaaten hochstilisieren. Burkes Standpunkt läßt sich nur aufrechterhalten, wenn man wie er sämtliche Erkenntnisse, daß die sogenannten Terroristen von Elementen innerhalb der westlichen Geheimdienste für ihre eigenen Ziele benutzt werden, außer acht läßt.

In Verbindung mit dem grausamen Bürgerkrieg in Algerien in den neunziger Jahren wagt es Burke, das Wort "Agent provocateur" zu benutzen, verschweigt jedoch gleichzeitig die Rolle des ehemaligen ägyptischen Oberst Emad Eli Salem beim ersten WTC-Anschlag am 26. Februar 1993. [8] Als Doppelagent der US-Bundespolizei hatte Salem die Gruppe um den blinden, ägyptischen Geistlichen Omar Abdel Rahman unterwandert. Nach Rücksprache mit seinen Agentenführern beim FBI hat Salem die New Yorker Moslembrüder zu diversen Anschlägen angeregt und sogar mit Ramsi Jousef die beim ersten WTC-Anschlag verwendete Lastwagenbombe gebaut. Angesichts der Tatsache, daß Salem rund zwei Jahre lang bei allen Treffen mit den anderen Komplottbeteiligten verkabelt war und das FBI die Gespräche mitverfolgen konnte, steht praktisch fest, daß die US-Bundespolizei aus bis heute nicht geklärten Gründen den ersten WTC-Anschlag und somit den Auftakt des heutigen Konfliktes zwischen islamischen Extremisten in aller Welt und der Supermacht USA geschehen ließ.

Der Engländer Burke, der sich 1991 während seiner Sommerferien als 21jähriger Student an der Eliteuniversität Oxford den Peschmerga- Kämpfern der Kurdischen Demokratischen Partei im irakischen Sulaimaniya angeschlossen hat, weil er, wie er selbst sagt, "jung, idealistisch, abenteuerlustig" war und eine "Sache" suchte, "für die es sich zu kämpfen lohnte" (S. 272), maßt sich an, über Leute zu urteilen, die für sich das Recht auf Selbstverteidigung gegen die Hegemonialbestrebungen des Westens über die Länder Arabiens und Zentralasiens in Anspruch nehmen. In einem Interview für die Australian Broadcasting Corporation, das am 2. August ausgestrahlt wurde, hat Michael Scheuer, der 22 Jahre lang bei der CIA, die letzten acht davon als Chef der Anti-Bin-Laden-Einheit, arbeitete, den "globalen Antiterrorkrieg" der Bush-Regierung als kontraproduktiv verurteilt und unter anderem folgende bemerkenswerten Sätze von sich gegeben:

Es ist doch offensichtlich, daß die Leute, die gegen die Sauds und die Mubaraks sowie gegen uns kämpfen, die Freiheit nicht hassen. Sie streben etwas ähnliches innerhalb ihres eigenen kulturellen Kontextes an.

Von dieser simplen Erkenntnis ist Jason Burke mit seinen Bedrohungsszenarien und der Überzeichnung der für den Westen von islamischen Splittergruppen ausgehenden Gefahr offenbar noch meilenweit entfernt.

- 17. August 2005

Fußnoten:

[1] Jürgen Elsässer, "Wie der Dschihad nach Europa kam: Gotteskrieger und Geheimdienste auf dem Balkan", Verlag der Niederösterreichischen Presse, St. Pölten, 2005. S. 64ff.

[2] Craig Whitlock & Dafna Linzner, "Italy Seeks Arrests of 13 in Alleged Rendition", Washington Post, 25. Juni 2005

[3] "Abducted imam aided CIA ally", Chicago Tribune, 2. Juli 2005

[4] William M. Arkin, "The Secret War - Frustrated by intelligence failures, the Defense Department is dramatically expanding it 'black world' of covert operations", Los Angeles Times, 27. Oktober 2002

[5] Jean-Charles Brisard & Guillaume Dasquié, "Die verbotene Wahrheit - Die Verstrickungen der USA mit Osama bin Laden", Pendo Verlag, Zürich, 2002, S. 113

[6] Manoj Joshi, "India helped FBI trace ISI-terrorist links", Times of India, 10. Oktober 2001

[7] Douglas Jehl, "Four in 9/11 Plot Are Called Tied to Qaeda in '00", New York Times, 9. August 2005

[8] Ralph Blumenthal, "Tapes depict Proposal to Thwart Bomb Used in Trade Center Blast", New York Times, 28. Oktober 1993


Jason Burke
Al-Qaida: Wurzeln, Geschichte, Organisation
Aus dem Englischen von Sonja Schuhmacher, Christoph Trunk und Jürgen Reuß
Originaltitel: "Al-Qaeda: Casting a Shadow of Terror"
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf & Zürich 2005
414 Seiten
ISBN 3-538-07204-3