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REZENSION/303: Roger Willemsen - Hier spricht Guantánamo (SB)


Roger Willemsen


Hier spricht Guantánamo

Roger Willemsen interviewt Ex-Häftlinge



Menschen in Drahtverschlägen, Menschen an Händen und Füßen verschnürt und auf dem Boden kauernd, Menschen in orangefarbenen Einheitsoveralls, die von uniformierten Wachhabenden angebrüllt werden ... als die ersten Bilder vom US-amerikanischen Gefangenenlager Guantánamo auf Kuba um die Welt gingen, wurde dieses Sinnbild an staatlicher Gewalt mit beredtem Schweigen aufgenommen. Gewiß, es wurde kritisiert und diskutiert, abgewogen und zur Mäßigung aufgerufen - aber konnte es eine andere Antwort auf diese eklatante Verletzung der Menschenrechte geben als uneingeschränkte Ablehnung? Ablehnung sowohl der Praxis der Entführung und Folter von Menschen als auch der Personen, die dafür die Verantwortung trugen? Hätte nicht die internationale Staatengemeinschaft konsequent jede Zusammenarbeit mit den USA verweigern müssen, bis daß das Lager wieder abgebaut wäre?

Das ist bekanntlich nicht geschehen, und daraus sind unmittelbar zwei Schlüsse zu ziehen. Erstens, was in Guantánamo geschieht, findet letztlich auch im Namen der sogenannten internationalen Staatengemeinschaft statt, zweitens sollte Guantánamo eine bestimmte Funktion im Kampf der westlichen Wertegemeinschaft gegen andere Kulturen erfüllen, nämlich einen Teil der Welt hinter sich zu scharen und einen anderen Teil gegen sich aufzubringen und damit als Ziel künftigen Interventionismus kenntlich zu machen.

In dieser Auseinandersetzung geht es um nicht weniger als um das Erringen der Vorherrschaft zu Wasser, zu Lande, in der Luft und im Weltraum, wie es in einschlägigen Sicherheitsdokumenten der USA (u.a. Verteidigungsminister Donald Rumsfelds Quadrennial Defense Review 2001, USAF Doctrine Document 2-2.1 Counterspace Operations vom August 2004 oder auch Air Force Space Command's Strategic Master Plan, FY06 and Beyond) unverhohlen formuliert wird. Das globale Hegemoniestreben der USA beschränkt sich jedoch nicht darauf, andere Staaten an die Kandare zu nehmen, sondern es ist nicht minder innenpolitisch ausgerichtet und betrifft politisch Andersdenkende, auf ihre Eigenständigkeit bestehende oder einfach nur Personen, die willkürlich ergriffen werden.

Was die Menschen im westlichen Kulturkreis nicht wissen wollen: In Guantánamo sind auch sie eingesperrt. Selbstverständlich nicht im physischen Sinn - doch wird in Guantánamo nicht der Anspruch des einzelnen, unbehelligt von staatlicher Willkür nach Recht und Gesetz leben zu können, als bloßes, von Feindbildern laufend genährtes Wunschdenken demaskiert? Seit nunmehr vier Jahren wurden in Guantánamo Menschen aller Herkunft und Profession eingesperrt - Lehrer, Bauern, Ingenieure, ein Diplomat, Arbeiter und Arbeitslose. Selbst wenn irgend jemand unter ihnen sich irgend etwas hätte zuschulden kommen lassen, so gölten für ihn die Menschenrechte genauso wie für jeden anderen auch.

Das sieht die US-Regierung anders, sie benutzt Bezeichnungen wie "illegale Kämpfer" oder "feindliche Kombattanten" für die Häftlinge und verwehrt ihnen sogar den Status von Kriegsgefangenen. Das heißt, daß in Guantánamo die Menschenrechte prinzipiell außer Kraft gesetzt sind, was folglich jeden Menschen betrifft, auch den braven Bürger, der regelmäßig bei Wahlen seine Stimme abgibt, zu welcher Nation er sich auch zählen läßt.

Angesichts der heraufziehenden weltweiten Ressourcenverknappung in Bereichen wie Nahrung, Wasser und Energie sollte es jeden etwas angehen, ob ein Staat, der die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten hat, die Menschenrechte anerkennt oder nicht. Einen kleinen Vorgeschmack darauf, wie wenig es nutzt, zur angeblich fortschrittlichsten Demokratie der Welt zu gehören, haben im Jahr 2005 die Flutopfer des Hurrikans Katrina im Süden der USA erfahren. Es sind die gleichen repressiven Kräfte, die dafür sorgen, daß in Not geratenen Bürgern die erforderliche Versorgung vorenthalten wird, die auch Menschen verschleppen und in Lager stecken.

Der Fernsehmoderator, Dokumentarfilmer und Essayist Roger Willemsen hat fünf Personen interviewt, die sprichwörtlich am eigenen Leib erleben mußten, was es heißt, staatlichem Zugriff ohnmächtig ausgesetzt zu sein. Sie wurden aus Afghanistan oder Pakistan entführt, teils im berüchtigten CIA-Knast Bagram in Afghanistan, teils in Kandahar gefoltert, nach Guantánamo verschleppt, verhört, weiter gefoltert und irgendwann ohne Anklage, Erklärung, Entschuldigung oder sonstiger Beachtung durch den Staat, aus der abzuleiten wäre, daß sie überhaupt als etwas anderes wahrgenommen wurden, denn als Subjekte ultimativer Verfügbarkeit, in die vermeintliche Freiheit entlassen. Die gesundheitlich ruinösen Folgen der jahrelangen Mißhandlung ebenso wie die soziale Stigmatisierung müssen die ehemaligen Guantánamo- Häftlinge weiterhin tragen.

Die von Willemsen gewählte Form des Interviews bringt den Leserinnen und Lesern die Erfahrungen der Ex-Häftlinge aus Guantánamo auf bedrückende Weise nahe und verleiht den Aussagen eine hohe Glaubwürdigkeit. Hier kommen Folteropfer zu Wort, die wie die Mehrheit der Menschen in vertrauten familiären Zusammenhängen lebten, ihre Kinder lieben, ein geregeltes Einkommen für ihre Arbeit wünschen und in Ruhe gelassen werden wollen. Hoffnungen, Ängste, Sorgen und Erwartungen der Gefolterten unterscheiden sich in nichts von denen anderer Menschen.

Wie schon David Rose in seinem Buch "Guantánamo Bay" anhand der Schilderungen der entlassenen Gefangenen sowie der UN- Menschenrechtsbericht vom 15. Februar und die Aussagen des saudischen Guantánamo-Häftlings Jumah al-Dossari beweisen, kommen in dem US-Militärlager auf Kuba sehr unterschiedliche Formen der Folter zur Anwendung, angefangen von Mangelernährung, Verweigerung notwendiger medizinischer Hilfe, über religiöse Verunglimpfung, physische Quälerei, Verabreichung dubioser Medikamente, Deprivationsexperimente und Reizüberflutung. Als Basis aller Grausamkeit ist jedoch die jahrelange Verschleppung mit unabsehbarem Ausgang für die Betroffenen zu nennen.

In dem 15seitigen Vorwort legt Willemsen ein klares Bekenntnis gegen Guantánamo ab. Er fordert eine "Radikalität der Ablehnung", die man zwischen den moderaten Tönen der Diplomatie und der Leitartikel vermisse, und bezeichnet die verharmlosenden Erklärungen des US-Präsidenten George W. Bush zu dem Lager als "grobe Desinformationen" (S. 8). Dessen Aussage, in Guantánamo werde nicht gefoltert, stehe "in einer langen Kette präsidialer Unwahrheiten, die man auch so sollte nennen dürfen" (S. 9), erklärt der Autor und folgert, daß das Lager ein Ort sei, an dem der Begriff "Vogelfreiheit" vom Mittelalter auf die Gegenwart übertragen und zeitgemäß interpretiert worden wäre (S. 10). Weiter führt er aus:

Zugleich lernen wir den Sinn unserer Rechtsgrundlagen neu verstehen und Guantánamo erkennen als im Kern zirkulär begründet: im Lager soll ermittelt werden, dass es sich bei den Insassen um gesetzlose Straftäter handelt, die deshalb ihre Inhaftierung im Lager verdienen. Das heißt, hier wird das Urteil vor die Anklage, vor die Beweisaufnahme, vor die Verhandlung gestellt. Nur der Spruch steht schon fest, und unter seiner Last vegetieren manche der Häftlinge seit über vier Jahren im Lager.
(S. 10)

Hier stelle sich eine Demokratie "gegen die eigenen Voraussetzungen" (S. 22), konstatiert Willemsen und appelliert zum Schluß der den Interviews vorangestellten Erklärung:

Dieser Vorgang schafft Präzedenzfälle, er betrifft alle, denn er bedroht alle, und da inhumanen Verhältnissen gegenüber Toleranz selbst inhuman ist, erlaubt das Lager von Guantánamo nur eine radikale Reaktion: Es muss öffentlich - und es muss geschlossen werden.
(S. 22)

Willemsen geht in seiner Analyse nicht so weit, festzustellen, daß sich die USA und alle Regierungen, die nicht entschlossen für die Freilassung ihrer Staatsbürger aus Guantánamo gekämpft haben, sondern die "Freundschaft" oder das "Bündnis" mit den Vereinigten Staaten nicht aufs Spiel setzen wollten, daß sie alle sich delegitimiert haben. Der Autor stellt nicht das politische System an sich in Frage, dessen Anspruch an ein humanistisches Wertefundament unmöglich ein Guantánamo hätte entstehen lassen können.

Es kann schon lange nicht mehr allein um die Abschaffung Guantánamos gehen. Zutreffend zitiert der Autor hier Stephen Thorpe von der Working Group on Enforced and Involuntary Dissapearances der UN-Menschenrechtskommission, der sagte, daß Guantánamo nur die "winzige sichtbare Spitze des Eisbergs" (S. 20) sei. Eine Einschätzung, die unter anderem von der US- Journalistin Dana Priest in ihren Berichten für die "Washington Post" und vom US-Autor James Risen in seinem Buch "State of War. Die Geheime Geschichte der CIA und der Bush-Administration" untermauert wird.

Frei nach Giorgio Agamben folgt daraus: Guantánamo ist nicht die Ausnahme, sondern der zur Permanenz geronnene Ausnahmezustand. Die Bush-Administration demonstriert, daß sie bis in den kleinsten Winkel der Physis Gewalt auf Menschen ausüben kann, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden, und zeigt vor den abgewendeten Blicken und gesenkten Häuptern der Weltöffentlichkeit, daß sie von anderen Staaten die Einhaltung der Menschenrechte fordern und gleichzeitig selbige mit Füßen treten kann. Daß diese Hybris bis jetzt zu funktionieren scheint, verdeutlicht, daß die Hegemonie der einzig verbliebenen Supermacht bereits erdumspannende Dimensionen erreicht hat.

Das globale System der US-Folterlager, von denen der Guantánamo-Komplex des Pentagons das bekannteste, aber womöglich nicht einmal das schlimmste ist - laut James Risen betreibt das Counterterrorism Center der CIA in Langley irgendwo auf der Welt ein Gefängnis mit der Bezeichnung "Bright Light", aus dem es Gerüchten zufolge keine Rückkehr gebe -, könnte ohne die Beteiligung vieler nicht funktionieren: Die ganze Befehlskette vom untersten US-Wachhabenden bis hinauf zu den Schreibtischtätern im Pentagon; vom "eingebetteten" Journalisten, der sich das Lager unter Beibehaltung der Distanz zu den Gefangenen vorführen läßt und den Militärs anschließend nach dem Mund redet, bis zum Rote-Kreuz-Helfer, der eine das Foltersystem legitimierende Funktion übernommen hat, indem er darauf eingegangen ist, seine Erkenntnisse über das Lager für sich zu behalten; vom afghanischen Warlord, der Gefangene an die CIA verhökert, bis zur deutschen Regierung, die sich nicht um die Freilassung des Häftlings Murat Kurnaz aus Bremen kümmert.

Wem es wirklich ernst ist mit der Zurückweisung Guantánamos, sollte grundsätzlich werden. Es geht den vorherrschenden Kräften um nicht weniger als um die gewaltsame, jede andere Entwicklungsoption vernichtende Durchsetzung eines Menschenbilds, das der umfassenden Verwertbarkeit und Verfügbarkeit des einzelnen den Zuschlag gibt.

"Hier spricht Guantánamo" erscheint zu einer Zeit, in der die Kritik an dem Gefangenenlager plötzlich aufschäumt, als wenn vier Jahre lang niemand etwas gewußt hätte. Allen voran die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der britische Premierminister Tony Blair versuchen, mit vorsichtiger Kritik an den USA ihre aus gutem Grund in Frage gestellte Eigenständigkeit zu unterstreichen. Das läßt nichts Gutes ahnen. Mit dem vorgeblichen Dissens zur Bush-Regierung streben die EU-Politiker eine Sicherung ihres Wertefundaments an, wie sie typisch wäre zur Legitimation einer Maßnahme, die von der Mehrheit der Bürger wahrscheinlich abgelehnt werden würde, wobei an einen möglichen Krieg gegen den Iran zu denken wäre.

Allen, die sich bislang nicht für die Machenschaften auf dem US-Militärstützpunkt Guantánamo Bay interessiert haben, wie auch denjenigen, die über Vorkenntnisse verfügen, ist das vorliegende Buch von Roger Willemsen zu empfehlen, erhalten sie doch mittels der ausführlichen Schilderungen der fünf Ex-Häftlinge einen aufrührenden Eindruck von der Folterpraxis und eine beunruhigende Ahnung von der Monstrosität, in deren Fänge die Opfer geraten sind.


Roger Willemsen
Hier spricht Guantánamo
Roger Willemsen interviewt Ex-Häftlinge
Zweitausendeins, Frankfurt am Main, 2006
238 Seiten
ISBN 38615057-9

20. Februar 2006