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REZENSION/310: William Blum - Schurkenstaat (US-Außenpolitik) (SB)


William Blum


Schurkenstaat



Durch den plötzlichen Tod von Slobodan Milosevic unter zum Teil mysteriösen Umständen in seiner Gefängniszelle am 11. März im niederländischen Scheveningen kann der wichtigste Teil der Verteidigungsstrategie des wegen Kriegsverbrechen angeklagten, ehemaligen jugoslawischen Präsidenten, nämlich im Scheinwerferlicht der internationalen Medien führende NATO-Repräsentanten wie den britischen Premierminister Tony Blair, den ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton oder den Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder zu ihrer persönlichen Verantwortung für die blutigen Balkankonflikte der neunziger Jahre einschließlich der heimlichen Zusammenarbeit der nordatlantischen "Wertegemeinschaft" mit islamistischen "Terrroristen" aus dem Dunstkreis Osama Bin Ladens in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo zu befragen, nicht mehr umgesetzt werden. Daß eine solche Gegenüberstellung nicht im Sinne Berlins, Londons oder Washingtons gewesen wäre, liegt auf der Hand, denn wie William Blum in seinem Buch "Schurkenstaat" eindrucksvoll demonstriert, stehen die Vereinigten Staaten von Amerika, die von anderen Ländern am lautstärksten die Einhaltung internationaler Standards und Verträge fordern, an einsamer Spitze, was die Mißachtung derselben betrifft. Ein Paradebeispiel der Doppelzüngigkeit Washingtons stellt die umstrittene Entscheidung der Regierung von George W. Bush dar, Atomtechnologie an Indien, das kein Unterzeichnerstaat des Nichtverbreitungsvertrags ist, zu liefern, während man gleichzeitig dem Iran sein Recht gemäß nämlichem Abkommen auf Urananreicherung für sein ziviles Kernergieprogramm abspricht und Teheran deshalb mit Krieg bedroht.

Blum, ein ehemaliger Mitarbeiter des State Department, der 1967 aus Protest gegen den Vietnamkrieg den Staatsdienst quittierte, gehört neben Noam Chomsky, Chalmers Johnson und Gore Vidal seit Jahren zu den führenden amerikanischen Kritikern der seines Erachtens aggressiven, zerstörerischen und letztlich menschheitsfeindlichen Außenpolitik der Supermacht USA. Die Grundsätze der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik bringt der inzwischen 72jährige Publizist im vorliegenden Buch wie folgt auf den Punkt:

1) die Versorgung und Austattung amerikanischer Unternehmen, um die Welt offen und gastfreundlich für die Globalisierung zu machen; die Verbesserung der finanziellen Ausstattung von Verteidigungsvertragspartnern, die großzügig Mitgliedern des Kongresses und Bewohnern des Weißen Hauses haben etwas zukommen lassen
2) die Verhinderung der Entstehung jeglicher Gesellschaft, die als erfolgreiches Beispiel für eine Alternative zum kapitalistischen Modell dienen könnte;
3) Ausdehnung des Imperiums: soweit wie möglich Herstellung der politischen, ökonomischen und militärischen Hegemonie über die Erde, um die Ziele der ersten beiden Grundsätze zu erleichtern und die Verhinderung jeglicher regionalen Macht, die die amerikanische Souveränität bedrohen könnte.
(S. 26)

Dem, der diese Beschreibung für überspitzt oder übertrieben hält, kann man nur empfehlen, die im September 2002 von der Bush-Regierung verkündete National Security Strategy of the United States of America (NSS) selbst einzusehen. Sie ist für jedermann unter der URL www.whitehouse.gov/nsc/nss.html zu finden.

Anlaß zu "Schurkenstaat" war für Blum die 78tägige "brutale Bombardierung" Jugoslawiens durch die NATO im Frühjahr 1999. Das Buch erschien erstmals 2000. Für die Ausgabe des Jahres 2006 hat der Autor nach eigenen Angaben die meisten Kapitel einschließlich der Einführung überarbeitet und aktualisiert, um die ersten fünf Jahre der Regentschaft von Bush jun., die seit den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 im Zeichen des "globalen Antiterrorkrieges" steht, zu berücksichtigen. Dadurch wird dem interessierten Leser ein detaillierter und wohl unvergleichlicher Überblick über die schlimmsten der im Auftrag der "imperialen Mafia" in Washington zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges praktisch bis zum heutigen Tage begangenen Verfehlungen geboten. Dies mag im ersten Moment erschrecken, doch durch Blums bissig-ironische Art - siehe beispielsweise die Kapitelüberschrift "Die CIA und Drogen: 'Warum eigentlich nicht?'" oder die Bemerkung "Heuchelei dieses Ausmaßes verdient Respekt" zur jahrelangen Drangsalierung des Iraks durch die USA wegen des vermeintlichen Besitzes von ABC-Waffen - weckt die vorliegende Lektüre eher den gerechten Zorn, als daß sie einen ob der großen Materialfülle erdrückt.

Blum befaßt sich mit himmelschreienden Ungerechtigkeiten und verweist auf bedrohliche Entwicklungen, welche die großen Medien aus vorauseilendem Gehorsam gegenüber der Regierung in Washington lieber nicht angemessen thematisieren. Schon in der ersten Ausgabe von "Schurkenstaat" hatte Blum auf die Gefahren hingewiesen, welche aus einer letztlich lückenlosen Überwachung des weltweiten Telekommunikationsystems durch die National Security Agency (NSA) den Bürgerrechten erwachsen. Erst nach der Enthüllung der New York Times Ende 2005 über die Existenz einer geheimen, womöglich illegalen Direktive Bushs von Anfang 2002 an die Kryptologen in Fort Meade haben in den USA einige Teile von Presse und Kongreß die längst eingetretene Aushöhlung verbriefter Verfassungsrechte auf Privatsphäre und auf Schutz vor staatlicher Schnüffelei entdeckt - möglicherweise aber zu spät, wie die laufenden Bestrebungen der republikanischen Kongreßmehrheit und des Weißen Hauses, die elektronische Überwachung der US-Bürger nachträglich zu legitimieren, erahnen lassen.

Zutreffend sind auch Blums Ausführungen zum Thema Folter durch die CIA und das US-Militär. Mit Blick auf die skandalösen Praktiken in Guantánamo Bay, Abu Ghraib und geheimen anderen Lagern von Donald Rumsfelds "Antiterrorkriegern" einschließlich der darum kreisenden Expertendebatte um Moralität und Effektivität von Folter schreibt er:

Die Wirksamkeit der Folter geht noch weiter, weil es wiederholt nicht so sehr ihr Zweck ist, dem Opfer Informationen zu entlocken, sondern es zu quälen und zu zwingen jegliche Widerstandsaktivität aus Idealismus und innerer Überzeugung zu unterlassen und gleichzeitig seinen Kameraden eine Warnung zu erteilen.
(S. 76)

Das deutsche Wort "Schurkenstaat" ist die gängige Übersetzung des englischen Begriffs "rogue state", gibt diesen jedoch nur ungenügend wieder. Im Englischen ist hier weniger "rogue" im Sinne von "Schurke" gemeint als vielmehr, daß man die Metapher etwa eines "rogue elephant", nämlich eines Tieres bemüht, das sich im Vergleich zu seinen Herdengenossen nicht dressieren oder sonstwie besänftigen läßt. Folglich ist aus der Perspektive der USA ein "rogue state" jede Nation, deren Regierung nicht nach der Pfeife Washingtons tanzt und die sich gegenüber dessen Drohungen oder Verlockungen unempfänglich zeigt. Bestes Beispiel dieser Tage ist die als "Mullah-Regime" verschriene Regierung der Islamischen Republik Iran. Doch wenn es einen Staat gibt, der sich am wenigsten an die internationalen Regeln hält, multilaterale Bemühungen im Bereich der Abrüstung, des Umweltschutzes, der sozialen Standards usw. untergräbt und daher die Bezeichnung "rogue state" am ehesten verdient, dann ist es zweifelsohne, wie William Blum darlegt, die selbsternannte "Führungsmacht" USA. Daß Amerika unter George Bush, Dick Cheney und Donald Rumsfeld schnurstracks auf eine Katastrophe zusteuert - siehe die jüngsten Warnungen von Sandra Day O'Connor, der ersten und bisher einzigen Richterin am Obersten Gerichtshof der USA, vor dem Abgleiten der amerikanischen Gesellschaft in einen regelrechten Polizeistaat -, läßt sich inzwischen nicht mehr bestreiten. Leider sind jedoch alle anderen Erdbewohner als Geiseln mit von der Partie.


William Blum
Schurkenstaat
Aus dem Englischen (Originaltitel: "Rogue State")
von Herbert Kranz
Kai Homilius Verlag, Berlin, 2006
367 Seiten, Euro 19,90
ISBN: 3-89706-864-8

14. März 2006