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REZENSION/311: Meyers Lexikonverlag (Hg.) - Harenberg Aktuell 2006 (SB)


Meyers Lexikonverlag


Harenberg Aktuell 2006

Das Jahrbuch Nr. 1

Daten - Fakten - Hintergründe



Der Meyers Lexikonverlag setzte mit "Aktuell 2006" seine in bereits 22 Ausgaben bewährte Reihe aktueller Nachschlagewerke fort. Gleichwohl wurde mit diesem vom Verlag als "Das Jahrbuch Nr. 1" titulierten Werk in gewisser Weise ein Novum geschaffen. Es besteht nicht nur wie seine Vorgänger im wesentlichen aus einem rund 450 Seiten starken lexikalischen Teil sowie einem Abschnitt "Staaten der Erde", der Strukturdaten und aktuelle Erläuterungen zu allen 193 Staaten umfaßt. Das mit insgesamt 848 Seiten um rund 100 Seiten umfangreicher als bisher ausgestaltete Werk enthält darüber hinaus erstmals drei Chroniken zu den Bereichen Politik, Sport und Kultur, in denen die nach Ansicht der Autoren und Herausgeber wichtigsten Ereignisse in dem Zeitraum von Juli 2004 bis Juni 2005 in kurzen Einträgen festgehalten wurden.

"ALLES SCHNELLER BESSER WISSEN" - unter dieser Wortverkettung präsentiert der Meyers Lexikonverlag sein neues Jahrbuch. Augenscheinlich versucht der Herausgeber, mit dem darin transportierten Anspruch totaler Information den Anforderungen wie auch Zwangslagen des sogenannten Informationszeitalters Genüge zu tun. "Aktuell 2006" will nicht nur schnell verfügbare Informationen zum aktuell relevanten Zeitgeschehen bereitstellen sowie "Daten - Fakten - Hintergründe" liefern, die die Leser in die Lage versetzen, die tagesaktuelle Berichterstattung in ihren thematischen Bezügen und Zusammenhängen mitzuvollziehen. Der Verlag konnte offenbar der Versuchung nicht widerstehen, mit dem Anspruch, Wissen über "alles" besser und schneller zu vermitteln, die Quadratur des Kreises zu versprechen.

Selbstverständlich kann ein lexikalisches Werk, wie umfangreich auch immer es ausgestaltet sein mag, nicht ohne selektierende Hände geschaffen werden. Eine solche Auswahl setzt eine wie auch immer geartete politische Positionierung voraus, um Wesentliches vom vermeintlich Unwichtigen trennen zu können. Die naheliegende Frage, woran die von den Herausgebern des "Aktuell 2006" beanspruchte und behauptete Vollständigkeit dieses Werkes gemessen werden können soll, wird von ihnen weder aufgeworfen noch beantwortet.

Doch schon der Begriff der "Information" suggeriert eine Neutralität, die nicht eingehalten werden kann. Es liegt auf der Hand, daß sich insbesondere politische Konfliktlagen unterschiedlich und gegensätzlich darstellen je nachdem, ob sie aus der Sicht der einen oder der anderen Konfliktpartei geschildert werden. Dies mindert den Wert lexikalischer Nachschlagewerke für die Benutzer nur dann, wenn sie mit dem Kernkonsens medialer Berichterstattung nicht zufriedenzustellen sind. Dies gilt für die potentiellen Leser des "Aktuell 2006" nicht minder, da dem in ihm dargebotenen Informationsmaterial inhaltlich dieselben Übereinkünfte zugrundeliegen.

Unter dieser Voraussetzung kann das neugestaltete und erweiterte Jahrbuch als gelungen bezeichnet werden, wobei allerdings anzumerken wäre, daß es in puncto Übersichtlichkeit einiges zu wünschen übrig läßt. Das die Hälfte des gesamten Buches einnehmende "Lexikon von A-Z" beispielsweise suggeriert durch seine alphabetische Ordnung einen leichten und schnellen Zugriff. Tatsächlich jedoch sind die über 500 Einzeleinträge nicht an erster Stelle alphabetisch, sondern zunächst einmal thematisch sortiert. Wer einer konkreten Frage nachgehen oder einen bestimmten Sachverhalt oder Begriff klären möchte, wird nicht unbedingt auf Anhieb im Lexikon fündig werden können. Zuvor gilt es entweder zu überlegen, unter welchem der ihrerseits alphabetisch geordneten Themenbegriffe das Gesuchte wohl zu finden sein könnte, oder in dem dem Lexikon gewidmeten Stichwortverzeichnis zu blättern.

Bei den Themenbegriffen, deren große inhaltliche Nähe zu administrativen Belangen und Sichtweisen sich schon in der jeweiligen, beinah an einzelne Bundesministerien und -ressorts erinnernde Wortwahl - "Arbeit und Soziales", "Auto und Verkehr", "Bevölkerung", "Bildung" und so weiter - anzudeuten scheint, ist diese Zuordnung logischerweise nicht immer einfach oder eindeutig. Welche Inhalte und Begriffe gehören wohl zu "Innenpolitik", welche zu "Kriminalität"? Und was wiederum wird wohl unter "Krisen und Konflikte" zu finden sein im Unterschied zu den Kapiteln "Menschenrechte" und "Militär"? Für den uneingeweihten Leser ergibt sich dadurch die eigentlich absurde Situation, daß er sich erst einmal in die Gliederung und den Aufbau des Lexikons einarbeiten muß, um den "schnellen" Zugriff auf Informationen auch erhalten zu können.

Ist dies erst einmal geschehen oder ist das konkrete Anliegen, mit dem ein Benutzer das Jahrbuch zur Hand nimmt, tatsächlich problemlos einem der Themenbereich zuzuordnen, könnte sich die kombinierte thematisch-alphabetische Ordnung durchaus bezahlt machen. Wer sich beispielsweise für das Geschehen an der Börse interessiert und sich in das "Fach-Chinesisch" der Börsianer oberflächlichst einarbeiten möchte, wird über das Kapitel "Börse" mit Kurztexten zu Themen von A wie "Aktien", "Anlegerschutz" und "Anleihen" bis hin zu "Xetra" und "Zertifikate" hocherfreut sein.

An manchen Stellen weisen die lexikalischen Beiträge inhaltlich eine große Nähe zu regierungsamtlichen Verlautbarungen auf. Im Bereich "Arbeit und Soziales" beispielsweise wird unter dem Stichwort "Arbeitslosigkeit" ausgeführt, daß die Arbeitslosigkeit in Deutschland im Jahr 2004 auf hohem Niveau geblieben und nach Inkrafttreten von Hartz IV Anfang 2005 mit über 5 Millionen registrierten Arbeitslosen sogar noch in die Höhe geschnellt ist. Unter dem Stichwort "Arbeitslosengeld II" wird dann berichtet, daß durch die am 1.1.2005 in Kraft getretene sogenannte Hartz-IV- Reform das Arbeitslosengeld II an die Stelle von Arbeitslosen- und Sozialhilfe für Erwachsene getreten sei. "Damit sollte der Druck auf Langzeitarbeitslose zur Aufnahme einer Tätigkeit erhöht werden", heißt es im nächsten Satz, so als wäre dies eine unhinterfragbare Wahrheit, nur weil dies der von der Bundesregierung vorgebrachten Begründung für den durch Hartz IV forcierten Sozialabbau entspricht.

Wer sich anhand des Jahrbuchs beispielsweise über den Hunger in der Welt informieren möchte, wird über das Stichwortverzeichnis zu Seite 231 geleitet. Das Thema war den Herausgebern und Autoren kein eigenes Stichwort im Lexikon wert. Es wurde in den Bereich "Entwicklung" integriert und nimmt dort neben den übrigen Unterpunkten (Afrika, Analphabetismus, Armut, Asien, einer Sonderseite, ein sogenanntes "SPECIAL", zu China, Entwicklungsländer, Entwicklungspolitik, Europa, HIV, Hunger, Lateinamerika) eine höchst marginale Rolle ein, die den geringen Stellenwert widerspiegelt, die diese extreme Mangellage für den privilegierten Westen darstellt. Inhaltlich ergibt sich dasselbe Bild. So wird neben statistischen Daten der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft und näheren Angaben zu den Hungerregionen Gentechnik als vermeintliche Alternative im Kampf gegen den Hunger vorgestellt - all das in einer einzigen Spalte des fast 850 Seiten starken Werkes. Kurzum, hier liegen die Schwerpunkte und Interessenbereiche der Herausgeber eines Jahrbuchs, das immerhin beansprucht, "schneller und besser" über "alles" zu informieren, ganz offensichtlich nicht.

Neben dem Lexikon nimmt der Staatenteil den zweitgrößten Raum ein. Auf rund 220 Seiten werden hier die Staaten der Erde lexikontypisch - mit den üblichen Strukturdaten, die durch Texte zu den Bereichen Innen- und Außenpolitik sowie Wirtschaft ergänzt wurden - dargestellt und abgehandelt. Für Interessierte, die aufs Kürzeste heruntergebrochen wissen wollen, welcher Staat in der sogenannten internationalen Gemeinschaft welchen Platz einnimmt, und die sich ein widerspruchsfreies Weltbild und Politikverständnis erarbeiten möchten, kann der Staatenteil wertvolle Hilfestellungen leisten.

Leser jedoch, die sich einer bestimmten Fragestellung unter Berücksichtigung auch ihrer kontroversen Bestandteile nähern möchten, werden in dem Jahrbuch auf Schwierigkeiten, um nicht zu sagen durchaus gravierende Lücken stoßen. Wer etwa in dem "Aktuell 2006" angesichts des in diesem Jahr womöglich hochbrisanten sogenannten Atomstreits zwischen den USA und Teheran die Hintergründe und Zusammenhänge beleuchten möchte, wird nicht unbedingt umfassend informiert, wohl aber mit der Position der westlichen Staaten in diesem Konflikt vertraut gemacht.

Gleichwohl gilt es auch hier, mit der Unübersichtlichkeit der gesamten Aufbereitung erst einmal fertig zu werden. Im Lexikon unter "Krisen und Konflikte" ist der Iran nicht enthalten. Im Stichwortverzeichnis ist der Begriff "Atomkonflikt" nicht aufgeführt, dort gibt es nur "Atomenergie" und "Atomtransport". Im Staatenteil allerdings wird der Interessierte fündig. Beim "Iran" ist unter "Außenpolitik" zum Thema "Atomkonflikt" folgendes zu lesen:

Der iran. Außenminister Kamal Charrasi behauptete im Februar 2005 erneut, dass sein Land kein Programm zur Entwicklung von Atomwaffen unterhalte. Er bekräftigte allerdings das Recht seines Landes zur friedlichen Nutzung der Kernenergie einschließlich der Urananreicherung. Die USA setzten 2004 angeblich mehrfach unbemannte Flugzeuge zum Auskundschaften der iran. Atomanlagen und der Luftabwehr ein. Außerdem lancierte die US-Regierung Berichte, wonach sie zu gezielten Militärschlägen auf iran. Atomanlagen bereit sei.
(S. 599)

Ein Lexikon, das an dieser Stelle unerwähnt läßt, daß das vom Iran beanspruchte Recht auf zivile Nutzung der Atomenergie diesem auf der Basis des international anerkannten Atomwaffensperrvertrages auch tatsächlich zusteht, muß sich den Vorwurf, unvollständig und einseitig zu informieren, durchaus gefallen lassen. Und obwohl sich die angloamerikanische Kriegsallianz den Weg in den Irakkrieg erwiesenermaßen durch Lügen geebnet hat, blieben im "Aktuell 2006" die Zweifel an den unbewiesenen Behauptungen, der Iran würde heimlich ein Atomwaffenprogramm betreiben (wollen), unerwähnt.

Zum Thema Iran gibt es im "Aktuell 2006" zudem ein "SPECIAL", wie die Herausgeber ihre bestimmten Themen gewidmeten und auf hellblauem Papier gedruckten Sonderseiten nennen, ganz so, als gäbe es dafür kein passendes deutsches Wort. In dem SPECIAL zum Iran unter dem Titel "Iran, Europa und die USA: ein schwieriges Verhältnis" wird über die "Demütigung der USA" gesprochen, womit der Sturz des US-freundlichen Schahs von Persien im Jahre 1979 gemeint ist. Seitdem habe sich die Menschenrechtssituation im Iran keineswegs verbessert, wie unter dem Zwischentitel "Vergebliche Hoffnung auf Demokratie" unter Verweis auf entsprechende Berichte von amnesty international deutlich gemacht wird.

Offensichtlich setzen Autoren wie Herausgeber hier die gegen den Iran bestehenden Foltervorwürfe mit einem eklatanten Mangel an Demokratie gleich. Wer nun angesichts der Foltervorwürfe, die vielfach belegt gegen die US-Streitkräfte in Afghanistan und dem Irak erhoben wurden, annimmt, in "Aktuell 2006" würde in konsequenter Inanspruchnahme einer auf die bedingungslose Durchsetzung der Menschenrechte abzielenden Position in derselben Weise auch zu den USA Stellung genommen, sieht sich getäuscht. Im Staatenteil wird unter dem den USA gewidmeten Kapitel nicht mit einer Silbe auf die gegen Washington bestehenden Foltervorwürfe eingegangen. Dort wird einzig erwähnt, daß im April 2005 ein US- amerikanisches Militärgericht einen US-Soldaten verurteilt hat wegen des Mordes an zwei Menschen im Irak - es waren ebenfalls zwei US-Soldaten. Irakische Folteropfer werden hier mit keinem Wort erwähnt.

Dies ist jedoch nicht nur ein weiteres Beispiel für gezielte Auslassungen des Jahrbuchs. Die Leser stoßen an dieser Stelle auf eine Unübersichtlichkeit und Unvollständigkeit, die immer wieder anzutreffen ist, weil eine bestimmte, gesuchte Information vielleicht hier, vielleicht dort, vielleicht aber auch wieder ganz woanders oder eben gar nicht zu finden ist. Im Lexikon- Kapitel "Menschenrechte" nämlich, wenn auch nicht unter einem eigenen Stichwort, sind unter dem Begriff "Folter" die "Vorwürfe gegen die USA" sehr wohl erwähnt:

Nach der Aufdeckung des F.-Skandals im Gefängnis Abu Ghreib im Irak berichteten ehemalige Gefangene von F. in weiteren US-Sicherheitskräften unterstehenden Gefängnissen im Irak sowie in Afghanistan und auf dem US-Stützpunkt Guantánamo Bay auf Kuba. Ihre Vorwürfe wurden z.T. durch US-Militäruntersuchungen bestätigt. Zwei Häftlinge wurden, einem im Mai 2005 an die Öffentlichkeit gelangten Bericht des Verteidigungsministeriums zufolge, von US-Soldaten in Afghanistan zu Tode gefoltert. Insgesamt sollen in Afghanistan und im Irak mehr als 20 Gefangene in US- Gewahrsam auf nicht geklärte Weise zu Tode gekommen sein.
(S. 399)

Am mangelnden Platz kann es in diesem Fall nicht gelegen haben, daß die von den USA zu verantwortenden Folterungen der Regierung in Washington keineswegs zum Vorwurf gemacht werden. In "Aktuell 2006" wird der Folter unter dem Titel "Ein bisschen Folter ...?" ein weiteres SPECIAL gewidmet (S. 400), in dem die Aufweichung des in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen von 1948 als absolut gesetzten Folterverbots als Tatsache hingestellt wird. Zur Begründung wird angeführt, daß sich der Konsens, daß das Folterverbot immer und überall gelte, in den westlichen demokratischen Ländern nach den Anschlägen des 11. September geändert habe und daß seitdem im Kampf gegen den Terrorismus "einigen Politikern und Juristen jedes Mittel recht" zu sein scheint. Es ist den Jahrbuch-Autoren zugute zu halten, daß sie die Argumente der "Befürworter des absoluten Folterverbots" berücksichtigt und erwähnt haben, was auch nach der deutschen Verfassung eine Selbstverständlichkeit sein müßte, nämlich daß ein Rechtsstaat grundsätzlich in seiner Gewalt befindliche Menschen nicht mißhandeln, nicht brechen oder ihrer Würde berauben darf.

Alles in allem ist "Aktuell 2006" sehr wohl geeignet, den Endverbraucher medialer Beeinflussung und Zurichtung unterstützend zu begleiten. Tatsächlich zu empfehlen ist es allerdings nicht und schon gar nicht all denjenigen, die sich gegenüber den medialen Vorgaben eine gewisse Eigenständigkeit im Denken bewahren oder erarbeiten wollen und auf diesem Wege gut und gerne auf ein Werk verzichten können, das eigentlich unübersehbare Widersprüche und logische Argumentationsbrüche einzuebnen bestrebt ist.


Meyers Lexikonverlag
Harenberg Aktuell 2006
Das Jahrbuch Nr. 1
Daten - Fakten - Hintergründe
Meyers Lexikonverlag, 2005, 22. Jahrgang
848 Seiten
ISBN 3-411-76128-8

15. März 2006