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REZENSION/337: Joachim Hirsch - Materialistische Staatstheorie (Politik) (SB)


Joachim Hirsch


Materialistische Staatstheorie

Tramsformationsprozesse des kapitalistischen Staatensystems



Laut dem neoliberalen Zeitgeist ist der Staat ein lästiger Appendix der nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten organisierten Gesellschaft, dessen Einfluß auf das Verwertungssystem es zurückzudrängen gilt. Administrative Prozesse werden so weit wie möglich privatisiert und ökonomischen Effizienzmaßstäben unterworfen, wozu man äquivalent zu den Handlungsprinzipien des Industrie- und Finanzmanagements neudeutsch artikulierte Administrationskonzepte wie Good Governance und Bewertungskriterien wie Best Practice heranzieht. Früher heiß diskutierte Probleme um Macht und Herrschaft scheinen sich im Wohlgefallen der PR-Fassaden sinnstiftender Kampagnen wie "Du bist Deutschland" aufgelöst zu haben, und wer dennoch daran erinnert, daß die Lebensverhältnisse der Menschen und die Institutionen ihres Zusammenlebens vornehmlich von Gewalt bestimmt sind, wird als ewig gestriger Schwarzmaler mitleidig belächelt.

Um den in Reaktion auf die Verödungen kapitalistischer Raubzüge entstandenen neuen Etatismus ist es nicht viel besser bestellt. Nicht wenige Linke suchen Zuflucht bei der Forderung nach der Stärkung staatlicher Kompetenzen, weil sie das die Welt bis in den letzten Winkel penetrierende Kapitalverhältnis monokausal verabsolutieren und für alles verantwortlich machen, was nicht an Produktionsweisen und Verwertungsinteressen gebunden ist. Die neuentdeckte Liebe zum Regulativ starker Staatlichkeit bedient sich einer nicht minder reduktionistischen Ideologie wie die Doktrin der freien Marktwirtschaft. In beiden Fällen gilt, daß das eine nicht ohne das andere funktionieren kann und daß die Mehrung der eigenen Bedeutung zu Lasten des konzeptionellen Gegenpols gezielt vom Problem der Herrschaft des Menschen über den Menschen ablenken soll.

Da diese sich in gesellschaftlichen Hierarchien und sozialen Kämpfen manifestierende Konstante menschlicher Entwicklung in rechtsstaatlichen Strukturen organisiert und mit staatlichen Gewaltorganen durchgesetzt wird, kommt man um eine Theorie des Staates nicht herum, wenn man das Problem auf den Begriff bringen will. Der Politikwissenschaftler Joachim Hirsch ist einer der bekanntesten deutschen Vertreter der an die Regulationstheorie anknüpfenden materialistischen Staatstheorie und erläutert in seinem Buch gleichen Namens umfassend die Theorie dieser auf marxistischen Grundüberzeugungen basierenden Schule politischen Denkens.

Dabei stellt Hirsch zu Anfang des ersten Kapitels "Grundzüge der materialistischen Staatstheorie" klar, daß diese "zuallererst Staatskritik und damit verbunden eine Kritik der in der Politikwissenschaft verwendeten Begriffe" (S. 15) sei. Unter der Prämisse, "staatliche Institutionen und Prozesse als Ausdruck dahinterstehender Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse und daraus resultierender Konflikte und Kämpfe zu begreifen" (S. 16), zeichnet der Autor die komplexe Genese des modernen Staates als eines Produkts ausgesprochen heterogener Interessen nach:

Die für die kapitalistischen Produktionsverhältnisse charakteristischen sozialen Strukturen - vom Privateigentum an Produktionsmitteln und der freien Arbeitskraft bis hin zu ihrer spezifischen politischen Form - sind durch soziales Handeln entstanden, bei dem Gewalt eine zentrale Rolle gespielt hat. Dies gilt für die so genannte ursprüngliche Akkumulation ebenso wie für die Entstehung eines verselbständigten und zentralisierten staatlichen Apparats. Die diesen Prozess vorantreibenden gesellschaftlichen Akteure wurden dabei von sehr unterschiedlichen und recht gegensätzlichen Interessen getrieben. Die Durchsetzung des Kapitalismus, wie wir ihn heute kennen, war nicht unbedingt ihr Ziel. Die historische Entwicklung hatte kein steuerndes und planendes Subjekt, sondern beruht auf einer Reihe von eher zufällig aufeinander treffenden, aber sich wechselseitig verstärkenden Bedingungsfaktoren.
(S. 51)

Damit beschreibt Hirsch einen Kontrollverlust, der den Anspruch politischen Handelns auf Steuerungs- und Lenkungskompetenz wie ein dunkler Schatten begleitet. Auch wenn die materialistische Staatstheorie die bestimmende Rolle kapitalistischer Verwertungslogik in den Mittelpunkt ihrer Analyse stellt, reduziert sie diese nicht auf die Totalität eines geschichtsphilosophischen Determinismus, der die Entwicklung der Menschheit bereits vorweggenommen hat. Statt dessen ist Hirsch bemüht, die auf Staat und Gesellschaft wirkenden Kräfte an ihren Bruchlinien und Konfliktfeldern kenntlich zu machen, wobei das aufklärerische Anliegen in der Aufdeckung der Verdinglichung besteht, die die das soziale und gesellschaftliche Leben bestimmenden Kräfte in Form von Objektbeziehungen und Projektionen verbirgt.

Seine von Nicos Poulantzas inspirierten Ausführungen zum Einfluß der kapitalistischen Produktionsweise auf das Raum- und Zeitverständnis des Menschen und die daraus resultierenden Vergesellschaftungsformen des Volkes und der Nation sowie die Bedeutung des Geschlechterverhältnisses für den kapitalistischen Verwertungs- und Akkumulationsprozeß kommentieren die nationalistische Restauration und den maskulinen Leistungswahn dieser Tage, als seien sie eigens dafür verfaßt worden.

Der Autor verwahrt sich gegen simplifizierende Kausalstrukturen wie das Basis-Überbau-Theorem und betont statt dessen das dialektische Verhältnis, in dem Staat und Gesellschaft, Politik und Ökonomie stehen. Wichtig sind ihm die Kämpfe und Auseinandersetzungen, die die politische Kultur des Westens geprägt haben und aus deren vorrangiger Bedeutung für die Gestaltung menschlichen Zusammenlebens er ein "grundlegendes Primat der Politik bei der Analyse gesellschaftlicher Prozesse" (S. 57) ableitet. Wo administratives Handeln der Krisendynamik des kapitalistischen Systems gemäß ständig mit Kontrollverlusten zu kämpfen hat, verfügt das politische Subjekt über weit mehr Möglichkeiten der Einflußnahme, als der rigide Charakter einer Herrschaftsicherung vermuten läßt, deren Sachwalter äquivalent zum Anwachsen gesellschaftlicher Widersprüche und zum Schwinden ihrer Glaubwürdigkeit sozialen Bewegungen weit im Vorfeld ihrer Entfaltung mit erheblichem Repressionspotential entgegentreten. Gerade weil, wie Hirsch betont, der Kapitalismus und der moderne Staat "handlungsabhängig, durch politische Kämpfe und Strategien bestimmt und daher prinzipiell offen" (S. 57) seien, arbeiten die PR-Agenturen und Legitimationsschmieden, die Sozialtechnokraten und Gewaltorgane unter Volldampf daran, eine in ihren Grundzügen von unten nicht mehr zu beeinflussende Wirklichkeit zu schaffen.

Wie der Untertitel des Buches ankündigt, steht die Untersuchung der "Transformationsprozesse von Gesellschaft und Staat" im Mittelpunkt des Versuchs, der Komplexität und Widersprüchlichkeit kapitalistischer Vergesellschaftung Herr zu werden. In dem so überschriebenen zweiten Kapitel des Buches fragt Hirsch nach den Regulationsprinzipien, mit Hilfe derer die grundsätzlich krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus bewältigt werden kann, und entwickelt diese vor dem Hintergrund der prinzipiellen "Einheit von ökonomischen, sozialen und politisch-hegemonialen Entwicklungen" (S. 111).

Dabei bezieht er insbesondere gegen den in den Sozialwissenschaften und neuen sozialen Bewegungen unterstellten Antagonismus von Staat und Zivilgesellschaft Position. Die in Abgrenzung zu etatistischer Steuerung als "zivilgesellschaftlich" deklarierten Interessen und Prozesse unterliegen zweifellos der regelbestimmenden und -durchsetzenden Kraft staatlicher Gewalt, auch wenn diese ihrerseits von zivilen Akteuren beeinflußt wird. Für Hirsch ist entscheidend, daß "Herrschaft stabilisiert und der Akkumulationsprozess des Kapitals garantiert werden kann" (S. 93), was sich nur im Rahmen eines "integralen Staates" leisten lasse, den Antonio Gramsci als "den gesamten Komplex praktischer und theoretischer Aktivitäten, mit denen die herrschende Klasse ihre Dominanz nicht nur rechtfertigt und aufrechterhält, sondern den aktiven Konsens der Beherrschten gewinnt" (S. 93), charakterisiert.

Die materialistische Staatstheorie nach Joachim Hirsch beschränkt sich nicht auf die historische Darstellung und dynamische Analyse des Verhältnisses der verschiedenen gesellschaftlichen Sphären und Akteure zueinander, ihrer der Durchsetzung partikulärer Interessen gewidmeten Abgrenzung voneinander bei gleichzeitiger Kollaboration im Kampf gegen Dritte. Sie leistet auch eine Darstellung des globalen Staatensystems vor dem Hintergrund der internationalen Arbeitsteilung zwischen den hochproduktiven kapitalistischen Metropolengesellschaften und der diesen in jeder Hinsicht weit unterlegenen Peripherie.

Das massive Gefälle in den sogenannten Wertschöpfungsketten, die den Planeten umspannen und Milliarden Menschen fest in ihrem Griff halten, ist nicht etwa einem zeitlich befristeten Entwicklungsrückstand der Länder des Südens geschuldet, sondern Ungleichheit ist ein "Strukturmerkmal des globalen Kapitalismus" (S. 104). Auf den humanen Ertrag dieses ökonomischen Gewaltverhältnisses zugespitzt könnte man auch sagen, daß Mangel und Not Voraussetzungen kapitalistischer Verwertung sind, es also für die davon profitierende Triade aus Nordamerika, Westeuropa und Japan keinen Grund gibt, daran etwas zu ändern.

So lange menschliche Arbeit der Quell des Mehrwerts und das Kapitalverhältnis die Ratio allen Wirtschaftens ist, hat die internationale Angleichung der Arbeitsbedingungen und des Sozialstandards nach unten ihre Grenzen. Es kann gar nicht im Interesse des kapitalistischen Zentrums liegen, eine weltweite Einebnung der Produktionsverhältnisse zu erreichen und sich so der Reproduktion der Grundlagen seiner Produktivität zu berauben. Hier nimmt die Bedeutung des Staates als Agentur des Ausgleichs divergierender Interessen unter den Eliten und der Befriedung sozialer Widersprüche eher zu als ab:

Maßgebend für die internationale Dominanz sind somit keineswegs allein militärische Stärke, die Größe der Bevölkerung oder der Reichtum an natürlichen Ressourcen. Eine gewisse Größe des Binnenmarkts ist zwar eine ebenso wichtige Voraussetzung für eine international beherrschende Stellung wie ein ausreichendes militärisches Potenzial. Letztlich entscheidend sind aber die inneren politischen Verhältnisse, die sozialen Kräftekonstellationen und die Art ihrer Institutionalisierung, die die Grundlagen eines stabilen Akkumulations- und Regulationszusammenhangs bilden.
(S. 104 f.)

Es besteht mithin kein Grund, auf die neoliberale Propaganda nie zureichender Deregulierung und Privatisierung hereinzufallen. Die geforderte Freisetzung sogenannter Marktkräfte zu Lasten der angeblich die Profitrate schmälernden Intervention des Staates erweist sich als Drängen auf eine andere Regulationsweise, die wie immer Produkt der von Brüchen und ihrer Überwindung bestimmten Qualifizierung kapitalistischer Verwertungslogik ist. Hier bewährt sich, daß Hirsch den platten Antagonismus von Staat und Markt nicht gelten läßt, wäre doch ohne das regulierende Eingreifen staatlicher Ordnungsgewalt jeder Markt Schauplatz archaischer Aneignungspraktiken.

Daß es im Kapitalismus ziviler zugehen soll als zu einer Zeit, als der größere Knüppel darüber bestimmte, wer dem andern die Früchte seiner Mühen abjagte, heißt allerdings nicht, daß der legendäre Big Stick nicht die letzte Instanz wäre, die angerufen wird, wenn es ans Eingemachte geht. Auch das spricht sehr viel mehr für die These, daß die Rolle der Staaten in den Verteilungskämpfen der Zukunft gar nicht hoch genug angesiedelt werden kann. Wo die Mangelproduktion kapitalistischer Wertsteigerung und der objektive, durch Klimawandel, landwirtschaftlichen Raubbau, industrielle Umweltzerstörung und biotechnologische Manipulation bewirkte Rückgang verfügbarer Überlebensressourcen sich gegenseitig verstärken, können militärische und administrative Formen der Notregulation nicht ausbleiben. So wirft die Ausgabe von Sachleistungen anstelle frei verfügbarer Zahlungsmittel für entrechtete Alg-II-Empfänger und Asylbewerber den Schatten einer unmittelbar am individuellen Überlebensinteresse ansetzenden Verfügungsgewalt voraus, die ihre zwingende Gewalt mit Hilfe einer an sozialdarwinistische Kriterien geknüpften Gewährleistung essentieller Lebensvoraussetzungen qualifizieren könnte. Währung als staatlich legitimiertes Mittel des Tausches muß nicht die Form eines geldförmigen Zahlungsmittels behalten, sondern könnte ebensogut als Anspruch des "nackten Lebens" auf Existenzsicherung quantifiziert und verkehrsfähig gemacht werden.

Die angesichts möglicher kriegerischer Entwicklungen kaum auslotbare Tiefe des administrativen Zugriffs auf den einzelnen ist auch für den im dritten Kapitel "Staat, Weltsystem und Imperialismus" unternommenen Versuch Hirschs bedeutsam, die heutige Weltordnung im Kontext der Transformationsprozesse, die sich aus dem Niedergang des Fordismus und der Etablierung einer menschliche Arbeit immer verzichtbarer machenden Produktionsweise ergeben, zu erfassen. Bei aller Entgrenzung nationalstaatlicher Strukturen und Auswanderung gouvernementaler Kompetenzen auf die suprastaatliche Ebene regionaler Staatenbündnisse wie die EU oder globaler Institutionen wie IWF, WTO und NATO bleibt der Staat jedoch "der entscheidende Knotenpunkt der Herrschaftsverhältnisse und zentraler Ort des gesellschaftlichen Regulationsprozesses" (S. 162). Hier entspannt sich vor dem Hintergrund transnational organisierter Konzernmacht ein diffiziles Wechselspiel zwischen Kapitalinteressen, die sich gegen staatliche Einhegung verwahren, gleichzeitig aber nicht ohne staatliche Sicherung ihrer Geschäftsgrundlage auskommen, und politischen Akteuren, die diese - natürlich nicht zum Preise eigener Bedeutungslosigkeit - gewährleisten. Dabei entstehen informelle Netzwerke aus Think Tanks, Stiftungen, Universitäten und wirtschaftlichen wie politischen Funktionseliten, die jeden Anspruch auf demokratische Partizipation null und nichtig machen.

Hirsch muß voreiligen Hoffnungen auf einen Niedergang der globalen Macht Washingtons mit dem Verweis auf die starke Interdependenz zwischen den westlichen Metropolengesellschaften und der von ihnen in Anspruch genommenen Funktion der USA als Garant weltordnungspolitischen Vollzugs enttäuschen. Zu der These, diese Dominanz der USA stände aufgrund ihrer immensen Verschuldung kurz vor dem Zusammenbruch, gibt der Autor zu bedenken, "dass die steigende äußere Verschuldung der USA als ein Zeichen ökonomischer und militärischer Potenz verstanden werden kann" (S. 191). Diese das devote Verhalten westlicher Verbündeter plausibel machende Sicht könnte man auch dahingehend deuten, daß die Produktion von Verlusten, von Mangel und Not die wesentlichen Triebkräfte kapitalistischer Verwertung sind. Schulden sind in diesem Sinne Aktiva ökonomischen Handelns, denn sie konstituieren, wie am Beispiel der USA unschwer zu erkennen, Abhängigkeitsverhältnisse, aus denen sich zu lösen weit schwerer fällt als eine davon unbelastete Geschäftsbeziehung einzustellen.

So, wie die relative Stabilität dieses Weltsystems auf der Teilhaberschaft aller politischen und wirtschaftlichen Akteure am hohen Verschuldungsgrad der USA basiert, so erhöhte sich seine Instabilität mit der wachsenden Autonomie der Weltregionen und einzelner Länder. Solange die Klammer des globalen Verwertungszusammenhangs viele Millionen Menschen in akute Überlebensnot stürzt, sind Stabilität und Ordnung Chiffren eines Herrschaftsinteresses, dem jedes Nachdenken über andere Möglichkeiten der gesellschaftlichen Organisation ein zu unterdrückendes Übel sind. Die wachsende Bereitschaft zu aggressiver Expansion und antidemokratischer Entrechtung ist am Vorgehen der US-Regierung exemplarisch zu studieren und kündet davon, daß die vertrauten Formen plakativer und symbolischer Legitimation zusehends verzichtbar werden.

Das sich so heiter gebende Regiment des die Welt umspannenden Kapitalismus blendet seine Schattenseiten systematisch aus und führt, wie Hirsch im vierten und letzten Kapitel "Theoretische Schlußfolgerungen und politische Perspektiven" schildert, auf allen Ebenen staatlicher und gesellschaftlicher Organisation zu einer Verstärkung disparater und divergierender Entwicklungen, die die Reproduktion des Gesamtsystems zwar nicht grundsätzlich in Frage stellen, es jedoch in ein zusehends von gewaltförmiger Interessendurchsetzung bestimmtes Fahrwasser manövrieren. Die neoliberal orientierte Globalisierung unterwirft die maßgeblichen Institutionen demokratischer Öffentlichkeit wie Parteien und Medien einem Strukturwandel von in jeder Hinsicht reaktionärer, bürgerliche Streitkultur unterdrückender und gesellschaftliche Widersprüche demagogisch nivellierender Art.

Individualisierung und Biologisierung bestimmen den gesellschaftlichen Diskurs, um das Dogma der Eigenverantwortung als Achse persönlicher Schuldzuweisung permanent verfügbar zu haben. Der mit der Auflösung solidarischen Verhaltens und demokratischer Gesellschaftsgestaltung anwachsende Verlust an Sozialkontrolle wird durch die Adressierung der dabei aufkommenden Ängste an zweckdienliche Feindbilder kompensiert, so daß antikapitalistischer Opposition von vorneherein das Brandmal des Staatsfeindes anhaftet.

Die von Hirsch unter dem Begriff des "radikalen Reformismus" (S. 231) entworfenen emanzipatorischen Handlungsmöglichkeiten sind der Dominanz herrschender Kräfte gemäß eher vage ausformuliert, doch in der Stoßrichtung durchaus eindeutig. In Absage an die Machbarkeit einer die Zentralen der Exekutive übernehmenden Revolution erklärt er:

Dabei bezieht sich der Ausdruck Reformismus auf die Tatsache, dass gesellschaftliche Veränderungen nicht durch staatliche Macht durchgesetzt werden können, sondern einen langwierigen und schrittweisen Prozess der Bewußtseins- und Verhaltensänderung darstellen, durch den gesellschaftliche Machtverhältnisse allmählich transformiert und damit auch die politische Apparatur umgestaltet wird. 'Radikal' wäre eine solche Entwicklung, weil sie tatsächlich an den grundlegenden gesellschaftlichen Beziehungen, d.h. die Wurzeln der bestehenden Herrschaftsverhältnisse rührt. In staatstheoretischen Begriffen lässt sich nun allgemeiner formulieren, was emanzipatorisches gesellschaftsveränderndes, oder wenn man so will revolutionäres Handeln ausmacht. Es ist weder durch besondere materielle Ziele, noch einfach durch die Radikalität der Forderungen, sondern dadurch gekennzeichnet, dass es sich den kapitalistischen sozialen Formen bewusst entgegenstellt und sie durchbricht.
(S. 231 f.)

Joachim Hirsch
Materialistische Staatstheorie
Tramsformationsprozesse des kapitalistischen Staatensystems
VSA Verlag, Hamburg, 2005
256 Seiten, Euro 17,80
ISBN 3-89965-144-8


11.07.2006