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REZENSION/362: Heuwinkel/Nümann/Matscheko - Menschen pflegen (Medizin) (SB)


Annette Heuwinkel-Otter/Anke Nümann-Dulke/Norbert Matscheko


Menschen pflegen

Band 1 - Pflegeprinzipien



Die Gesundheits- und Sozialpolitik der letzten beiden Jahrzehnte hat die Wirtschaftlichkeit auch in der Pflege zum obersten Prinzip erklärt. Das hat seine Spuren in Pflegeinstitutionen, Pflegeberufen und auch in der Pflegeausbildung hinterlassen. Die Pflegekraft von heute ist angehalten, sich an Vorgaben von Kranken- und Pflegekassen zu halten und muß durch ausführliche Dokumentation den Nachweis einer ökonomischen Pflege erbringen. Das Einhalten dieser ausschließlich unter ökonomischen Gesichtspunkten getroffenen Optionen kann nur zu Lasten der zu Pflegenden gehen. Wer heute einen Pflegeberuf ergreift, hat es nicht leicht, die Würde des ihm anvertrauten Menschen zu wahren bzw. ihm ein Leben in Würde zu ermöglichen.

Ein alter, kranker oder behinderter Mensch ist von dem Moment der Hilfs-, bzw. Pflegebedürftigkeit an zumeist auf Fremde angewiesen, die die Pflege anderer zu ihrem Beruf gewählt haben. Das Abhängigkeitsverhältnis, in dem sich dieser Mensch von nun an zu dem beruflich Pflegenden befindet, legt letzterem eine besondere Verantwortung auf und fordert eine gewissenhafte Auseinandersetzung mit der Situation des anderen Menschen.

So werden jedem Auszubildenden

Werte und Normen, nach denen sich menschliches
Handeln, Sprechen und Verhalten richten soll
(S. 22)

und die vom Weltbund der Krankenschwestern und Krankenpfleger (ICN - International Council of Nurses) 1953 in einem Ethikkodex festgelegt wurden, nahegebracht. Die ethische Grundregel, nach der Pflege untrennbar ist von der Achtung der Menschrechte, einschließlich dem Recht auf Leben, auf Würde und respektvolle Behandlung, müßte jedem, der einen Beruf in der Gesundheits- und Krankenpflege ergreift, geläufig sein.

Doch ungeachtet des Berufsethos gelangen immer häufiger Meldungen über unzureichende Pflege vorwiegend alter Menschen, teilweise verbunden mit schweren Folgeerscheinungen bis hin zum Tod, an die Öffentlichkeit. Nach Angaben des Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie beispielsweise sind etwa 15 Prozent der über 65-Jährigen, die zu Hause leben, mangelernährt. Werden sie akut in eine Klinik eingeliefert, schnellt der Prozentsatz auf bis zu 50 Prozent hoch, und noch erschreckender ist die Lage in Pflegeeinrichtungen.

Eigentlich wäre es selbstverständlich, daß der Pflegende Zeit und Mühe aufwendet bzw. aufwenden kann, um den alten Menschen bei der Nahrungsaufnahme zu unterstützen. Statt dessen legt jedoch die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin beispielsweise Leitlinien vor, die nachdrücklich bei akuten Erkrankungen älterer Menschen möglichst "frühzeitige zusätzliche" Ernährung zum Beispiel durch Trink- oder Sondennahrung empfehlen (aerzteblatt.de vom 16.11.06). Diese inhumane Methode der Patientenversorgung kann man als Aufwandsminimierung betrachten, spart sie doch wertvolle Zeit in der Pflege und damit nicht zuletzt Personalkosten.

Mißstände dieser Art sind Folge der vorgeblich zugunsten der Pflegebedürftigen durchgeführten Gesundheitsreformen, wie beispielsweise das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) von 1993, die Einführung einer Pflegeversicherung im Jahr 1994 und das Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG), das mit dem 1. Januar 2004 in Kraft getreten ist. Sie alle haben vorrangig Wirtschaftlichkeit in der Pflege gefordert und damit eine Umstrukturierung des Gesundheitssystems notwendig gemacht. Diese Entwicklung hat gleichzeitig unmerklich zu einer Wandlung des Berufsverständnisses geführt. So heißt es heute unter anderem unter "Insidertip" im Lehrbuch "Menschen pflegen", erschienen im Springer Verlag 2006:

Da Pflegende aber immer die Interessen verschiedener Seiten vertreten (Interessen der zu Pflegenden, der Institution, des Gesundheitssystems und eigene Interessen), stellt sich jede berufliche Pflegebeziehung als Aushandlungsprozess zwischen dem Pflegebedürftigen und dem Pflegenden dar. (S. 12)

Treffender könnte das Wesen von Pflege heute kaum charakterisiert werden, denn mittlerweile basiert diese auf einem Vertragsverhältnis zweier Parteien. Dabei handelt es sich allerdings nicht in erster Linie - wie es der obige Insidertip vermuten ließe - um ein Vertragsverhältnis zwischen Pflegekraft und dem zu Pflegenden, sondern um das vollkommen ungleiche Verhältnis zwischen dem Leistungsträger (Krankenkassen und Pflegekassen) und dem Leistungsempfänger. Der Leistungsempfänger, d.h. die pflegebedürftige Person, befindet sich von vornherein in einer vom Leistungsträger abhängigen Situation. Dieser entscheidet - nach den gesundheitspolitischen Vorgaben - über das wirtschaftlich vertretbare Angebot an Leistung. Wer darüber hinaus versorgt sein möchte, muß die entsprechenden Leistungen zusätzlich aus eigener Tasche zahlen.

Die Idee des Solidarprinzips im Gesundheitswesen, wonach die in die Sozialkassen gezahlten Beiträge einzelner eine optimale medizinische Versorgung und Betreuung aller Mitglieder der Gesellschaft gewährleisten sollten, gehört der Vergangenheit an.


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Auch das hauptsächlich für den Auszubildenden in der Gesundheits- und Krankenpflege heute lerntechnisch hervorragend durchdachte und strukturierte Werk "Menschen pflegen" ist Ausdruck dieser gesundheits- und gesellschaftspolitischen Entwicklung.

Mit "Menschen pflegen", erschienen 2006 im Springer Verlag, wollten die drei Herausgeber/innen Annette Heuwinkel-Otter, Anke Nümann-Dulke und Norbert Matscheko vermutlich aus eigener leidvoller Erfahrung heraus ein Lehrbuch nach dem Motto "Leicht lernen mit Spaß" erstellen. Alle drei können auf eine langjährige Praxis in der Krankenpflege zurückgreifen und auch auf die Erfahrung als Lehrkraft für Pflegeberufe. Sie haben eine dreibändige "Buchfamilie" geschaffen, um die unleidlich dicke "Pflegebibel" zu vermeiden.

Band 1 informiert umfassend über Pflegeprinzipien, Fachabteilungen, Beruf und Karriere. Band 2 und Band 3 befassen sich direkt mit der Pflege und lassen die modernen Maßstäbe der Pflege erkennen. Während Band 2 Pflegediagnosen, Beobachtungstechniken und Pflegemaßnahmen behandelt, erläutert Band 3 Lebenssituationen, Krankheitsbilder und Therapiekonzepte.

Jeder Band beginnt mit einem Wegweiser durch die einheitlich strukturierten Bücher. Da Pflege heute nicht nur beruflich, sondern auch informell, d.h. durch Angehörige oder andere Bezugspersonen durchgeführt wird, lernen Auszubildende gleichfalls "Prävention, Beraten und Anleiten zur Weitergabe an Patienten und Angehörige". Rotumrandete, mit "Gesundheitsberatung" gekennzeichnete Kästchen geben diese Tips wieder. Die blauumrandete "Patientensituation" soll dem Schüler ermöglichen, sich in die Situation anderer Menschen hineinzuversetzen und der grünumrandete "Insidertip" birgt konkrete Hinweise und hilfreiche Tips von Pflegenden für Pflegende.

Blaue Textzeilen geben Fakten wieder, die für den Pflegealltag relevant sind und die man sich merken sollte, rote Textzeilen machen auf Fallstricke und mögliche Fehlerquellen aufmerksam. Zahlreiche Tabellen, Grafiken und Fotos sollen das Beschriebene verdeutlichen.

Zum besseren Einprägen befinden sich deutlich sichtbar in einer Randspalte Achtungssätze, die auf Gefahren hinweisen. Zitate verknüpfen Pflege und Alltagswissen, und in Band 2 und 3 werden medizinische Begriffe, orientiert an der ICNP (International Classification of Nursing Practise), übersetzt und ermöglichen es, "nebenbei" Fachenglisch zu lernen.

Am Ende jedes Kapitels befindet sich eine "Schülerseite". Lustige Karrikaturen geben Situationen aus dem Pflegealltag wieder und binden so die Aufmerksamkeit des Lernenden. Hier kann Gelerntes überprüft werden, dem Schüler werden für die Medizin bedeutende Persönlichkeiten vorgestellt, er erfährt etwas über Pflegerecht und bekommt Selbsterfahrungsübungen vorgestellt u.v.m. Lehrende erhalten Anregungen zur Unterrichtsgestaltung z.B. durch Aufgabenstellungen für Gruppen- oder Projektarbeiten.

Die Seiten sind zusätzlich zu einem Blattreiter in der oberen rechten Ecke mit der Kapitelnummer versehen. Beides ermöglicht ein schnelles Nachschlagen.

Neben dem Inhaltsverzeichnis am Anfang des Buches finden sich am Ende ein Stichwortverzeichnis sowie ein Serviceteil, der über unterschiedlichste Pflegeorganisationen Aufschluß gibt.

Band 1 endet mit dem Hinweis:

Dokumentation ist alles, ohne Dokumentation ist alles nichts, denn: Nicht dokumentiert heißt nicht gemacht (Buchdeckel Innenrückseite)

Die Dokumentation wie auch die Fortbildung sind heute Pflicht in der Pflege.

Paragraph 3 des Kranken- und Altenpflegegesetzes fordert die umfassende und geplante Pflege von Patienten. (ebd.)

Diese muß dokumentiert sein unter anderem

Zur Nachweisbarkeit und Abrechnung erbrachter Leistungen sowie zur Qualitätsicherung (ebd.).

Sie dient folglich der Kontrolle durch die Verwaltungsorgane. Ebenso fordert der DBfK (Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe) seit 1992

Die/der Altenpflegerin/Altenpfleger, Kinderkrankenschwester /Kinderkrankenpfleger, Krankenschwester/Krankenpfleger ist verpflichtet, sich regelmäßig fortzubilden und sich dabei über die für ihre/seine Berufsausbildung jeweils geltenden Bestimmungen zu unterrichten. Es sind pro Jahr mindestens 20 Stunden berufliche Fortbildung nachzuweisen. (S. 576 "Lebenslang lernen")

Beide, Dokumentation (die nach heutigen Erfordernissen viel Zeit kostet und unbezweifelbar zu Lasten der Pflege geht) und Fortbildung (die unbezahlte Arbeitszeit ist und damit zu Lasten des Pflegenden geht), sind für die Gewährleistung eines wirtschaftlichen Arbeitens unumgänglich. Doch die verheerenden Zustände in vielen Pflegeeinrichtungen zeigen deutlich, daß Wirtschaftlichkeit in der Pflege, in dem Maße wie sie heute gefordert und durchgesetzt wird, unvereinbar ist mit der Wahrung der Menschenwürde.

Das hier nun zitierte afrikanische Gebet dürfte jeden Pflegenden bei seinem Anspruch packen. Es ist einfach zu verstehen und zeigt die Dankbarkeit eines Menschen, der verständnisvolle Unterstützung erfahren hat. Es macht jede Lehre von einem ethischen Kodex überflüssig:

Selig, die Verständnis zeigen für meinen stolpernden Fuß und meine lahmende Hand. Selig, die begreifen, daß mein Ohr sich anstrengen muß, um alles aufzunehmen, was man zu mir spricht. Selig, die zu wissen scheinen, daß meine Augen trübe und meine Gedanken träge geworden sind. Selig, die mit freundlichem Lächeln verweilen, um ein wenig mit mir zu plaudern. Selig, die niemals sagen: Diese Geschichte hast du mir heute schon zweimal erzählt. Selig, die es verstehen, Erinnerungen an frühere Zeiten in mir wachzurufen. Selig, die mich erfahren lassen, daß ich geliebt, geachtet und nicht allein gelassen bin. Selig, die in ihrer Güte die Tage, die mir noch bleiben auf dem Weg in die ewige Heimat, erleichtern.

27.11.06


Annette Heuwinkel-Otter
Anke Nümann-Dulke
Norbert Matscheko
Menschen pflegen
Band 1
Pflegeprinzipien
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