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REZENSION/470: Domenico Losurdo - Kampf um die Geschichte (SB)


Domenico Losurdo


Kampf um die Geschichte

Der historische Revisionismus und seine Mythen -

Nolte, Furet und die anderen


Wie Domenico Losurdo bereits im Titel seines Buches "Kampf um die Geschichte" hervorhebt, kann von einer objektiven, einheitlichen und unveränderlichen historischen Faktenlage keine Rede sein. Als Marxist geht der italienische Publizist und Professor für Philosophie an der Universität Urbino nicht nur von einer Entfaltung und Zuspitzung gesellschaftlicher Widersprüche aus, die sich im Entwicklungsverlauf menschlicher Geschichte niederschlagen, sondern faßt auch die Geschichtswissenschaft als Feld derselben Auseinandersetzung auf, das von den Protagonisten der widerstreitenden Lager und Fraktionen heftig umkämpft ist. Das von Historikern und Politikern gern kolportierte geflügelte Wort, nur wer aus der Vergangenheit lerne, könne die Zukunft angemessen gestalten, ist in seiner Beliebigkeit nicht nur eine Binsenweisheit, sondern mehr noch eine Verschleierung des grundsätzlichen Umstands, daß Geschichte von den Siegern geschrieben wird und eine andere demzufolge nicht existiert, es sei denn, sie wird gegen die vorherrschende durchgesetzt. Wenn also von einem Kampf um die Geschichte die Rede ist, gilt das durchaus in einem doppelten Sinn: Die Interpretationsgewalt korrespondiert zwangsläufig mit den Herrschaftsverhältnissen, zu deren Stabilisierung und Perpetuierung sie maßgeblich beiträgt, weshalb das Ringen um die Veränderung dieser Verhältnisse nicht von dem um die Erkenntnis historischer Prozesse zu trennen ist.

Geschichte ist mitnichten eine langweilige Rumpelkammer verstaubter Ereignisse der Vergangenheit, sondern vielmehr eine Sphäre, die beständig sortiert und nicht selten sogar neu konstruiert wird. Entgegen landläufiger Annahme kann es sich bei der Dokumentation eines Geschehens selbst bei bester Quellenlage niemals um eine vollständige und gewissermaßen identische Abbildung und Archivierung, sondern immer nur um einen Nachvollzug handeln, der auf Grundlage der jeweiligen Interessen und Möglichkeiten die ihm gemäße Deutung vornimmt. Da man es also mit Interpretationen zu tun hat, sind nachträgliche Veränderungen derselben nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Im gängigen Wissenschaftsbetrieb gilt das in gewissem Umfang als normaler und durchaus gewünschter Zustand, von dem man sich fortgesetzten Erkenntnisgewinn bis hin zur Umwälzung kompletter Theoriegebäude verspricht. Was Losurdo im Untertitel "Der historische Revisionismus und seine Mythen - Nolte, Furet und die anderen" anspricht, geht jedoch weit über den üblichen Streit unter Experten hinaus. Hier ist die Rede von einer großangelegten Umdeutung ganzer Epochen samt der Implementierung zugehöriger Denkansätze, die als neu definierte historische Wahrheit verankert werden.

So folgte dem Sieg des Westens im Kalten Krieg der Sieg des historischen Revisionismus in der Geschichtsbetrachtung, der dem politischen und wirtschaftlichen Zusammenbruch des bezwungenen Lagers die Aberkennung seines Gesellschaftsmodells und Entwicklungsentwurfs als konkurrierende Denk- und Handlungsmöglichkeit folgen ließ. Soweit es sich um die Entscheidung im Kampf der Systeme handelte, blieb die ideelle Existenz des unterlegenen Ansatzes ein Stachel im Fleisch des Siegers, der eine Wiederkehr des totgesagten Rivalen nie gänzlich ausschließen konnte. Dem Bestreben, den Triumph unumkehrbar zu verfestigen, entsprang die weitreichende Diskreditierung der gegnerischen Interessenlage samt einer Aufwertung der eigenen Position zu einem unanfechtbaren Konstrukt übergeordneter Gültigkeit.

Hier treffen wir wiederum die Abwertung und Diffamierung des Gegners sowohl in seiner physischen und gesellschaftlichen Existenz, als auch im Kontext seiner Interessen und Zielsetzungen. Beides muß nicht zwangsläufig im Gleichschritt erfolgen, entspringt aber derselben Herkunft, die grundsätzliche Überlegenheit der eigenen Position zu postulieren und die gegnerische unter das Niveau mitmenschlichen Umgangs und vernünftigen Denkens zu drücken. Der buchstäblichen Vernichtung des Feindes sind gewisse Grenzen gesetzt, die nur dann auf breiter Front entfallen, wenn man ihn nicht länger als seinesgleichen definiert und wahrnimmt. Wie Losurdo darlegt, folgte die in ihrem Ausmaß beispiellose Ausrottung eingeborener Völker durch die Kolonialmächte weit enthemmterer Grausamkeit und Schrankenlosigkeit als innereuropäische Kriege derselben Epoche, die demgegenüber den Charakter von Bürgerkriegen aufwiesen, auch wenn der Konflikt zwischen verfeindeten Nationalstaaten ausgetragen wurde. Beim "Wilden" handelte es sich aus imperialistischer Sicht um ein Wesen zwischen Mensch und Tier oder zumindest einen barbarischen Untermenschen, dessen Vernichtung unter religiösen, moralischen, ethischen und politischen Gesichtspunkten nicht mit der eines Christenmenschen zu vergleichen, ja zur Wohlfahrt des letzteren sogar geboten war.

Im selben Maße, wie man dem Feind den Status des menschlichen Wesens aberkennt, um ihn skrupellos niederzumachen, entkleidet man sein Denken der Vernunft, um es zu einem bloßen Instinkt, einer blinden Raserei oder einer wesenhaften Verschlagenheit und Bosheit zu degradieren. Was Losurdo am Ausbeutungs- und Vernichtungsfeldzug der Kolonialherrn herausarbeitet, verortet er auch im strategischen Entwurf des Lebensraums im Osten, den sich das nazistische Deutschland auf seine Fahnen geschrieben hatte, und insbesondere den Feldzug gegen den Bolschewismus und die Judenvernichtung. So beruft sich die nationalsozialistische Ideologie explizit auf das koloniale Streben anderer Mächte wie auch die Massenvernichtung etwa der Armenier, nach der wenige Jahre später kein Hahn mehr krähe. Auch verknüpft sie den Bolschewismus mit dem Judentum zu einer Bedrohung durch "Horden aus dem Osten", deren Verdrängung und Vernichtung ein Gebot gesunden Selbsterhaltungstriebs sei. Es handelt sich bei dem proklamierten totalen Krieg gegen die Sowjetunion um die Eroberung eines Staates und zugleich die Vernichtung einer Ideologie, wofür ein Rassen- und Kolonialkrieg geführt wurde, indem man die Verbindung zwischen "jüdischer Intelligenz" und "slawischem Untermenschentum" als Feindbild schuf.

Losurdo leistet eine scharfe Kritik am Geschichtsbild und den Grundbegriffen der modernen Gegenaufklärung, indem er die koloniale Tradition zum Ausgangspunkt nimmt und die neuere Geschichte in einen seither ungebrochenen Zusammenhang der Herrschaft stellt. Auf diese Weise gelingt es ihm, die andernfalls isolierten und aus sich heraus nicht angemessen zu entschlüsselnden historischen Phänomene und Verläufe zu verknüpfen und hinsichtlich ihrer Herkunft und Dynamik zu entmystifizieren. Er bedient sich durchgängig des Bildes vom Zweiten Dreißigjährigen Krieg, wie ihn auch andere Historiker für die Periode der tiefgreifenden Umwälzungen zwischen 1914 und 1945 verwenden. Seines Erachtens sind zwei Hauptmomente konstituierend für diese historische Epoche, nämlich der Kolonialismus als gemeinsames europäisches Phänomen der Neuzeit und die Erfahrung des totalen Krieges, die bei allen Beteiligten weitreichende Konsequenzen zur Folge haben.

Vor allem aber hebelt Losurdo den historischen Revisionismus in der Geschichtsbetrachtung aus, der sich mit Namen wie François Furet, Andreas Hillgruber, Ernst Nolte oder Carl Schmitt verbindet. Ihnen gemeinsam ist die Verdrängung der kolonialen Tradition mit ihren beispiellosen Greueln, die in die erbitterte Rivalität der Großmächte und die beiden Weltkriege mündete, die Verklärung des angeblich liberalen Westens und die Dämonisierung der Revolutionen von 1789 bis 1917. Die Revisionisten schrieben Geschichte buchstäblich um, indem sie das Element des Widerspruchs in seiner entwickelten Gestalt der gesellschaftlichen Umwälzung systematisch abqualifizierten und ihm den Charakter eines Gegenentwurfs absprachen. Die bitteren Früchte einer solchen Revision bekommen wir allenthalben zu schmecken, wenn beispielsweise die jüngere deutsche Geschichte binnen ein bis zwei Jahrzehnten mitunter bis zur Unkenntlichkeit verzerrt wird.

Es macht die Stärke dieses Buches aus, daß Losurdo einen großen Bogen über zwei Jahrhunderte schlägt und die Entwicklung seit den Kolonialzeiten bis in die Gegenwart in ihren wegweisenden Etappen in einen Zusammenhang bringt, der maßgebliche Widersprüche nicht verschleiert, sondern im Gegenteil prägnant herausarbeitet. Im Zuge der Diskussion seiner Thesen greift er auf reichhaltiges Quellenmaterial zurück, wobei ihm das Kunststück gelingt, ein wissenschaftlich fundiertes Werk vorzulegen, bei dem das anspruchsvolle inhaltliche Niveau und das Lesevergnügen einander nicht ausschließen. Geht man der Frage nach, mit welchen Mitteln der Autor dies bewerkstelligt, trifft man neben überraschenden Thesen vor allem auf eine entschiedene Positionierung Losurdos, die der Verwässerung, Verdrehung und Verfälschung mit einer Forschung und Analyse entgegentritt, die angesichts einer Geschichte von Ausbeutung, Unterdrückung und Drangsalierung Partei ergreift, ohne pathetisch zu werden. Die Argumentation verzichtet auf Parolen, Appelle und Konsenssuche, da sie solcher Versatzstücke mangelnder inhaltlicher Überzeugungskraft nicht bedarf.

Das 1996 und in Neuauflage 2002 in Italien erschienene "Il revisionismo storico. Problemi e miti" wurde 2007 in deutscher Übersetzung unter dem Titel "Kampf um die Geschichte. Der historische Revisionismus und seine Mythen - Nolte, Furet und die anderen" veröffentlicht.

Domenico Losurdo ist neben seiner Tätigkeit als Publizist und Professor für Philosophie auch Präsident der Internationalen Gesellschaft für dialektisches Denken. Zusammen mit Hans Heinz Holz gibt er die philosophische Halbjahresschrift Topos heraus. Losurdo trat in den 1960er Jahren der Kommunistischen Partei Italiens bei und wurde nach deren Auflösung im Jahr 1991 Mitglied der Partito della Rifondazione Comunista. Heute gehört er keiner Partei mehr an, tritt aber in seinem umfassenden Schaffen nach wie vor für eine marxistische Position ein.

[Zum Auftritt Domenico Losurdos auf der XIV. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 10. Januar 2009 in Berlin siehe INFOPOOL - POLITIK - REPORT:BERICHT/010]

6. März 2009


Domenico Losurdo
Kampf um die Geschichte
PapyRossa Verlag, Köln 2007
304 S., 17,90 Euro
ISBN 978-3-89438-365-7