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REZENSION/498: Dominic Streatfeild - Gehirnwäsche (SB)


Dominic Streatfeild


Gehirnwäsche

Die geheime Geschichte der Gedankenkontrolle



Die sogenannte Gehirnwäsche ist mehr als fünfzig Jahre nach ihrem erstmaligen Erscheinen während des Koreakrieges 1951-1953 weiterhin ein beliebtes Motiv der Populärkultur, wie die gefeierten US-Fernsehserien "Alias - Die Agentin" von J. J. "Lost" Abrams und "Dollhouse" vom "Buffy"-Schöpfer Joss Whedon zeigen. Die Faszination des Motivs Gehirnwäsche hängt nicht zuletzt mit der Tatsache zusammen, daß dieser Begriff benutzt wird, um Phänomene zu erklären, die wie das der Selbstmordattentäter oder das der Anziehungskraft marginaler religiöser Gruppierungen auf junge Menschen zu verstehen, vielen Menschen zu mühselig oder kompliziert ist. In "Gehirnwäsche" setzt sich der britische Autor Dominic Streatfeild umfassend mit der "geheimen Geschichte der Gedankenkontrolle" auseinander. Obwohl das Buch akribisch recherchiert ist, liest es sich fast wie ein hochspannender Agentenroman, weswegen es 2007 in Großbritannien nur ganz knapp den mit 30.000 Pfund Sterling dotierten Samuel-Johnson-Preis für das Sachbuch des Jahres verpaßt hat.

Tatsächlich spielen die Geheimdienste in der vorliegenden Lektüre eine führende Rolle. Mit dem Schreckgespenst der "Gehirnwäsche" wurde auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges der Kommunismus zur totalitären, nicht nur freiheit-, sondern auch willensberaubenden Bedrohung aufgebauscht, während man gleichzeitig eine Erklärung für den Umstand präsentieren konnte, warum eine Reihe von Offizieren der US-Luftwaffe nach dem Abschuß ihrer Maschinen und der Gefangennahme durch die Nordkoreaner öffentlich eingestanden hatten, biologische Waffen über dem Nordteil der koreanischen Halbinsel ausgesetzt zu haben. Es deutet auf die Brisanz dieses Vorwurfs, den die USA bis heute bestreiten, hin, daß auch der um größte Objektivität bemühte Streatfeild die Streitkräfte Washingtons in diesem Zusammenhang kategorisch von jedem Verdacht freispricht, obwohl es inzwischen zahlreiche handfeste Beweise dafür gibt, daß die Amerikaner im Koreakrieg tatsächlich von jenen Kenntnissen zu profitieren suchten, die sie aus den grausamen Menschenexperimenten gewonnen hatten, die der japanische "Mengele" Dr. Shiro Ishii während des Zweiten Weltkrieges in China durchgeführt hatte.

Ähnlich verhielt es sich beim Umgang der USA mit Ergebnissen, welche die vom Rassenwahn angetriebenen Nazis aufgrund der kriminellen Forschung an den Insassen der Konzentrationslager vorzuweisen hatten. Aus jenem blutgetränkten Wissensschatz entstanden die großangelegten, aber gleichzeitig strenggeheimen CIA-Programme der Erkundung neuer Möglichkeiten der Verhaltensmodifikation - Bluebird, Artichoke und MK-ULTRA -, die nach ihrem Bekanntwerden in den siebziger Jahren für eine heftige Kontroverse sorgten, die bis heute nicht abgeklungen ist. Dies erklärt vielleicht, warum Streatfeild im Fall des berühmtesten Opfers besagter Programme, Dr. Frank Olson, den offiziellen Standpunkt der US-Regierung übernimmt. Demnach hat sich Olson am 28. November 1953 in geistiger Umnachtung, die darauf zurückzuführen war, daß sein Vorgesetzter Dr. Sidney Gottlieb, der Leiter des MK-ULTRA-Programms, ihm wenige Tage zuvor LSD in einem Getränk verabreicht hatte, aus dem Fenster im dreizehnten Stock des New Yorker Hotels Statler geworfen und damit selbst umgebracht. Zahlreiche Indizien, darunter diverse Zeugenaussagen und eine nachträgliche, unabhängige, auf Wunsch der Ehefrau und der Söhne an der Leiche durchgeführte Obduktion, deuten darauf hin, daß der Biowaffenexperte auf einer Reise nach Europa einigen "tödlichen Experimenten" der CIA an gefangenen Ex-SS-Männern und norwegischen Kollaborateuren des Zweiten Weltkrieges beigewohnt hatte, das Erlebte mit seinem Gewissen nicht in Einklang bringen konnte und deshalb als potentielles Sicherheitsrisiko beseitigt wurde.

Bei der Recherche für sein Buch hat Streatfeild mit recht vielen ehemaligen Geheimdienstlern und Militärs in den USA, Kanada und Großbritannien gesprochen, weshalb man an manchen Stellen den Eindruck bekommt, er nimmt ihnen all ihrer Rationalisierungen ab. Nichtsdestotrotz sind die Grausamkeiten, die er freilegt und anprangert - darunter Gehirnwäsche-Experimente der CIA und des MI5 an Gefängnisinsassen sowie Patienten bestimmter Kliniken, die Anwendung von Foltermethoden an mutmaßlichen Sympathisanten und Mitgliedern der IRA durch die britische Armee während der "Troubles" in Nordirland -, alptraumartig genug. Gerade in den Mißhandlungen in Nordirland, welche dem "Mutterland der Demokratie" 1975 eine hochpeinliche Verurteilung durch den europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Strasbourg bescherten, sieht Streatfeild die Vorläufer jener "verschärften Vernehmungsmethoden", die George W. Bush und Dick Cheney nach den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 für gefangengenommene, mutmaßliche "Terroristen" aus dem Dunstkreis Osama Bin Ladens angeordnet haben und die dem Ansehen Amerikas und des Westens in der muslimischen Welt bis heute schwer schaden. Nicht umsonst wirft Streatfeild den neokonservativen Befürwortern eines "Kampfes der Kulturen" zwischen dem jüdisch-christlichen Westen und dem "militanten" Islam vor, selbst Anhänger eines "Anti-Terror-Kults" zu sein.

Am Ende gelangt Streatfeild zu dem Schluß, daß es die Gehirnwäsche oder die Gedankenkontrolle, deren Existenz einst von den Kalten Kriegern postuliert wurde respektive von den sogenannten Sektenjägern heute noch wird, nicht gibt, sondern lediglich verschiedenste Variationen der Menschenbeeinflussung. Genauso sehen es auch die meisten Wissenschaftler. Zwar kann man mit brutalen Methoden wie der Verabreichung von Drogen, der körperlichen Züchtigung, dem Reiz- und Schlafentzug sowie dem Einsatz von Elektroschocks Menschen schwer schaden, sie um ihre Erinnerungen ganz oder teilweise bringen und sie sogar seelisch brechen, doch niemals wird man sie zu einem willenlosen Befehlsempfänger machen können, der ähnlich dem Klischee vom "mandschurischen Kandidaten" nach Erhalt einer Anweisung politische Morde begeht und nach der Verhaftung keinerlei Erinnerungen an die Identität seiner Auftraggeber hat.

28. Oktober 2009


Dominic Streatfeild
Gehirnwäsche
Die geheime Geschichte der Gedankenkontrolle
(Übersetzt aus dem Original "Brainwashed" von Andreas Simon de Santos)
Zweittausendeins, Frankfurt am Main, 2008
455 Seiten
ISBN-13: 978-3-96150-876-2