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REZENSION/500: Jean Ziegler - Der Haß auf den Westen (Weltpolitik) (SB)


Jean Ziegler


Der Hass auf den Westen

Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren



Das unlängst im Verlag C. Bertelsmann in zweiter Auflage erschienene Buch des Schweizer Globalisierungskritikers, Politikers und Soziologen Jean Ziegler, "Der Hass auf den Westen. Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren", ist überaus empfehlenswert, weil es in bestechender Deutlichkeit Aufschluß gibt über gegenregulative Konzeptionen und Bestrebungen, mit denen die durch die emanzipatorischen Entwicklungen in den ehemals kolonialisierten Kontinenten in Frage gestellte westliche Hegemonie zum Zwecke ihres Erhalts modifiziert werden soll. Dies mag überraschend erscheinen, zumal der Buchtitel eine Parteinahme des ob seiner globalisierungskritischen Thesen in der westlichen Welt durchaus angefeindeten Autors für eine fundamentale Befreiung der Völker des Südens sowie dessen Forderung nach einer dementsprechenden Zäsur des Westens vermuten läßt.

Eine Parteilichkeit für die Belange der "armen Völker" ist dem Autor, der 1934 als Hans Ziegler in Thun/Schweiz geboren wurde, von 1967 bis 1983 und von 1987 bis 1999 für die Sozialdemokratische Partei als Abgeordneter im Nationalrat und von 2000 bis 2008 als UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung im Auftrag der Menschenrechtskommission und später des Menschenrechtsrats tätig war, keineswegs abzusprechen. Vor dem Hintergrund des just beendeten Welternährungsgipfels in Rom, auf dem rund 60 Staats- und Regierungschefs bzw. -repräsentanten zusammengekommen sind, um den angesichts des täglichen Hungers und Hungertodes womöglich in vielen Teilen der Welt drohenden Armutsrevolten durch die Wiederauffrischung eigentlich längst entlarvter Hilfsversprechen zuvorzukommen, nimmt sich Zieglers Standpunkt sehr wohl positiv aus. In einem kürzlich in dem Onlinemagazin telepolis veröffentlichten Interview [1] führte der Autor aus, wieso und inwiefern der heutige Hunger entgegen der in der westlichen Welt buchstäblich vorherrschenden Meinung eine grausame Realität einer keineswegs beendeten Kolonialgeschichte darstellt:

Ende des 15. Jahrhunderts, als die Erde rund geworden ist, nach der vierten Reise von Kolumbus, findet der Genozid in Lateinamerika statt. Dann gab es 350 Jahre Sklavenhandel, dann 150 Jahre lang die Kolonialmassaker und die Territorialbesetzung. Heute gibt es die Tyrannei des globalisierten Finanzkapitals. (...) Diese Finanzdiktatur wird von den südlichen Völkern als letzte Etappe der Ausbeutung und Unterdrückungsstrategie des Westens gesehen. Die Sklavenhalter sitzen heute in den Börsen, bestimmen die Rohstoffpreise durch Spekulation und sind - wenn auch der Allgemeinheit nicht sichtbar - verantwortlich für den Hunger hunderttausender Menschen. (...) Es gibt heute kein Schicksal mehr. Ein Kind, das jetzt, während wir reden, an Hunger stirbt, wird ermordet.

Worte, die eigentlich an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen, wenn auch die "südlichen Völker" in seinem Werk keineswegs als Ansprechpartner, sondern als Objekte zugeneigter Betrachtung in Erscheinung treten. Eine der Kernthesen, die Ziegler in "Der Hass auf den Westen" vertritt, ist die Unterscheidung zwischen vernunftgeleitetem und pathologischem Haß, wobei der Autor mit irritierender Selbstverständlichkeit im Namen der westlichen Welt, der er wie auch die Mehrheit seiner potentiellen Leser fraglos zuzurechnen sind, die Unterscheidungskompetenz in dieser keineswegs unerheblichen Frage beansprucht. Im Buchrückentext wird sogar behauptet, Ziegler würde "uns" lehren, "die Werte und die Weltherrschaft des Westens mit den Augen der Völker des Südens zu sehen". Weiter heißt es dort:

Nur wenn wir verstehen, welche traumatischen Verletzungen Kolonialismus, Sklaverei und Ausbeutung, gepaart mit Arroganz und moralischer Überheblichkeit, im kollektiven Bewußtsein dieser Völker hinterlassen haben, werden wir in der Lage sein, den daraus resultierenden Hass, der dem Westen entgegenschlägt, durch konkretes Handeln zu überwinden.

Nicht von ungefähr wird an dieser Stelle der gegenwärtige tagtägliche Raub zulasten "dieser Völker" vernachlässigt. Um nicht den mörderischen Krieg, der zwischen dem reichen Norden, der sämtliche Gewaltmittel und Verfügungsoptionen in seinen Händen hält, und der zunehmend hungernden Weltbevölkerung um die endlichen und keineswegs ausreichend vorhandenen Überlebensressourcen längst entbrannt ist, zu thematisieren, wird dieser Konflikt auf die Ebene der ihn fraglos begleitenden Gefühlswelten verlagert. Traumatische Verletzungen, verstärkt durch Arroganz und Überheblichkeit, hätten demnach einen Haß hervorgerufen, "der dem Westen entgegenschlägt" und den es "durch konkretes Handeln zu überwinden" gelte. Wenn im Verhältnis zwischen dem Westen und dem Süden etwas "schlägt", dann ist es nicht die Wut der hungernden Völker, sondern die von Ziegler als "strukturelle Gewalt" bezeichnete "'unsichtbare Hand' des Marktes" (S. 85).

Es muß allerdings Gründe dafür geben, warum Ziegler nicht den von ihm als Mord bezeichneten Hungertod jedes einzelnen Kindes zum primären Thema seines Buches inklusive des Titels erhoben hat, sondern den "Hass auf den Westen". Was eigentlich wäre denn nun, laut Ziegler, das primäre Problem: Der Hunger bzw. das Verhungernlassen von Millionen Menschen oder deren tatsächliche oder auch nur potentielle Gegenwehr? Ziegler bezeichnet, völlig zu Recht, die "gegenwärtige globalisierte Ordnung des westlichen Finanzkapitals mit seinen Söldnern der Welthandelsorganisation, des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank, den transkontinentalen Privatunternehmen und der neoliberalen Ideologie" als das "letzte und bei Weitem mörderischste der Unterdrückungssysteme, die im Laufe der vergangenen fünf Jahrhunderte vom Westen errichtet wurden" (S. 84). Doch welche Konsequenzen und Schlußfolgerungen zieht der Autor aus dieser Bewertung, der er die Worte "aus Sicht der südlichen Völker" hinzufügt, was zumindest sprachlogisch die Frage aufwirft, ob und inwiefern er selbst diese Radikalkritik teilt?

Ziegler stellt die Behauptung auf, "das Gedächtnis der südlichen Völker" würde sich "im offenen Krieg mit dem Westen" (S. 57) befinden. Dies ist erklärungsbedürftig, denn wie sollte ein Gedächtnis überhaupt Krieg führen können... Die Thesen des 1877 geborenen französischen Philosophen und Soziologen Maurice Halbwachs, der in seinem Werk die These von einem "kollektiven Gedächtnis" mitgeprägt hat und die Übertragung von erlebten Schockzuständen und durch äußere Gewalt hervorgerufenem lähmenden Schrecken von Individuen auf menschliche Gesellschaften konzipiert hat, wendet Ziegler auf sein Thema an um zu erklären, warum nach angeblich so langer Zeit - schließlich liegen Sklaverei, Kolonialzeit und Ausbeutung nach herrschender Meinung lange zurück - ein Aufbegehren der Völker der ehemals kolonialisierten Kontinente festzustellen ist. "Je traumatischer ein Ereignis für eine Gesellschaft ist, desto tiefer vergräbt diese es in ihrem Gedächtnis" (S. 28), so Ziegler.

Über diese Thesen ließe sich streiten. Anstatt Anleihen zu nehmen an Postulaten anderer Wissenschaftsdisziplinen, könnte die Grundannahme, nämlich daß das von Ziegler nicht ohne Sorge festgestellte neue Selbstbewußtsein der Völker des Südens mit erheblicher Zeitverzögerung hervorgebrochen sei, in Frage gestellt und durch die Annahme ersetzt werden, daß der (potentielle) Widerstand aus der heutigen, unmittelbaren Not geboren ist und keiner zusätzlichen historischen Herleitung bedarf. Mit anderen Worten: Wäre die Unterdrückung des Südens durch den Westen und damit die ehemaligen Kolonialmächte tatsächlich beendet und nicht, wie Ziegler in seinem Buch begrüßenswerterweise klarstellt, in ein noch mörderischeres Unterdrückungssystem übergeführt worden, würde es wohl kaum zu einem Aufbegehren gegen Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte zuvor erlittenes Unrecht kommen.

Der Verdacht, daß der renommierte Schweizer Globalisierungskritiker bei aller Offenheit für die extremen Überlebensnöte der südlichen Völker und seiner Bereitschaft, interessierten westlichen Lesern nicht nur deren materielle Lage, sondern auch deren Gefühlswelten durch eine "aus ihrer Sicht" erfolgte Darstellung näherzubringen, unterm Strich doch nicht die Fronten wechselt, wird an vielen Stellen des Buches erhärtet. In folgender Textpassage beispielsweise nimmt Ziegler unter Bezugnahme auf die ehemalige UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Mary Robinson und den früheren UN-Generalsekretär Kofi Annan eine Umlastung der Verantwortung zuungunsten der "südlichen Völker" vor (S. 57):

Zwei führende Politiker von außerordentlichter Hellsichtigkeit haben begriffen, welche Gefahr in diesem "Krieg der Erinnerungen" liegt - Mary Robinson und Kofi Annan. Beiden ist bewusst geworden, dass dieser - wenn auch noch so berechtigte - Hass der südlichen Völker auf den Westen langsam die internationale Gemeinschaft zerstört, die Hoffnung zunichte macht, dass die Vereinten Nationen endlich ihren Platz auf der internationalen Bühne einnehmen und die Lösung praktisch aller gemeinsamen Probleme der Menschheit zunichte macht: Überrüstung, nukleare Bedrohung, Hunger, Aids, Wassermangel, fortschreitende Versteppung, ständige Regionalkriege, Inbesitznahme der meisten Ressourcen durch kleine, jeder Kontrolle entzogene Oligarchien.

Und doch macht sich Ziegler, dieser Eindruck drängt sich auf, zum Fürsprecher einer tatsächlichen Emanzipation des Südens und scheut auch nicht davor zurück, seiner eigenen Welt die Leviten zu lesen. Er spart nicht mit (selbst-) kritischen Worten, gerichtet an die Adresse des Westens und namentlich ihre politischen Führer, die er in seinem Buch aufs Anschaulichste der Doppelzüngigkeit, Arroganz und Ignoranz bezichtigt. So führt er beispielsweise aus, daß der von ihm zum primären Problem erklärte "Hass auf den Westen" nicht zuletzt aus dem Allmachtsanspruch des Westens resultiert (S. 23):

Zum einen behaupten die Herrscher der euro-atlantischen Welt, weltweit die "Menschenrechte" und die von ihnen "Demokratie" genannte Staatsform zu verteidigen und - notfalls - durchzusetzen. Der behauptete Universalismus ihrer Herkunftskultur veranlasst sie logischerweise zur Ablehnung und Negation aller anderen Kulturen und Zivilisationsformen. Auch wenn sie ihnen heute ein (exotisches, folkloristisches) Existenzrecht zubilligen, nehmen sie sie nicht ernst, falls sie mit anderen wirtschaftlichen Produktionsweisen einhergehen. Die Führer des Westens postulieren die Existenz "unwandelbarer", "wissenschaftlicher" Marktgesetze, ähnlich den "Naturgesetzen". Wenn sich also die nicht westlichen Völker "entwickeln" wollen, haben sie keine andere Möglichkeit, als sich diesen Gesetzen zu unterwerfen.

Dieser Anspruch schürt den Hass. Doch der Hass, um den es hier geht, ist kalt und rational. In ihm äußert sich die radikale Ablehnung eines globalen Herrschaftssystems und eines totalitären Geschichtsbilds - beide vom Westen aufgezwungen. Und er manifestiert sich in Widerstandshandlungen, als Forderung nach Reue und Erinnerung. Kurzum, dieser Hass nährt heute eine ethische, radikale, definitive Revolte, die so affektiv wie ökonomisch und politisch ist.

In westlichen Ländern und insbesondere auch in seinem Heimatland wird Ziegler zum Teil heftig angefeindet und als "Nestbeschmutzer" diffamiert. Er wurde am 26. März 2008 gegen den Widerstand der USA in den Beratenden Ausschuß des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen gewählt, nachdem er zuvor lange Jahre, von 2000 bis 2008, als UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung tätig gewesen war. Ziegler ist ein, wenn auch kritischer, Repräsentant der westlichen Welt und an der Durchsetzung ihres Hegemonialanspruchs durchaus beteiligt. Er kritisiert die anmaßende Haltung westlicher Botschafter gegenüber den Repräsentanten der übrigen Kontinente, so beispielsweise in einem zu dem Buch geführten Interview [1]:

Ich komme gerade aus der Generalversammlung der Vereinten Nationen aus New York. Jeder westliche Botschafter, so klug, so subtil und so kultiviert er ist, wenn er redet, redet im Namen der Menschheit, der universellen Werte, und gibt seine Belehrungen an die Völker Lateinamerikas, Asiens und Afrikas ab. Das ist fast konsubstanziell dem westlichen Diskurs, und kommt aus dieser totalen Blindheit, weil die materielle Unterdrückung, die vom Westen produziert wird, auch den eigenen Legitimationsdiskurs produziert. Und dies wird heute überhaupt nicht mehr toleriert.

Sein Werk hätte mit Sicherheit eine ungleich größere Wirkung erzielt, wäre es ihm gelungen, an dieser Stelle mit gutem Beispiel voranzugehen und seine eigene Kritik zu beherzigen. Tatsächlich ist er jedoch der Versuchung erlegen, inmitten seines in seinem Buch auf so vielfältige Weise und anhand mannigfaltiger Beispiele veranschaulichten Verständnisses für die im Aufbruch befindlichen Völker der sogenannten Dritten Welt stellvertretend für die von ihm repräsentierte westliche Welt doch wieder den Fuß in die Tür zu stellen. Im fünften Teil des Buches, der exemplarisch für die voranschreitende Emanzipation und Revolte dem lateinamerikanischen Staat Bolivien gewidmet ist, macht er aus seiner solidarischen Haltung gegenüber der Regierung des Indios Evo Morales keinen Hehl. An dieser Stelle läuft ein zweiter Faden mit, macht Ziegler doch unmißverständlich deutlich, daß es seiner Meinung nach auch Grenzen gibt, die die um ihre Eigenständigkeit ringenden Staaten zu berücksichtigen hätten. Ziegler billigt Bolivien wie allen Staaten Lateinamerikas, aber auch Afrikas und Asien, im Grunde nur eine partielle Selbstbestimmung zu, wie seiner am Ende der folgenden Textpassage gestellten Frage zu entnehmen ist (S. 17):

Morales hat einen historischen Bruch mit der kannibalischen Weltordnung vollzogen und dem Westen eine bittere Niederlage zugefügt. Dadurch mobilisiert das neu erwachte Identitätsbewusstsein der Aymaras, Quechuas, Moxos, Guarani die Kraft zum Kampf, zum Widerstand und zu ungeahnten schöpferischen Leistungen. Im fünften Teil werden wir betrachten, wie die bolivianische Renaissance auf den ganzen Kontinent ausstrahlt. Dabei geht es darum, ein genaues Maß anzulegen: Ist die fortwährende Aufwertung indigener Politik und Kultur, geboren aus dem Hass auf den Westen, mit den universellen Rechtsgrundsätzen vereinbar?

Hier erliegt Ziegler der Versuchung, aus westlicher Sicht angeblich "universelle" Rechtsgrundsätze anzuführen, an denen die Politik und Kultur indigener Völker Maß zu nehmen hätten. Im fünften Teil des Buches schildert er ausführlich die kolonialen Kämpfe Boliviens und würdigt vor diesem historischen Hintergrund den in diesem Land mit Morales' Wahlsieg vollzogenen Übergang vom Kolonial- zum Nationalstaat. Dabei fällt allerdings auf, daß er den Begriff "Nationalstaat" überbetont und zugleich die von der führenden westlichen Staatenwelt für historisch überholt erklärte Gesellschaftsutopie "Sozialismus" vernachlässigt, und dies, obwohl die regierende Partei des derzeitigen Präsidenten Boliviens, die "Bewegung zum Sozialismus" (MAS), sich explizit in diese Tradition gestellt hat.

Ziegler nimmt die Rolle eines wohlwollenden westlichen Repräsentanten ein, der die schlimmsten Entuferungen der fundamentalen Raubverhältnisse zwischen dem Westen und dem Süden abgeschliffen sehen möchte, ohne jedoch den imperialistischen Zugriff gänzlich aufgeben zu wollen. Im Verlauf seines Buches stellt sich immer deutlicher heraus, daß seine eigentliche Sorge etwaigen Befreiungs- und Widerstandsbewegungen gilt, die sich in keiner Weise mehr durch westlich dominierte Institutionen einbinden lassen wollen. Am Beispiel Bolivien nimmt Ziegler politische Auseinandersetzungen und Divergenzen, wie sie zwischen verschiedenen Indio-Organisationen bestehen mögen, zum Anlaß oder vielmehr Vorwand, um das Schreckgespenst "Indiofaschismus" an die Wand zu malen. Er doziert, daß das Nationalbewußtsein, das "definitionsgemäß multiethnisch, klassenübergreifend und multikulturell" (S. 224) sei, im krassen Gegensatz zur Mono-Identität stünde.

"Ethnozentrismus, obsessiver Indigenismus, Tribalfanatismus sind die Todfeinde der Nation" (S. 225), verkündet Ziegler, um im nächsten Schritt plausibel zu machen, warum der bolivianische Nationalstaat mit einer "schweren Bedrohung" fertig werden müsse. Damit sind jedoch weder die in seinem Buch zuvor als mörderischstes Unterdrückungssystem bezeichnete neoliberale Weltwirtschaftsordnung, in der sich der junge bolivianische Nationalstaat zu behaupten hat, noch die überaus kampfbereite Tiefland-Oligarchie oder die paramilitärischen, innerhalb Boliviens höchst aktiven Organisationen wie die von Ziegler beschriebene Ustaschi gemeint, deren Mordkomplott gegen Evo Morales im April dieses Jahres von den bolivianischen Sicherheitskräften vereitelt werden konnte. Nein, die schwere Bedrohung oder gar "tödliche Gefahr" (S. 226) für die regierende "Bewegung für den Sozialismus" will Ziegler in der von dem Indioführer Felipe Quispe, einem Aymara wie Morales, angeführten Bewegung Pachakutik ausgemacht haben.

Dem Beispiel Boliviens, so wie Ziegler die dortige Entwicklung darstellen zu können glaubt, hat in seiner Gesamtargumentation durchaus einen zentralen Stellenwert, weil der Autor allem Anschein nach mit ihm plausibel machen möchte, daß eine grenzenlose oder (vom Westen) unkontrollierte Befreiung der ehemals kolonialisierten Völker nicht wünschenswert sei, weil diese zu weit führen könnte. Ziegler führt dazu folgendes aus, wobei er, durchaus bezeichnend, von "zu" langer Demütigung und "zu" grausamem Leid spricht ganz so, als könne es ein akzeptables Maß an Demütigung und Leid geben (S. 233):

Zu lange Demütigung, zu grausames Leid können die Völker in die Arme schlimmer Demagogen treiben. Evo Morales ist sich dieser Gefahr bewußt. Deswegen hatte er auch bei seiner Amtseinführung in Tiwanaku die sofortige Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung angekündigt. Denn er ist überzeugt, dass die Errichtung eines Nationalstaates, eines Rechtsstaates die einzig wirksame Waffe im Kampf gegen den Ethnofanatismus und -tribalismus ist.

Als einen solchen Demagogen sieht Ziegler augenscheinlich Felipe Quispe, bezeichnet er doch an anderer Stelle (S. 251) dessen radikalen Indigenismus als "Ethnofaschismus". Quispe war von 1998 bis 2006 Generalsekretär der Vereinigung der Bolivianischen Landarbeiter (CSUTCB) und unterstützte in dieser Funktion maßgeblich die Aufstände der Jahre 2000 bis 2005, in deren Folge drei Regierungen gestürzt und schließlich der Wahlsieg Morales' errungen werden konnte. Als Kandidat der "Movimento Indígena Pachakuti" erzielte er bei den Präsidentschaftswahlen von 2002 6,1 Prozent der Stimmen. Quispe gilt als harter Kritiker der Regierung Morales. In einem im Herbst 2008 geführten Interview erklärte er auf die Frage, was nach dem Sieg der Regierung bei einem Referendum, bei dem diese eine Zustimmung von fast 90 Prozent auch in den Aymara-Gebieten erzielen konnte, aus dem Automomieprojekt geworden sei [2]:

Man muss sehen, dass nach 500 Jahren zum ersten Mal ein indio regiert. Natürlich keiner, der die Bewegungen für indigene Selbstbestimmung repräsentiert, sondern ein gut gekleideter, moderner und angepasster indio, doch auch so fühlen sich die Menschen zu ihm hingezogen. Vor allem aber sind sie solidarisch mit der Regierung gegen den Osten des Landes, gegen die Großgrundbesitzer, gegen diese Gruppe, die stets die Macht innehatte. In der Kolonialzeit haben deren Großväter gegen unsere Großväter gekämpft, in der Republik ihre Väter gegen unsere Väter, und heute kämpfen ihre Kinder gegen uns. Und ich bin sicher, morgen wird dieser Krieg weiter gehen, unsere Nachfahren gegen ihre Nachfahren. Wir sind Todfeinde und werden es immer bleiben, und diese Idee tragen die Menschen tief in ihren Herzen.

Ziegler hingegen hatte behauptet, die von Quispe angeführte Bewegung sei eine "tödliche Gefahr" für Morales' MAS. In demselben Interview wurde Quispe nach dem "Rassenkampf" gefragt, den die radikale indigene Bewegung Boliviens schon seit den 1950er Jahren propagieren würde. Angesichts des vielfach gegen ihn erhobenen Vorwurfs eines "umgekehrten Rassismus" stellte Quispe klar [2]:

Zuerst einmal muss man sehen, dass wir indios nicht die rassistischen Ausbeuter sind - wir haben keine weißen Hausangestellten, und auch keine weißen Chauffeure. Ich denke, wenn die Weißen die Regeln der indios akzeptieren, wären wir doch verrückt, wenn wir sie umbringen oder ausweisen würden. Wir sind ja weder der Ku-Klux-Clan noch deutsche Nazis, im Gegenteil, wir sind absolut nicht einverstanden mit dieser Art des Denkens. Meiner Meinung nach wäre in diesem 21. Jahrhundert ein "Rassenkampf" in diesem Sinne auch ein politischer Selbstmord. Heute gibt es Menschenrechte und den internationalen Gerichtshof, und was wir tun ist protestieren. Denn es sind jetzt so viele Jahre, von der Kolonialzeit über die Republik bis heute, dass man uns beleidigt, herabsetzt und diskriminiert, das tut schon ein bisschen weh.

Ziegler hingegen spricht vom "Ethnofaschismus" des Felipe Quispe, und das in einem Buch, das vorgeblich der Emanzipation unterdrückter Völker gewidmet ist und plausibel macht, wie begründet der "Hass auf den Westen" ist - wenn es denn ein rationaler und nicht ein pathologischer sei. Selbstverständlich beansprucht Ziegler in diesem Punkt, durchaus stellvertretend für die westliche Klasse, die Definitions- und Deutungshoheit über diese Unterscheidung, und so zieht sich durch sein gesamtes Buch wie ein roter Faden die Bezugnahme auf die fundamentale Letztbegründung der euro-atlantischen Achse für ihre als Antiterrorkampf ausgegebenen Weltordnungskriege, nämlich die Ereignisse des 11. September 2001. Ungeachtet der unzähligen Widersprüche und Ungereimtheiten, die der Plausibilität der zur offiziellen Wahrheit erhobenen Verschwörungstheorie, derzufolge Al Qaida, gesteuert aus den afghanischen Bergen, unter Außerkraftsetzung der US-amerikanischen Luftabwehr folgenreiche Selbstmordattentate verübt habe, entgegenstehen, erklärt Ziegler, es habe sich der "monströse Hass" auf exemplarische Art manifestiert (S. 24).

Selten habe "der pathologische Hass" - und Ziegler spricht ganz gewiß nicht von der mutmaßlichen Beteiligung US-amerikanischer oder/und weiterer Geheimdienste, ohne die 9/11 schlechterdings nicht zu erklären wäre - "in der jüngeren Geschichte so hemmungslos gewütet" (S. 25). Ziegler bezeichnet Al Qaida, eine einst mit Unterstützung der CIA entstandene und inzwischen recht nebulöse Organisation, wie auch salafistische Splittergruppen im Maghreb und die Dschihadisten des Mittleren Ostens als "Wahnwelt", deren gegen die Zivilbevölkerung gerichtete Anschläge ungeheuerlich seien. Mit keinem Wort geht er dabei auf die Feststellungen und Einschätzungen namhafter Kritiker ein, die, wie beispielsweise der Herausgeber der Zeitschrift "Geheim", Michael Opperskalski, in einem bereits 2004 herausgegebenen Buch [3], das Phänomen Al Qaida in einen gänzlich anderen Zusammenhang stellen:

Personen und Organisationen, die an erster Stelle mit Al Qaida identifiziert werden, sind fast ausnahmslos Mosaiksteine, Führungsfiguren, Strandgut oder Randfiguren westlicher Geheimdienstoperationen, die spätestens in den 70er Jahren im Rahmen des so genannten 'Kalten Krieges' angelaufen waren. Ohne ihre Auftraggeber und Ausrüster in den Führungsetagen westlicher Geheimdienste, vor allem der CIA und des MOSSAD, wäre vieles, was heute unter Al Qaida durch die Medien geistert, so nie entstanden. Auch seit dem 11. September sind Teile dieses Netzwerkes noch in diesem Sinne aktiv und werden von westlichen Geheimdiensten im Interesse geostrategischer Schachzüge instrumentalisiert.

Die "Pathologie" der von Ziegler benannten und als "Wahnwelt" dämonisierten Gruppierungen hingegen sei, so seine Argumentation, einem tiefen Leiden entsprungen, dem gleichen Leiden, aus dem der rationale Haß, der zahlreiche Völker des Südens zum Widerstand gegen den Westen aufrufe, hervorgegangen sei (S. 26). Damit versucht der Autor plausibel zu machen, warum ungeachtet der globalen Hungerkatastrophe, von der inzwischen über eine Milliarde Menschen betroffen sind, wegen der vermeintlichen Gefahr eines planetaren Super-Gaus auch die rational hassenden Völker des Südens und mehr noch die in ihnen erwachsenen Widerstandsbewegungen unter Kontrolle zu halten bzw. zu bringen seien.

Wer kann schon absehen, wann und unter welchen Umständen rationaler Haß pathologisch werden könnte? Mit anderen Worten: Auch der moralisch nicht zu beanstandende vernunftgeleitete Haß des Südens, den der arrogante Westen sich laut Ziegler sehr wohl zuzuschreiben hat, stellt in der Quintessenz dieser pseudologischen Argumentation eine immense, um nicht zu sagen die größte Bedrohung für das menschliche Leben auf diesem Planeten dar. Der Autor relativiert seine vordergründige Kritik an der "Arroganz" des Westens und dessen fortgesetzter Ausplünderung der übrigen Kontinente zu Lasten der Länder und Völker des Südens, indem er der Realbedrohung und -belastung, die der reiche Norden völlig ungebrochen für die übrigen Regionen darstellt, ein noch größeres Bedrohungsszenario gegenüberstellt. So verkommen seine mahnenden Worte zu einem Appell für eine "bessere" Kolonialherrschaft, für eine Reformierung eines aus südlicher Sicht möglicherweise vollkommen inakzeptablen Verhältnisses. Ziegler warnt vor dem "krankhaften Hass" mit Worten, die zunächst seine Solidarität mit den Befreiungs- und Emanzipationsbewegungen der Völker des Südens erkennen lassen (S. 263):

Wenn der Westen nicht endlich das Leid der südlichen Völker wahrnimmt, nicht hört, wie ihr Zorn wächst, seine Vorgehensweise nicht radikal ändert, die Wünsche und Entschlossenheit der Unterdrückten nicht berücksichtigt, wird der krankhafte Hass die Oberhand gewinnen.

Schon heute erwägen die NATO-Staaten den Einsatz von Kernwaffen - sogenannter taktischer Bomben - gegen bestimmte Länder, die sich der "Demokratie" und den "Menschenrechten" verweigern.

Jean Ziegler erweist sich an dieser Stelle als Sachwalter und Mahner der westlichen Welt, deren Interessen er doch - unterm Strich gesehen - oberste Priorität einräumt. Gegenüber der Bedrohung einer nuklearen Totalvernichtung, wie Ziegler sie postuliert, erscheinen selbst mögliche Einsätze atomarer Waffen durch die NATO als ein geringfügigeres Übel, zumal diese eben nicht einem "krankhaften Hass" entspringen würden, sondern eine wenn auch furchtbare Option wären, um unser aller Leben zu retten. Dabei baut Ziegler eine in dieses finale Bedrohungsszenario führende Argumentationskette auf, deren einzelne Glieder Stück für Stück auf ihre Plausiblität überprüft werden müßten, um den sich aufdrängenden Verdacht, hier wolle der Autor tiefste Ängste aufrufen, um eine Letztbegründung für den Erhalt des Status Quo zu schaffen, zu widerlegen (S. 264):

Auf dem grauen Markt werden die Kernwaffen gehandelt. Von Männern gekauft und gezündet, die der Hass auf den Westen in den Wahnsinn treibt, können sie für unseren Planeten einen tödlichen Nuklearwinter heraufbeschwören. Etwa 20.000 atomare Sprengköpfe lagern auf unserm Planeten.

Seit der Mitte des letzten Jahrhunderts wird der nukleare Friede durch das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den Atommächten gesichert. Doch diese Gleichgewichtsdoktrin verliert in dem Augenblick jede Bedeutung, wo diese Massenvernichtungsmittel in die Hand von Terrororganisationen fallen. Die Salafisten, al-Qaida und Dschihadisten sowie die anderen von pathologischem Hass getriebenen Bewegungen in Lateinamerika, Asien und Afrika pfeifen auf das Gleichgewicht des Schreckens.

Die von Ziegler mit großem Bedacht gewählte Unterscheidung zwischen krankhaftem und vernunftgeleitetem Haß sucht hier ihre volle Wirkmächtigkeit zu entfalten. Seine eigenen Stellungnahmen gegen den Allmachtsanspruch des Westens, der den Völkern der von ihm kolonialisierten und ausgeplünderten Kontinente noch heute vorschreiben will, was sie zu tun und zu lassen haben, bricht er an dieser Stelle mit der von ihm mit großer Selbstverständlichkeit beanspruchten Kompetenz, über den "Hass auf den Westen" zu befinden und diesen in einen akzeptablen und in einen inakzeptablen Teil auseinanderzudefinieren. Wie ein Damoklesschwert müßte demnach über jeder Bewegung oder jeder Widerstandsorganisation des Südens, die der Vorherrschaft des Westens zu trotzen begonnen hat, das drohende Urteil "von pathologischem Hass getrieben" stehen. Ist dieses erst einmal gefällt, gibt es in der Ideenwelt Zieglers kein Argument mehr gegen die Anwendung verheerendster militärischer Mittel, da diese durch den vorgeblichen Zweck, auf diese Weise eine gegenüber der gesamten Menschheit bestehende tödliche Gefahr vernichten zu wollen, geadelt wäre.

Zudem mißachtet Ziegler vollständig die Bedrohung, die die westlichen Staaten für die sogenannten Schwellen- und Entwicklungsländer allein aufgrund ihrer atomaren Waffen darstellen, obwohl er selbst nicht unerwähnt läßt, daß die NATO den Einsatz taktischer Kernwaffen in Erwägung zieht gegen Staaten, die sich der "Demokratie" und der "Menschenrechte" (so wie der Westen sie definiert, wie hinzuzufügen wäre) widersetzen. Um das entgegengesetzte Schreckensszenario, nämlich die Bedrohung, der sich der atomwaffenstarrende Westen seinerseits durch von pathologischem Haß getriebene Gruppierungen angeblich ausgesetzt sieht, plausibel zu machen, erklärt Ziegler, daß "auf dem grauen Markt" Kernwaffen gehandelt werden und daß es über die im Umlauf befindlichen Atomwaffen "keine Kontrolle mehr" gäbe. Bei 20.000 atomaren Sprengköpfen, die auf dem Planeten lagern, könnte das frühere "Gleichtgewicht des Schreckens" jegliche Bedeutung verlieren, sobald "Massenvernichtungsmittel in die Hand von Terrororganisationen" (S. 264) fallen...

Um diesem Schreckensszenario die allerletzte Würze zu verleihen, bringt Ziegler Bertrand Russell ins Spiel. Dessen am Schluß des gesamten Buches stehende Sätze stammen von der ersten Abrüstungskonferenz nach dem Abwurf der ersten Atombombe auf Hiroshima durch die USA und beeinhalten unter Berufung auf humanitäre Werte einen flammenden Appell gegen Atomwaffen:

Wir wenden uns als Menschen an Menschen: Menschlichkeit und vergesst alles andere! Wenn ihr das könnt, ist der Weg frei für eine neue Gesellschaft. Wenn nicht, droht der universelle Tod.

In dem Kontext des bereits mit dem "Literaturpreis für Menschenrechte" ausgezeichneten Buches "Der Hass auf den Westen" legen die letzten, von vermeintlich drohender allgemeiner Vernichtung kündenden Worte hingegen die Deutung nahe, daß eben dieser Haß das primäre und größte Problem der internationalen Staatenwelt, wenn nicht der Menschheit schlechthin sei. Jean Ziegler zieht an dieser Stelle keine weiteren Schlußfolgerungen. Seinen Lesern allerdings werden seine vorherigen Ausführungen über von "pathologischem Hass" getriebene Bewegungen in Lateinamerika, Asien und Afrika, die auf "das Gleichgewicht des Schreckens pfeifen", noch lange Zeit im Gedächtnis haften bleiben, und so kann dem Autor der Vorwurf nicht erspart bleiben, mit diesem Buch, sollten seine an den Westen gerichteten Appelle für einen humaneren Umgang mit den Völkern des Südens nichts fruchten, den Boden für eine angeblich gegen den universellen Tod gerichtete und deshalb selbst in ihren schlimmsten Formen vermeintlich gerechtfertigte Aufstands- und Widerstandsbekämpfung bereitet zu haben.

Anmerkungen:

[1] "Die Sklavenhalter sitzen heute in den Börsen", Jean Ziegler über sein Buch "Der Hass auf den Westen", Interview von Eren Güvercin, 21.10.2009, telepolis, www.heise.de/tp/r4/artikel/31/31335/1.html

[2] "Wir sind Todfeinde und werden es immer bleiben", Interview mit dem radikalen Indígena-Aktivisten Felipe Quispe Huanca, Lateinamerika Nachrichten Ausgabe 411/412 - September/Oktober 2008, Text: Börries Nehe, http://www.lateinamerika-nachrichten.de/?/print/2826.html

[3] Ronald Thoden (Hg.), "Terror und Staat - Der 11. September: Hintergründe und Folgen, Geostrategie, Terror, Geheimdienste, Medien, Kriege, Folter", Kai-Homilius-Verlag, Berlin, 2004, S. 173.

24. November 2009


Jean Ziegler
Der Hass auf den Westen
Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren
Übertragen aus dem Französischen von Hainer Kober
2. Auflage 2009
C. Bertelsmann Verlag, München
288 S., 19,95 Euro (D), 20,60 Euro (A)
ISBN 978-3-570-01132-4