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REZENSION/524: BEIGEWUM/Attac (Hg.) - Mythen der Krise (SB)


BEIGEWUM/Attac (Hg.)


Mythen der Krise

Einsprüche gegen falsche Lehren aus dem großen Crash



Die Wirtschafts- und Finanzkrise trägt zur Delegitimation der politischen Systeme bei, weil der Kartellcharakter des Bündnisses von Staat und Kapital immer deutlicher hervortritt. Das Versäumnis, die Finanzmärkte, wie bei Ausbruch der Weltwirtschaftskrise versprochen, wirksam zu regulieren, belegt die Kollaboration der politischen Klasse mit den großen Investoren und Kapitaleignern. Angesichts dessen, daß die staatliche Alimentierung des Finanzkapitals mit massiven Risikoaufschlägen bei Staatsanleihen quittiert wurde, wirken die zaghaften Schritte zum Ergreifen erster Maßnahmen gegen diesen Angriff auf die Lebenssicherheit der Bevölkerungen wie ein notgedrungenes Manöver zur Wiederherstellung der angeschlagenen Glaubwürdigkeit von Regierungen, die diese Entwicklung maßgeblich zu verantworten haben.

Die Diskreditierung der demokratischen Gesellschaftsordnung wurzelt zudem in der ungenügenden Vermittlung ökonomischer Sachverhalte, die schwerwiegende Auswirkungen auf das tägliche Leben der Bevölkerungen haben. Die selbst unter Experten umstrittenen Theorien zur Genese und Bewältigung der Krise des Kapitalismus werden außerhalb der Funktionseliten nur von besonders interessierten Minderheiten diskutiert, ansonsten wird die öffentliche Debatte von breitem Unverständnis beherrscht. Diese Lücke machen sich die medialen Agenturen und politischen Sachwalter des Kapitals zunutze, um, wie am Beispiel Griechenlands exemplarisch vorgeführt, populistische Kampagnen zu entfachen, anhand derer sich hervorragend vom zentralen sozialen Konflikt ablenken läßt. Der nationalchauvinistische Tenor der gegen die "Pleite-Griechen" gerichteten Hetze schweißt die postdemokratische Volksgemeinschaft zusammen und macht sie für diejenigen Interessen verfügbar, gegen die sich die Wut über den sozialökonomischen Niedergang in erster Linie richten sollte. Das Teilen und Herrschen funktioniert so gut wie ehedem und zementiert die Stellung Deutschlands als europäische Führungsmacht, ohne daß das Gros der Bundesbürger auf den Gedanken käme, daß die stagnierende oder gar rückläufige Entwicklung ihrer Einkommen in direktem Zusammenhang zur Schuldenkrise der süd- und osteuropäischen EU-Peripherie steht.

Aufklärung über die "Mythen der Krise" ist daher dringend geboten, und sie wird unter anderem vom Beirat für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen (BEIGEWUM) und von Attac Österreich in einem schmalen Band mit diversen Aufsätzen geleistet. Im Rahmen dieser Organisationen haben sich Autorinnen und Autoren vor allem aus dem sozialwissenschaftlichen Bereich (Joachim Becker, Andreas Exner, Georg Feigl, Franziskus Forster, Klemens Himpele, Johannes Jäger, Karin Küblböck, Sebastian Leitner, Markus Marterbauer, Gabriele Michalitsch, Taha Nasr, Claus Puhr, Paul Ramskogler, Werner Raza, Vanessa Redak, Christa Schlager, Helene Schuberth, Martin Schürz, Elisabeth Springler, Engelbert Stockhammer, Beat Weber) in einer Arbeitsgruppe mit dem Ziel zusammengefunden, verbreitete Annahmen über die Ursachen der Krise, ihren Verlauf und mögliche Lösungen durch die kritische Überprüfung ihnen zugrundeliegender Verkürzungen und Irreführungen zu widerlegen.

Das gelingt auf durchaus unterschiedliche Weise, scheinen doch die Verfasserinnen und Verfasser der einzelnen Beiträge verschiedene Ansätze der Kritik zu verfolgen. So wird bei den Ausführungen zum Zinssystem und dessen Bedeutung für die Kapitalvermehrung über den Warencharakter der Arbeit und die kapitalistische Grundlegung der Marktwirtschaft aufgeklärt, um der Überwindung sozialer Widersprüche durch eine zinslose Geldwirtschaft unter Verweis auf das konstitutive Problem des Eigentums der Produktionssmittel eine Absage zu erteilen. Die Widerlegung der vermeintlichen Krisenursache eines zu niedrigen Zinssatzes der US-Zentralbank, der die Immobilienblase erst ermöglicht habe, betrifft die Untauglichkeit des Versuchs, die Zyklen der wirtschaftlichen Entwicklung monetaristisch auszusteuern, und mündet in ein Plädoyer zur Bekämpfung von Vermögenspreisblasen durch regulative und fiskalische Maßnahmen sowie eine gerechtere Einkommensverteilung und Eigentumsordnung. Die Unterstellung, die US-Bevölkerung hätte über ihre Verhältnisse gelebt, indem sie Häuser mit Krediten erstand, die sie nach Anstieg der Zinsraten nicht mehr bedienen konnte, wird durch den Mangel an verfügbarem Wohnraum als eigentlichem Anlaß zum kreditfinanzierten Eigenheimerwerb widerlegt. In den USA versteigen sich neokonservative TV-Moderatoren gar zu der Behauptung, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes seien auf die finanzielle Haltlosigkeit insbesondere des schwarzen Subproletariats zurückzuführen. Um so wichtiger ist der Verweis auf die unsoziale Wohnungspolitik, deren Kritik auch die marktwirtschaftliche Wohnungsbaufinanzierung in Europa einbezieht.

Der verbreiteten Behauptung, daß es sich bei der gegenwärtigen Krise vor allem um eine des Finanzmarkts handle, weshalb die Polarisierung der Einkommensverteilung keinen ursächlichen Anteil an ihrer Entstehung habe, wird durch eine Analyse der hinter den nationalen Produktivitätsentwicklungen zurückbleibenden Lohnniveaus entgegengetreten. Anstatt die Binnennachfrage durch angemessene Gehälter zu stärken und eine wirtschaftliche Entwicklung zu ermöglichen, die auf Güterproduktion und Dienstleistungen basiert, führte die Deregulierung des internationalen Handels zu einer Ausbeutung der unterschiedlichen Produktivitätsniveaus, die in erheblichen Leistungsbilanzdifferenzen und einem ihnen entsprechenden Kapitalexport resultierten. So wird ein Großteil des gesamtgesellschaftlichen Produkts auf dem Finanzmarkt und nicht durch materielle Arbeit generiert, was nur so lange gutgeht, wie die nichtvorhandene Deckung des eingesetzten Kapitals nicht auffliegt.

Ob weniger polarisierte Einkommensniveaus die Krise des Kapitalismus bewältigten, darf dennoch bezweifelt werden, wird menschliche Arbeit doch immer entbehrlicher. Da sich die mikroelektronische Produktionsweise, die in der postindustriellen Wirtschaft die klassische Gütererzeugung ersetzen soll, durch die ersatzlose Rationalisierung menschlicher Arbeitskraft auszeichnet, während die sogenannte Dienstleistungsgesellschaft von der Substanz in ihr verbrauchter Güter zehrt und nicht umsonst als Synonym für die Ausweitung des Niedriglohnsektors gelten kann, sind die verbliebenen Möglichkeiten kapitalistischer Mehrwertabschöpfung immer weniger in der Lage, die gesellschaftliche Reproduktion zu finanzieren. Die zutreffende Analyse, daß der neoliberale Marktfundamentalismus das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit zu Lasten der Lohnabhängigen verschärft hat, muß nicht bedeuten, daß eine der Produktivitätsentwicklung entsprechende Lohnpolitik überhaupt möglich ist, war der neoliberale Paradigmenwechsel doch bereits dazu gedacht, den tendenziellen Fall der Profitrate durch finanzkapitalistische Akkumulation aufzuhalten.

Während über diverse Mythen wie die alleinige Verantwortung der USA für die Finanz- und Wirtschaftskrise, die Unerläßlichkeit staatlicher Bankenrettung oder der sozial verantwortliche Charakter des Internationalen Währungsfonds sachkundig aufgeklärt wird, gehen die meisten Beiträge von einer Reformierbarkeit des kapitalistischen Weltsystems aus. Dem sich schrankenlos verwertenden Kapital sollen Zügel staatlicher Regulation und Investition angelegt werden, ohne das Kapitalverhältnis grundsätzlich in Frage zu stellen. Ein sozialistisches Gesellschaftsmodell, wie es in Anbetracht der stürmischen Entwicklung der Produktivkräfte im frühindustriellen Zeitalter konzipiert wurde, müßte allerdings nicht nur Kapitalinteressen, sondern auch die ihm inhärente Wachstumslogik überwinden. Für die kurz- und mittelfristige Perspektive erscheinen keynesianische Entwürfe plausibel, doch bleibt das Wachstumsprimat in einer Welt endlicher Ressourcen und kontraproduktiver ökologischer Kosten eine offene Frage. Ihr wenden sich die Autorinnen und Autoren des letzten Beitrags zu, der die Behauptung kritisch reflektiert, es gebe keinen grundsätzlichen Widerspruch zwischen Wachstum und Umweltschutz.

Sie siedeln das Problem des Wachstums im grundlegenden Paradigma kapitalistischen Verwertungszwangs an, der ungeachtet des konkreten Nutzens dabei erzeugter Güter und Dienstleistungen zum Selbstzweck gerät. Als Ergebnis gesellschaftlicher Produktivität seien ökologische Fehlentwicklungen denn auch nicht von politischen, sozialen und ökonomischen Faktoren zu trennen. Dementsprechend sei das Problem des Klimawandels keineswegs abschließend bestimmt, sondern durch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse determiniert, was entscheidenden Einfluß auf die daraus gezogenen Konsequenzen habe. Nicht das Klima sei in die Krise geraten,

"sondern die dem Klimawandel zugrunde liegenden gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Genauer bezeichnet: Die 'Vergesellschaftung von Natur im Kapitalismus' ist in der Krise. Emanzipatorische Kritik muss aus diesen Gründen danach fragen, wer warum wie viel und wofür produziert und von wem dies entschieden wird. Erst aus einer Kritik an den Herrschaftsverhältnissen kann eine alternative und bewusste, demokratische Gestaltung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse in den Blick kommen."
(S. 121)

Die Einbeziehung der ökologischen Probleme in die Analyse der Krisenursachen und -folgen stellt klar, daß es mit einer sozial gerechteren Verteilungsordnung und mit antizyklischen Konjunkturimpulsen nicht getan ist. Zwar bleibt die Frage, wie dies durchzusetzen wäre, auch im herrschaftskritischen Ansatz dieses Beitrags insofern offen, als die von den Autorinnen und Autoren verlangte Demokratisierung bereits einen Mangel an politischer Emanzipation feststellt, durch den es erst zu den manifest gewordenen sozialen Verwerfungen gekommen ist. Dennoch ist es gerade vor dem Hintergrund eines Krisenmanagements, das auf die Fortschreibung eines nicht nur ökologisch, sondern auch sozialökonomisch delegitimierten Akkumulationsregimes setzt, erforderlich, den unter dem Titel des "Green New Deal" propagierten Paradigmenwechsel zu einem angeblich nachhaltigen Kapitalismus auf seine immanenten Widersprüche hin zu untersuchen.

So warnen die Autorinnen und Autoren davor, "den aus dem Klimawandel ableitbaren Zeitdruck dafür zu instrumentalisieren, autoritären, technokratischen und undemokratischen 'Lösungen' Vorschub zu leisten" (S. 123). Sie verweisen auf den "strukturkonservativen" Charakter dominanter Lösungsstrategien, bei denen es eher um die Verwaltung des Problems und nicht seine Bewältigung gehe. Der Verdacht, daß sich im heterogenen Feld der Green New Deal-Konzepte "Strategien der Erschließung neuer 'grüner' kapitalistischer Akkumulationsfelder unter dem Wachstumsimperativ" durchsetzen könnten, ist so begründet wie die Prognose, daß systemkritische Bewegungen nach Bildung einer Partei durch das parlamentarische System auf eine Weise assimiliert werden, die wirkungsvoll gegen die Durchsetzung radikaler Politikentwürfe immunisiert. So lange der "Widerspruch zwischen einem kapitalistischen Wachstumsimperativ und ökologischen Grenzen" (S. 124) durch die vorherrschenden Konzepte des Green New Deal überdeckt wird, so lange der Emissionshandel zu einer bloßen Verlagerung der Verschmutzung von reichen in arme Länder führt und mit dem Siegel ökologischer Unbedenklichkeit neue Formen der Ausbeutung legitimiert werden, so lange erweist sich diese grüne Variante der Krisenbewältigung als bloße Modifikation eines Gesellschaftssystems, das alle menschlichen Belange dem Primat der Kapitalverwertung nachordnet.

Als Beispiel für eine nicht nur ökologisch, sondern auch sozialökonomisch sinnvolle Transformationsstrategie wird das Konzept der Ernährungssouveränität erwähnt. Indem es das "Modell der exportorientierten, industrialisierten Landwirtschaft unter dem Dogma der Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt in Frage" (S. 125) stellt, weist es nicht nur einen Weg aus der so ignorierten wie zentralen Katastrophe massenhaften Hungers, sondern stellt auch klar, daß deren Bewältigung tiefe Eingriffe in herrschende Verwertungsformen erfordert. Dieser Ausklang des Buches mahnt ein Engagement in sozialen Bewegungen an, das sich nicht durch die für viele NGOs signifikante Professionalisierung der Aktivistinnen und Aktivisten korrumpieren läßt, sondern durch die Konsequenz der Analyse und die Schärfe der Kritik antizipiert, was ansonsten in Form vermeintlich unüberwindlicher Sachzwänge neue Diktate altbekannter Herrschaftsinteressen legitimiert.

"Mythen der Krise" wird dem Anspruch, Aufklärung im schwierigen Feld der politische Ökonomie zu leisten, um sich nicht von einer wirtschaftswissenschaftlichen Expertokratie bevormunden zu lassen, deren Relevanz sich nach jahrelangem Nachbeten neoliberaler Glaubenssätze erledigt haben müßte, so daß ihre unbeschadet gebliebene Hegemonie über den Krisendiskurs alle Alarmglocken läuten lassen müßte, durchaus gerecht. Bündige und abschließende Lösungen für ein Problem zu erwarten, das in der Synchronizität mehrerer sich weltweit entfaltender Krisen hohe Anforderungen an die Fähigkeit stellt, weiterführende Fragen zu stellen, wäre nicht nur bei diesem Versuch, die soziale und ökonomische Entwicklung auf den Begriff zu bringen, unangemessen. Konfrontiert mit dem gemeinhin als "komplex" versiegelten Getriebe kapitalistischer Vergesellschaftung findet sich der einzelne Mensch in einem Erkenntnisprozeß wieder, der ihm keine schnellen Antworten gönnt. Mehr denn je verlangen ihm die immer unvermittelter auf das tägliche Leben einwirkenden Widersprüche ab, sich in aktiver Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Konflikten von der Suggestion zu befreien, alles sei im Grunde genommen in Ordnung, weil berufene Experten an den richtigen Stellen dafür sorgten, daß es so bleibt.

18. Mai 2010


BEIGEWUM / Attac
Mythen der Krise
Einsprüche gegen falsche Lehren aus dem großen Crash
VSA: Verlag, Hamburg 2010
128 Seiten, 10,80 Euro
ISBN 978-3-89965-373-1