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REZENSION/582: Hans-Jürgen-Krahl-Institut e.V. - Praktischer Sozialismus (SB)


Hans-Jürgen-Krahl-Institut e.V.


Praktischer Sozialismus

Antwort auf die Krise der Gewerkschaften



Wer die Frage nach den Herrschaftsverhältnissen und deren Überwindung konsequent stellt, kann nicht umhin, sich mit der Totalität von Ausbeutung und Unterdrückung wie auch deren übermächtigen Zwangsmitteln zu konfrontieren. Das Gewaltmonopol tritt national wie international in vielerlei Gestalt auf den Plan und zeigt spätestens dann seine Krallen, wo gesellschaftliche Gegenentwürfe das integrative Fahrwasser reformistischer Teilhabe verlassen. Der "praktische Sozialismus", den sich das Hans-Jürgen-Krahl-Institut auf die Fahne geschrieben hat und in Gestalt einer "Antwort auf die Krise der Gewerkschaften" einzulösen versucht, blendet diese fundamentale Widerspruchslage insofern aus, als er sich in der vorliegenden Broschüre auf einen ökonomischen Ansatz beschränkt und daraus die Möglichkeit eines systemverändernden Prozesses mittels einer selbstorganisierten Gemeinwirtschaft abzuleiten versucht. Nichts ist dagegen einzuwenden, diese Diskussion zu führen, und sie an theoretische wie praktische historische Ansätze rückzubinden, kann nur förderlich sein, die verlorengegangene Erinnerung an weitentwickelte Kontroversen wiederzugewinnen. Eine paßförmige Lösung zu präsentieren, ohne deren Brüche hinreichend auszuloten, muß sich indessen die kritische Frage gefallen lassen, ob dabei nicht ein hochgesteckter Anspruch am Ende einer systemkompatiblen Antwort geopfert wird.

Wie das Hans-Jürgen-Krahl-Institut in seiner Selbstdarstellung [1] schreibt, steht man als Assoziation in der theoretischen und praktischen Tradition des internationalen Aufbruchs von 1968. In Deutschland seien "das menschliche Antlitz des damals erstmalig geschichtsmächtig auftretenden antiautoritären Sozialismus seine führenden Persönlichkeiten Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl" gewesen. Die Institutsgründung sei die Konsequenz des eigenen Politisierungsprozesses in der Nachwendezeit, "der geprägt war von der Erfahrung eines durch das weltweite Scheitern der sich kommunistisch nennenden Versuche noch verstärkten Grundgefühls der Alternativlosigkeit und Ausweglosigkeit des Kapitalismus". Aus dieser Marginalisierung emanzipatorischer Strömungen erwachse die Notwendigkeit, die Frage nach der Organisation als Vorbedingung jeder transformatorischen Theorie und Praxis wieder in den Mittelpunkt zu stellen.

Am Ende der Schrift heißt es: "Die scheinbare Alternativlosigkeit des dekadenten Kapitalismus ist seine schärfste ideologische Waffe, weil sie Anklang findet in der alltäglich erfahrenen Ohnmacht der von der Gesellschaft entfremdeten Einzelnen und deren Resignation". Aus dieser Lagebeschreibung leiten die Autoren als "eigentliche Aufgabe" ab, "eine neue, eine andere Kulturidee" zu entwickeln und diese dem "System der Bedürfnisse", auf dem das Kapitalverhältnis beruhe, entgegenzustellen. Zugleich wird der Versuch unternommen, "der Überwindung des Kapitalverhältnisses eine Verlaufsform zu geben".

Angesichts eines unaufhaltsamen Niedergangs der Gewerkschaften wendet sich die Schrift an Linke inner- und außerhalb von Parteien, "für die gewerkschaftliche Arbeit und Politik im Zentrum nicht ideologischer Auseinandersetzungen", sondern von "Lösungsversuche(n) realer politischer Probleme" steht. Es geht indessen um weit mehr, als einer klassischen Gewerkschaftsarbeit wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Vielmehr soll auf diesem Feld ein "allgemeiner Strategievorschlag zur gesellschaftlichen Transformation" zur Diskussion gestellt werden. Was könnten Gewerkschaften dazu beitragen, die vorherrschende Produktions- und Lebensweise grundlegend zu verändern, lautet auf eine griffige Formel gebracht das ambitionierte Thema der kleinen Broschüre.

Die bereits 2008 erstmals erschienene Schrift wurde in ihrer zweiten erweiterten Auflage im September 2011 interessanterweise um ein Vorwort zur venezolanischen Ausgabe ergänzt. Darin nehmen die Autoren Bezug auf den bolivarischen Prozeß in Venezuela, um revolutionäre und konterrevolutionäre Verläufe zu beleuchten. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts wird abgegrenzt gegenüber dem "Realsozialismus" und dem Sozialdemokratismus, die noch vor ihrem historischen Untergang gemessen an ihrem eigenen Maßstab, dem Marxschen kategorischen Imperativ, gescheitert seien, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist". Demgegenüber wird Rudi Dutschkes Plädoyer für eine Doppelstrategie, sowohl innerhalb der Institutionen als auch außerparlamentarisch zu agieren, neben das bolivarische Konzept des Aufbaus der Volksmacht innerhalb des bürgerlichen Staates und dessen Infiltration und Umwandlung gestellt. Die "realen Konvergenzen des bolivarischen Prozesses zu den Elementen der Verlaufsform eines praktischen Sozialismus" seien "offensichtlich", schlußfolgern die Autoren des Hans-Jürgen-Krahl-Instituts. Daher könnte der praktische Sozialismus in Venezuela auch der Solidaritätsarbeit in Deutschland eine neue Bedeutung und Stärke verleihen. In diesem Modell kämen Gemeinsamkeiten zum Tragen, wie sie auch für die Aufgabenstellung der Linken in Deutschland Gültigkeit hätten.

Privateigentümliche Produktion, geldvermittelter Warentausch und Lohnarbeit werden in der kleinen Schrift als die wesentlichen Strukturen des Kapitalismus benannt. Sie nehmen die Form fester Strukturen an, gelten als unveränderlich und prägen den öffentlichen Diskurs. Indessen seien diese Strukturen nichts anderes als Folge dessen, was die einzelnen fortlaufend akzeptieren und tun, mithin also veränderbar. Um eine verändernde Praxis herbeizuführen, bedürfe es wiederum einer Theorie, die die Autoren denn auch im ausführlichen ersten Teil der Broschüre in ihren Kernelementen darlegen. Gewerkschaften seien "Angebotskartelle von Arbeitskraftbesitzern", weshalb sie kein Interesse an einer Überwindung der Lohnarbeit hätten und jeden Versuch, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu verändern, als organisationsfeindlich bekämpften.

Der gewerkschaftliche Widerspruch gegenüber dem Kapital überschreite nicht den allgemeinen Interessenkonflikt von Vertragsparteien, heißt es weiter. Wolle der Kapitalist die Ware Arbeitskraft möglichst billig kaufen, so strebe die Gewerkschaft an, diese Ware so teuer wie möglich zu verkaufen. Damit fungiere die Gewerkschaft "objektiv als Regulator des Kapitalverhältnisses", indem sie das Lohnverhältnis stabilisiere, "das ansonsten an seinen immanenten Widersprüchen zugrunde ginge". Andernfalls würde das Kapital die Löhne unter das Niveau drücken, das für den Erhalt der Arbeitskraft und damit die einzige Quelle der Wertschöpfung notwendig wäre.

Die Vertragsform der bürgerlichen Beziehungen erfordere eine übergeordnete Gewalt in Gestalt des Staates. Dieser verkörpere das allen gemeinsame Interesse an der Aufrechterhaltung der Vertragsbeziehungen, wenngleich diese im besonderen gegensätzlich seien. Der Staat sei erstens Teil des kapitalistischen Produktionsverhältnisses, wobei er zweitens als Steuerstaat die Mittel seiner Existenz aus der Akkumulation des Kapitals abziehe. Da der Staat aus den beiden genannten Gründen ein prinzipielles Interesse an der Aufrechterhaltung des Kapitalverhältnisses habe, sei es unmöglich, die Produktionsweise mit Hilfe des Staates zu verändern. Von einem institutionalisierten "Klassenkompromiß" etwa in Gestalt einer Arbeitslosenversicherung könne nur im Rahmen bestimmter ökonomischer Grundlagen die Rede sein, deren Veränderung auch für die Sozialleistungen verheerende Folgen habe.

Der Staat trete zudem als Interventionsstaat auf den Plan, um die Kapitalakkumulation zu sichern. Das widersprüchliche Verhältnis einer privaten Produktion für einen gesellschaftlichen Bedarf erfordere die Vermittlung durch Geld, das Bedürfnisse schaffe, die an keinen endlichen Gegenstand gebunden seien. Die Konsequenz sei Maßlosigkeit der Produktion, die wiederum eine politische Regulierung notwendig mache. Die Strategie einzelner Unternehmen, ihren Mehrwert zu steigern, reduziere die gesamtgesellschaftliche Mehrwertproduktion, womit sich die Autoren dem Theorem vom tendenziellen Fall der Profitrate anschließen. Dieser habe Überakkumulationskrisen zur Folge, da Kapital im Verhältnis zu den Möglichkeiten, es profitabel anzulegen, im Überschuß angehäuft werde.

Der Staat führe solches Kapital unproduktiven Zwecken zu, indem er es als Kredit aufnehme. Wohl bildeten Staatskredite einen Profit des Finanzkapitals, doch müßten dafür die Besteuerten aufkommen. Der Staat löse daher die Überakkumulationskrise nicht, sondern verschiebe sie nur. Auch wenn sie den Massenkonsum stütze, stoße diese Strategie des Binnenmarkts zwangsläufig an ihre Grenzen. Damit konterkarieren die Autoren die verbreitete Auffassung in Gewerkschaftskreisen, daß der Staat die Voraussetzungen des von Kapitalseite aufgekündigten Klassenkompromisses durch Investitionsprogramme oder über höhere Sozialleistungen beförderten Massenkonsum wiederherstellen könne.

Die Krise der Gewerkschaften resultiert demnach einerseits aus der Differenzierung der Arbeitsverhältnisse und andererseits aus der Internationalisierung der Produktion. Gering qualifizierte und prekarisierte Beschäftigte entzögen sich der bislang üblichen Organisierung, während hoch qualifizierte Lohnabhängige aufgrund von Gewinnbeteiligungen immer weniger ansprechbar seien. Nach dieser ausführlichen Vorrede kommen die Autoren nun auf die Frage zu sprechen, auf welche Weise sich die Gewerkschaften neu orientieren könnten. Dabei gehen sie von dem Ansatz aus, daß sich die grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse innerhalb der von diesen Strukturen gesteckten Rahmenbedingungen entwickeln und zugleich als Gegenmacht selbst konstituieren müsse. Es gehe also darum, "in den Widersprüchen der kapitalistischen Entwicklungslogik Ansätze für die praktische Verwirklichung dieser Negation zu benennen".

Den entscheidenden Ansatzpunkt verorten die Autoren in dem Umstand, daß die Menschen unter der Herrschaft des Kapitals bereits füreinander produzieren. Daher könnten bestehende Kollektive in der bewußten Übernahme der gesellschaftlichen Verantwortung, die objektiv ohnehin auf ihren Schultern lastet, ihre Verbindungen zu anderen Kollektiven nach dieser Maßgabe neu gestalten und die Produktion verändern. Im Streik der Arbeiter wendeten diese die Verdinglichung, die alle Proletarisierten real verbinde, tendenziell gegen das Kapital, weshalb die Aufhebung der Verdinglichung im Produktionsprozeß keineswegs utopisch sei. Begreife Gewerkschaftspraxis gesellschaftliche Emanzipation nicht länger als Reform staatlichen Handelns, sondern als eine "Kulturrevolution", sei die Überwindung der Konkurrenz unter den Proletarisierten vorstellbar.

Die Autoren greifen in diesem Zusammenhang das Prinzip gewerkschaftlicher Gemeinwirtschaft auf, das in Gestalt der Konsumgenossenschaft nicht nur Streikfonds sichere, sondern auf Produktionszweige und Banken ausgedehnt werden könne. Finanziert durch Mitgliedsbeiträge und Steuerabgaben unterlägen diese nicht mehr dem Zwang der Rentabilität und könnten überdies vom Kapital verworfene Produktionsanlagen und menschliche Potenzen integrieren und nutzen. Profitabilität und abstrakte Effizienz würden von Brauchbarkeit und konkreter Effektivität abgelöst. Ohne die Drohung des Arbeitsplatzverlusts ließen sich Unternehmen mit dem Ziel bestreiken, sie in Gemeinwirtschaft zu überführen, während diese wiederum Erwerbslose integrieren und somit die industrielle Reservearmee auflösen könne.

Da auch eine Gemeinwirtschaft als Produktionsverhältnis vorerst in Abhängigkeit vom Kapital stünde, plädiert das Krahl-Institut für ihren sukzessiven Ausbau in Verbindung mit einer entsprechenden Neuausrichtung der Arbeitskämpfe in den kapitalistischen Betrieben. Dabei müsse man die "Abschaffung des Lohnsystems" als eine gewerkschaftliche Basisforderung etablieren und könne die gemeinwirtschaftliche Organisationsweise entlang der existierenden Produktions- und Verwertungsketten ausdehnen und so "über die nationalen und kontinentalen Grenzen hinweg einen praktischen proletarischen Internationalismus begründen".

Mit jedem Schritt der Konkretisierung dieses Entwurfs wächst indessen der Anteil unhinterfragter Voraussetzungen, bis sich immanente Widersprüche regelrecht türmen. So wird die Kernfrage nicht schlüssig erörtert, warum die proklamierte Gemeinwirtschaft nicht den strukturellen Zwängen kapitalistischer Verwertung unterworfen bliebe und selbst eine tendentielle Herauslösung nicht schnurstracks in dieselbe zurückführte. Mit den Gewerkschaften, wie wir sie kennen, wäre die angestrebte Neuausrichtung nicht zu schaffen, weist deren Tendenz doch in die entgegengesetzte Richtung. Wenn die Autoren schreiben, daß "die vielleicht wichtigste Voraussetzung der Strategie" ein "massenhaftes strategisches Bewusstsein" sei, beißt sich die Katze in den Schwanz, war doch die beklagte Abwesenheit eines solchen Bewußtseins Ausgangspunkt der Erörterung.

Wie die Verfasser der Schrift einräumen, könnten die Schritte des postulierten Prozesses nicht theoretisch vorformuliert, sie müßten vielmehr in der Praxis entwickelt werden. In diesem Sinne wäre es ratsam gewesen, dem Entwurf vermeintlicher Lösungswege Zügel anzulegen, um der Gefahr zu begegnen, sich bei der angestrebten "Neuformierung der Arbeiterbewegung" zu vergaloppieren. Davon abgesehen, kann man der Auffassung der Autoren nur beipflichten, daß ein Verzicht auf diese Auseinandersetzung gleichbedeutend damit wäre, dem kapitalistischen Verwertungsregime das Feld mit allen Folgekonsequenzen zu überlassen. "Könnte der hier gemachte Initiativvorschlag (...) zu einer Kontroverse führen, die über die Versuche zur Neuauflage des Linkskeynesianismus hinausgeht und dennoch an einer realpolitischen Perspektive festhält, wäre allerdings schon viel gewonnen", heißt es am Ende der Ausführungen. Den Beitrag der Autoren des Hans-Jürgen-Krahl-Instituts in diesem Sinne zu würdigen, wäre mit einer lebhaften Debatte um die von ihnen formulierten Thesen sicher am besten gedient.

Fußnote:

[1]‍ ‍http://www.hjki.de/

25.‍ ‍April 2012


Hans-Jürgen-Krahl-Institut e.V.
Praktischer Sozialismus
Antwort auf die Krise der Gewerkschaften
Pahl-Rugenstein Verlag, Bonn 2008
44‍ ‍Seiten, 4,90 Euro
ISBN 978-3-89144-398-9